1974
Waffen Uhrig
Obwohl es erst halb zwölf ist, fallen mir schon wieder dauernd die Augen zu. Heute muss ich unbedingt wach bleiben, sonst können wir’s wohl endgültig vergessen. Es ist bereits die dritte Nacht in Folge, dass ich vor Mitternacht wegdämmere.
Um halb zwei bin ich wieder mit Martin vor seinem Haus verabredet. Gestern hat er behauptet, er hätte in der Nacht davor auf mich gewartet, aber hinterher kann er viel erzählen, wahrscheinlich ist er genauso weggeknackt wie ich. Ich weiß gar nicht mehr, wer als Erster auf die Idee gekommen ist. Seit Monaten brüten wir vor uns hin und haben alles schon tausendmal durchgespielt: Wir schlagen mit dem Hammer die Scheibe ein, greifen uns so viele Pistolen, wie wir tragen können, und flüchten Richtung Stadtpark. Einziges Risiko: Das Polizeirevier Nöldekestraße ist nur ein paar hundert Meter entfernt. Aber bis dort der Alarm angeht und die Polypen in ihre Eierscheesen gestiegen sind, sind wir längst über alle Berge. Martin meinte, das Schaufenster ist eventuell aus Sicherheitsglas, ich bin aber tausendprozentig sicher, dass das nicht stimmt, so oft habe ich davorgestanden und alles bis ins kleinste Detail inspiziert. Sicherheitsglas müsste viel dicker sein, wie Brillengläser, durch die alles größer erscheint. Die Pistolen in der Auslage sehen aber ganz normal aus. Ich schätze die Wahrscheinlichkeit von Panzerglas jedenfalls auf höchstens 20:80, wenn überhaupt. Außerdem haben wir uns die ideale Zeit für einen Überfall ausgesucht, es ist nämlich Ferienbeginn, da sind die meisten Vögelchen ausgeflogen. Übermorgen geht’s für drei Wochen nach Todtglüsingen. Bis ich wieder hier bin, ist längst Gras über die Sache gewachsen. Ich stehe auf und mache ein paar Kniebeugen, damit der Kreislauf in Gang kommt. In spätestens drei Stunden bin ich Besitzer mehrerer Handfeuerwaffen! Allein bei der Vorstellung, wie ich auf der Fahrt nach Todtglüsingen eine Pistole unter der Jacke mit mir führe, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Riesel. Wie Manfred wohl reagiert? So was traut der mir im Leben nicht zu. Er wird behaupten, dass ich ihn verarsche, aber für den Fall habe ich auch schon vorgeplant: In den Harburger Anzeigen und Nachrichten steht am nächsten Tag hundertpro ein Artikel, «Überfall auf Waffengeschäft» oder so was in der Art. Den schneide ich dann aus und präsentiere ihn zusammen mit den erbeuteten Pistolen.
Ich habe mir Trainingsanzug, einen Hammer und eine Zange zurechtgelegt. Die Zange nur zur Sicherheit, vielleicht muss man etwas aufbiegen, womit man nicht gerechnet hat.
