Außenmühle
Heute macht Mutter ausnahmsweise das Mittagessen. Es gibt eine Speise, die sie selbst erfunden und «Scharfes» genannt hat. Sie besteht aus Hackfleisch, Paprika, Zwiebeln, Tomaten und jeder Menge exotischer Gewürze. Für die Großeltern ist das viel zu scharf, immer wenn Mutter Scharfes macht, essen die beiden Matjes. Ich bin eigentlich überhaupt nicht krüsch, aber mit Matjes kann man mich jagen, während sich die Großeltern schon Tage im Voraus auf den Matjes freuen, besonders Oma. Es ist das einzigste Mal überhaupt, dass die Familie unterschiedliche Sachen isst. Zum Nachtisch gibt es Pudding, diesmal wieder für alle. Es klingelt. Norbert und Axel.
«Darf Mathias kommen?»
Weil es noch mal richtig heiß geworden ist, gehen wir zum Schwimmen ins Freibad Außenmühle. Die Tasche mit den Badesachen steht fix und fertig gepackt im Flur. Der Weg zum Freibad führt uns am neuen Einkaufszentrum und den Schrebergärten vorbei. Ich freu mich so, dass ich anfange zu hüpfen. Norbert guckt mich böse an. Er hüpft selber nicht mehr, weil er jetzt ja zur Schule geht und ihm das zu albern ist. Weil Axel trödelt, schmeißt Norbert mit Steinen nach ihm. Erst nimmt er kleinere Kiesel, dann immer größere Brocken. Axel kann erst noch ausweichen, dann erwischt ihn Norbert aber voll am Bein. Axel fängt an zu weinen und lässt sich noch weiter zurückfallen. Plötzlich stratzt Norbert weg, so schnell er kann, weil er Axel abhängen will. Ich weiß nicht, was ich machen soll, eigentlich sollte ich ja Axel Gesellschaft leisten, aber dann renne ich Norbert hinterher. Als ich mich umdrehe, ist von Axel keine Spur. Jetzt kommt auch Norbert mit einem schlechten Gewissen zurückgetrottet. «Wo ist Aggu denn?», tut er unschuldig. Eigentlich müssten wir umkehren und ihn suchen, aber Norbert geht einfach weiter. Mir wird mulmig zumute. Axel ist bestimmt zu seiner Mutter zurück und sagt der alles, und wenn wir zurückkommen, gibt es Ärger.
Die Schlange vor der Kasse ist sehr lang, und als wir anstehen, tut Norbert die ganze Zeit so, als wäre nichts. Eigentlich hat er ja Schuld, aber weil ich mitgelaufen bin, hab ich genauso Schuld. Am liebsten würde ich gleich wieder nach Hause gehen, dann hab ich’s hinter mir, aber ich trau mich nicht wegen Norbert. Die Kassenfrau stempelt endlich meine Zehnerkarte ab, dann geht’s erst mal in die Umkleiden. Hier müffelt es so, dass ich es nur ganz kurz aushalte, sonst wird mir schlecht. Norbert ist am ganzen Körper kalkweiß. Ich bin in diesem Sommer richtig braun geworden, und mein Gesicht ist gesprenkelt von Sommersprossen. Oma sagt, dass das niedlich ist, das finde ich aber nicht. Ich wünschte, ich hätte keine Sommersprossen, und mein Grübchen gefällt mir auch nicht. Entweder man hat zwei Grübchen oder gar keins, finde ich. Aber eigentlich ist es auch egal. Norbert hat schon Fahrtenschwimmer, ich nur Freischwimmer, weil ich mich nicht vom Dreier traue. Ich hab’s schon ein paarmal versucht, bin dann aber in letzter Sekunde wieder umgekehrt. Einmal hat ein Junge versucht, mich runterzustoßen. Ich konnte gerade noch das Gleichgewicht halten, aber der Bademeister hat es gesehen, und der Junge musste sofort die Badeanstalt verlassen, für immer. Bademeister müsste man sein. Den ganzen Tag in der Sonne liegen und die frechen Kinder zusammenpfeifen und ihnen alles Mögliche verbieten. Noch besser finde ich Förster. Immer in der frischen Luft mit einem Hund und einem Gewehr durch den Wald stromern.