So, nun aber. Waffen und Angelbedarf Uhrig liegt ungefähr zwei Kilometer stadteinwärts an der Winsener Straße, die dort einen Knick beschreibt. Ein toter Winkel, noch etwas, das für ein Gelingen spricht. Aber noch bevor ich aus dem Haus bin, passiert schon ein erstes Unglück: Weil meine Füße vor lauter Aufregung schweißnass sind, rutsche ich ab und holpere volles Brett auf dem Arsch die Treppenstufen runter. Ich kann mich gerade noch beherrschen, nicht laut aufzuschreien, und bleibe mit schmerzverzerrtem Gesicht liegen. Gleich stürmen bestimmt die Erwachsenen aus ihren Zimmern und stellen mich zur Rede. Barfuß mit Trainingsanzug, Hammer und Zange, da kann ich viel erzählen. Ich suche krampfhaft nach einer Ausrede: Hammer und Zange habe ich versehentlich mit nach oben genommen, und jetzt wollte ich sie in den Keller zurückbringen. Und den Trainingsanzug habe ich an, weil ich seit dem Keuchhusten damals empfindliche Bronchien habe. Egal, gegen Mutter hätte ich keine Chance, die würde so lange bohren, bis sie es raushätte, also am besten gleich alles zugeben, dann hat man’s hinter sich. Ich zähle langsam bis sechzig … 58, 59, 60. Doch es bleibt mucksmäuschenstill. Das gibt es doch gar nicht! Stufe um Stufe schleiche ich ins Erdgeschoss und ziehe, so leise ich kann, die Haustür ins Schloss. Ich hab ja schon viel erlebt, aber das toppt alles. Doch schon passiert das nächste Malheur: Auf dem Walsroder Ring kommt mir ein Paar entgegen. Und das wochentags! Ich hätte nie im Leben damit gerechnet, dass um diese Uhrzeit noch jemand unterwegs ist. Unauffällig wechsle ich die Straßenseite. Flöt. Zum Glück erwische ich eine unbeleuchtete Passage zwischen zwei Straßenlaternen. Der Mann guckt trotzdem zu mir rüber und macht ein neugieriges Gesicht, das sehe ich von hier. Wenn der mich zufällig erkennt, bin ich geliefert. Ich tu so, als hätte ich einen Hut auf, und lupfe den. Theoretisch könnte ich mein Großvater sein, ich bin mit eins zweiundsechzig immerhin schon zwei Zentimeter größer als er. Und tatsächlich, der Mann grüßt zurück, und ich kann unbehelligt meiner Wege ziehen. Den Braten haben sie geschluckt! Meine Aufregung legt sich etwas. Vielleicht ist es sogar gut, dass ich bereits jetzt in zwei brenzlige Situationen geraten bin. Für die wirklich kritischen Momente bin ich dann gewappnet, wer weiß, was noch alles auf mich zukommt. Irgendwas fühlt sich komisch an im Mund. Als ich mit der Zunge umhertaste, merke ich, dass ich noch meine Zahnklammer drinhabe! Seit einem Jahr muss ich nachts eine lose Spange tragen. Manchmal vergesse ich tagelang, sie einzusetzen, und dann zwiebelt es immer wie sonst was, weil die Zähne wieder in ihre ursprüngliche Position zurückkehren. Außerdem stellt der Zahnarzt die Klammer einmal im Monat enger. Das Elend soll gehen, bis ich sechzehn bin! Das halte ich niemals durch, das weiß ich jetzt schon. Scheißklammer. Sieben Zähne hat er mir auch noch gezogen. Ich habe geblutet wie ein Schwein. Mutter sagt immer, Zähne sind die Visitenkarte des Menschen, und wer mit schiefem Gebiss rumläuft, kann sich gleich begraben lassen. Schaufel. Ich verstaue die Klammer in der Trainingshose, Einbrecher mit Zahnklammer, wo gibt’s denn so was.
Wo ist Martin? Fünf nach eins und keine Spur von ihm. Wieder eingepennt, habe ich es mir doch gedacht. Aber unverrichteter Dinge umkehren kommt nicht in die Tüte, so eine Chance gibt’s nicht so häufig. Zehn nach eins. Martins Zimmerfenster steht auf kipp. Ich überlege. Vielleicht ist er nur kurz eingenickt, und schon das kleinste Geräusch wird ihn aus dem Schlaf reißen. Ich lese Steinchen auf und werfe sie gegen die Scheibe. Nichts. Größere Steine. Immer noch nichts. Langsam müsste er doch mal wach werden! Pling, schepper, klirr.
Dann öffnet sich das Fenster. Endlich. Doch statt Martins Lockenmähne schiebt sich der Quadratschädel von Herrn Schipanski aus dem Fenster. Oh nein, oh nein, oh nein! Ohne groß zu überlegen, mache ich auf der Hacke kehrt und stratze, so schnell ich kann, davon. Hammer und Zange werfe ich irgendwohin. Ob Herr Schipanski mich erkannt hat? Höchstens am Gang, aber ich bin ja nicht gegangen, sondern gerannt, und Herr Schipanski hat mich vielleicht noch nie im Leben rennen sehen, daher könnte ich ja irgendjemand sein. Am Walsroder Ring zwingen mich Seitenstiche zu einem Zwischenstopp. Ich bin so ausgepowert, dass mir schlecht ist. Als sich meine Atmung halbwegs beruhigt hat, gehe ich die verschiedenen Möglichkeiten durch:
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Unser Haus ist hell erleuchtet, weil die Polizei bereits auf mich wartet.