Wir stellen uns am Kiosk an und holen uns Eis, ich Berry und Norbert Mr. Freeze. An einem Stehtisch verzehrt ein Mann eine Bockwurst mit Senf. Da hätte ich jetzt eigentlich viel mehr Hunger drauf. Eigentlich habe ich immer Hunger. Oma sagt oft, dass ich keinen Hunger habe, sondern Appetit, und nur wenn man hungrig ist, sollte man was essen. Aber den Unterschied konnte sie mir auch nicht richtig erklären. Ich hab jedenfalls Hunger auf Bockwurst oder noch besser auf Hähnchen, das esse ich am liebsten. Wenn es bei uns Hähnchen gibt, macht Oma das immer für zwei Tage und tut eine Hälfte über Nacht in den Kühlschrank. Manchmal habe ich solchen Hunger, dass ich heimlich was vom Hähnchen esse, aber so, dass es nicht auffällt, ich tu dann Haut über die Stellen und hoffe, dass es niemand merkt. Oma isst am liebsten die Flügel, obwohl da am wenigsten Fleisch dran ist, aber sie sagt, dass sie so gerne knabbert. Mutter isst Keule, und Opa und ich essen Rücken und den Rest. Oma isst wie Mutter immer nur sehr wenig. Sie ist ja auch genauso dünn. Oma behauptet steif und fest, dass sie vom Abschmecken schon pappsatt ist.
Mr.-Freeze-Eis sieht besser aus, aber Berry schmeckt besser, finde ich, und es ist auch noch billiger, 25 Pfennig statt 30. Wir legen uns auf die große Wiese, und dann gehen wir zum Schwimmerbecken. Norbert springt gleich mit Köpper von einem der Startblöcke. Mir ist das viel zu riskant, außerdem sollte man sich erst langsam an das kalte Wasser gewöhnen. Norbert krault, ich hab das auch mal probiert, aber ich war ganz langsam damit und bin dann gleich wieder auf Brust umgestiegen. Auf der Bahn neben Norbert schwimmt ein älterer Junge. Ich merke genau, wie Norbert den überholen will, aber der Junge ist viel zu schnell für ihn. Als er aus dem Wasser steigt, sehe ich, dass er das Abzeichen für Jugendschwimmer hat, mit den drei Wellen. Ist ja klar, dass Norbert keine Chance gegen den hat. Er lässt seine Wut an mir aus, indem er mich so lange unterduckert, bis ich keine Luft mehr bekomme und Chorwasser schlucke. Ich bekomme es mit der Angst zu tun und schlucke noch mehr Wasser. Beim nächsten Mal Hochkommen schreie ich, so laut ich kann: «HILFE, HILFE!» Sofort schwimmt Norbert weg, als wäre nichts gewesen, und als der Bademeister angerannt kommt, ist er schon über alle Berge. Der Bademeister fragt, was gewesen ist, und ich sage: «Nichts.» Er glaubt mir nicht und guckt mich böse an und sagt, ich soll das mal in Zukunft lassen, sonst könnte ich nächstes Mal zum Baggersee in Maschen gehen. Meine Augen sind schon ganz entzündet vom Chlorwasser. Mutter sagt, das Wasser in der Außenmühle ist so stark gechlort wie in keinem anderen Schwimmbad. Mir vergeht langsam, aber sicher die Lust, deshalb gehe ich zurück zu unseren Handtüchern. Norbert kommt und kommt nicht. Ich werde langsam unruhig und muss wieder an Axel denken. Wenn wir nach Hause kommen, gibt es auf jeden Fall Ärger. Hoffentlich erzählt Axel die Wahrheit, dass nämlich Norbert Schuld hat. Plötzlich kommt Norbert wieder. Er ist schon umgezogen und packt, ohne ein Wort zu sagen, seine Sachen und läuft davon. Jetzt muss ich allein in die Umkleiden! Zum Glück sind außer mir nur drei ältere Jungen da, der eine von ihnen ist der Jugendschwimmer. Die Abzeichen der anderen kann ich nicht sehen. Jetzt aber los!
Mit jedem Schritt wird mir schwerer ums Herz. Frau Erdmann war bestimmt schon bei uns, und ich bin gleich dran. Als Oma die Tür öffnet, rufe ich aus Angst keine Tortensorte. Oma ist enttäuscht: «Stimmt irgendwas nicht, Mathias?» Ein Stein fällt mir vom Herzen, denn jetzt weiß ich, dass Axel nicht gepetzt hat. Es gibt Windbeutel, gefüllt mit Schlagobers und selbstgemachter Kirschmarmelade. Opa sitzt in der Küche und schaut aus dem Fenster. Er hat einen dicken Kirschfleck auf seinem Jackett und Krümel am Mund.
«Aber Walter, was machst du denn da?», fragt Oma und wischt Opa den Mund ab. Dann sieht sie auch den Marmeladenfleck und geht mit dem Lappen drüber. Wenn das unsere Nachbarn sehen würden! In der Siedlung haben alle nämlich sehr viel Respekt vor Opa. «Guten Tag, Herr Halfpape», sagen sie voller Achtung, und mein Opa lupft seinen Hut und verbeugt sich leicht. Wenn Opa aus dem Haus geht, dann nie ohne Hut.
Mutter hat am Nachmittag ihre Freundin Tante Maria in Reinbek besucht. Von der langen Fahrt ist sie ganz erschossen, sagt sie. Deshalb trinkt sie zur Feier des Tages ein Glas Rosenthaler Kadarkawein. Nach der Tagesschau gibt es heiteres Beruferaten, das darf ich ausnahmsweise gucken. Es ist ganz unwahrscheinlich, wie Guido immer die Prominenten errät. Guido kommt aus der Schweiz und ist der Jüngste im Rateteam. Der Älteste heißt Hans. Er trägt eine Fliege und ist in Wahrheit Staatsanwalt. Das macht auf Mutter immer mächtig Eindruck, dass jemand, der so einen ernsten Beruf hat, einfach so bei einem heiteren Fernsehquiz mitmacht. Heute ist Hans-Joachim Kulenkampff der Prominente, der ist einfach zu raten, und nach vier Fragen hat Guido es herausgefunden. Kuli bekommt insgesamt vier Flaschen Wein. Danach geht’s ins Bett, und Mutter liest aus einem Wissensbuch für Kinder vor. In diesem Kapitel geht es um das Weltall:
«Manchmal geht es einem als Menschen ja so, dass man ganz zerknirscht ist. Doch in solchen Situationen gibt es einen Trick, um sich aus diesem schwarzen Loch selbst wieder herauszuziehen. Du musst an das Weltall denken, und deine eigenen Probleme werden auf einmal ganz klein. Beispiel: einmal um den ganzen Erdball. Ist schon fast unvorstellbar. Nächste Stufe. Wir kommen ans Eingemachte. Der Mond. Auf dem Mond ist die Luft so dünn, dass der Mensch dort nur mit Sauerstoffgerät bequem leben kann. Ein Meter Erdschritt ist auf dem Mond sieben Meter. Außerdem wird der Mensch auf dem Mond siebenmal so alt. Weiter. Nächste Station. Die Sonne. Die Sonne ist schon unvorstellbar heiß und alt. Ein Mensch oder Tier kann es da nicht mehr aushalten. Ein Mensch würde bei konstant Tempo neunzig viele Jahre brauchen, um dorthin zu gelangen, vielleicht auch nie. Weiter. Nächstes Planetensystem. Wieder Sonne, Mond, Erde. Und so weiter und so fort. Die Milchstraße: Die gesamte Milchstraße wiegt über 30 Millionen Tonnen. Nächste Stufe. Das All: Das gesamte All beinhaltet eine so große Anzahl von Milchstraßen, dass man die Zahl nicht mehr aufschreiben kann, weil sie zu viele Nullen hätte. Und das Dollste kommt erst noch: Das All dehnt sich noch weiter aus, und zwar mit der höchsten Geschwindigkeit, die es gibt, nämlich der Lichtgeschwindigkeit. So wächst das Weltall jedes Jahr noch mal um mehrere Hunderte Meter. An all diese Sachen sollte der Mensch denken, wenn er einmal ein bisschen knurrig ist. Dann wird er auf einmal ganz still und denkt nicht nur darüber nach, was es morgen wieder zum Essen gibt.»