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Herr Schipanski hat bei uns zu Hause angerufen und Mutter alles haarklein erzählt.
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Er hat Martin zwar ertappt, doch der hat den Mund gehalten.
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Alles ist rausgekommen.
Wie man es dreht und wendet, die Prozentzahlen haben sich umgekehrt und richten sich jetzt gegen mich: Ich schätze die Chancen, mit heiler Haut herauszukommen, auf maximal zwanzig Prozent. Unser Haus ist dunkel und totenstill. Möglichkeit A scheidet also schon mal aus. Ich bin so durch den Wind, dass ich bestimmt eine halbe Stunde brauche, um mich nach oben zu schleichen. Jetzt die dusselige Klammer einsetzen und so tun, als wäre nichts gewesen! Ich betaste meine Trainingshose – nichts! Ich stülpe alle Taschen um – nichts, nichts, nichts. Oje, auf der Flucht verloren, das gibt zusätzlich noch mal richtig Ärger. Ich werde einfach sagen, dass der Zahnarzt gemeint hat, ich bräuchte keine Klammer mehr. Ständig diese Lügerei!
Es ist gekommen wie befürchtet: Martin hat alles gebeichtet, worauf sie ihm den Umgang mit mir strengstens untersagt haben. Wie ich Martin kenne, wird er sich dran halten, er hat ziemlichen Schiss vor seinem Vater. Gott sei Dank haben Schipanskis nicht bei uns angerufen. Gott sei Dank, Gott sei Dank, denn ich bin sicher, dass mich Mutter zur Strafe nicht nach Todtglüsingen lassen würde, und sonst käme sicher auch noch einiges. Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, auf was für ein Himmelfahrtskommando wir uns da eingelassen hatten. Nie im Leben wären wir mit unseren lächerlichen Pupswerkzeugen durch die Scheibe gekommen, die Polypen hätten uns hundertpro erwischt, die sind ja nicht total behindert, und dann wären wir nach Hahnöfersand gekommen. Auf der Elbinsel Hahnöfersand befindet sich die härteste Jugendstrafanstalt Hamburgs; wer dort hinkommt, hat nichts mehr zu lachen. Flucht ist aussichtslos, weil die Insel vom Wasser umgeben ist, wie Alcatraz.
Wie soll ich den Tag bloß rumbekommen? Mutter haut mir mal wieder meine miserablen schulischen Leistungen um die Ohren. Ich habe die Beobachtungsstufe mit drei Fünfen und zwei Sechsen beendet, die Sechsen in Mathematik und Physik, wo sonst. Im letzten Halbjahr war bedingungslose Kapitulation angesagt, Herr Dierks hat seinen Triumph ordentlich ausgekostet und mich mit keinem einzigen Wort mehr bedacht, das Aas. In meinem Zeugnis stand eine Empfehlung für die Hauptschule, aber das hätte eine zu große Schande für unsere Familie bedeutet, und so bin ich erst mal auf der Realschule gelandet. Aber auch hier hatte ich große Schwierigkeiten mitzukommen, und es stand zwei Jahre nacheinander haarscharf auf der Kippe. Mein Klassenlehrer hat gesagt, ein drittes Mal würde er sich auf der Konferenz nicht mehr für mich einsetzen und ich müsste nach der Neunten mit Hauptschule abgehen. Wenigstens habe ich mich in Mathe auf fünf verbessert, schwacher Trost.
Ich kriege die ganze Nacht kaum ein Auge zu, aber als sich Schipanskis bis zum Mittag immer noch nicht gemeldet haben und ich kurz nach zwei mit gepacktem Koffer an der Bushaltestelle stehe, bin ich erleichtert wie selten im Leben. Die Fahrpläne haben sich zum Jahreswechsel geändert, die Züge nach Tostedt fahren jetzt immer um kurz vor halb.
In Todtglüsingen ist fast alles beim Alten geblieben, nur Wilfried junior lebt jetzt auf dem Lehrhof in Verden an der Aller, und Frau Schlummbohm ist letzten Herbst an Krebs gestorben, im stolzen Alter von 85 Jahren. Ich hätte sie auf zehn Jahre jünger geschätzt. Dafür hat Hummel Junge bekommen, vier an der Zahl, von denen Holzapfels einen Welpen behalten haben, der jetzt fast schon so groß ist wie Hummel selber. Der Konflikt zwischen Ristoffs und Holzapfels konnte nicht beigelegt werden, die beiden Bauern sind seit dem Vorfall damals verfeindet bis aufs Blut. Ich verbringe fast die ganze Zeit mit Manfred, denn Jens hat angeblich schon eine feste Freundin, und von Kai hört und sieht man nichts. Wahrscheinlich hat er jetzt einen Dachschaden und sitzt den ganzen Tag zu Hause, schätze ich, oder er musste sogar ins Heim. Oma Emmi ist trotz Wasser im Knie und Salzlager in den Gelenken noch ganz gut beisammen, ihre mittlerweile achtzig Jahre sieht man ihr kaum an, finde ich. Frau Donath pfeift allerdings auf dem letzten Loch, was sie nicht davon abhält, in jeder freien Minute rüberzukommen. Sie sitzt wie immer steif und verlegen da und reibt ohne Unterlass ihre winzigen Händchen aneinander. Schmirgel. Und wenn sie doch mal einen Mucks macht, klingt es sirrend, wie ein Insekt. Ich frage mich, was jemand wie Frau Donath überhaupt noch vom Leben hat. Ob es irgendetwas gibt, das ihr Freude bereitet? Vielleicht ist da was, was sich aber für einen jungen Menschen nicht erahnen lässt. Aber was? Essen kann es schon mal nicht sein, denn sie ist noch mal einen ganzen Schlag dünner geworden, obwohl das eigentlich gar nicht mehr ging. Ich bin mir sicher, dass sie von jedem etwas stärkeren Windstoß umgerissen würde, ohne Scheiß.
Dachsi wird immer bissiger, es traut sich mittlerweile keiner mehr aufs Grundstück, noch nicht mal Manfred oder der Sohn von Oma Emmi. Wenn der alle Jubeljahre mal vorbeikommt, muss Dachsi im Schlafzimmer eingesperrt werden, wo er sich die Hundelunge aus dem Hals bellt: für den Sohn natürlich ein willkommener Anlass, zeitig die Segel zu streichen. Einmal hat Dachsi einen Kadaver mit nach Hause geschleppt, und als der zufällig anwesende Herr Brettschneider versucht hat, ihm den Braten zu entwinden, hat ihn Dachsi sofort attackiert. Selbst Emmi und mich ist er angegangen. Herr Brettschneider hat das tote Tier schließlich mit seiner Sense weggezogen, während sich Dachsi mit Schaum vor dem Mund in seinen Gummistiefeln verbissen hat. Dieser kleine Hund gleicht mehr und mehr einer Bestie, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis jemand das außer Kontrolle geratene Tier per Genickschuss erledigt.
Dieser Sommer muss vom Wetter her leider ziemlich durchwachsen genannt werden. Zum Glück ist es heute mal wieder richtig heiß, und so konnten wir in aller Herzenslust in der Tonkuhle baden gehen. Kempermanns sind schon ewig nicht mehr aufgekreuzt, das sieht man auch am Zustand des Grundstücks. Die Fischteiche bestehen praktisch nur noch aus Algen und müssten dringend gereinigt werden, sonst ersticken die Fische am Sauerstoffmangel. Vielleicht haben Kempermanns das Anwesen verkauft, oder es hat einen schweren Krankheitsfall in der Familie gegeben.
Als ich gegen sieben heimkomme, hat sich Frau Donath glücklicherweise schon vom Acker gemacht. In letzter Zeit bleibt sie oft bis in die Abendstunden, weil sie schlicht und ergreifend vergisst, nach Hause zu gehen. Oma Emmi sagt auch nichts, obwohl es ihr total auf die Nerven geht, wenn Frau Donath so lange da ist. Der junge Herr Donath macht auch keine Anstalten, seine Mutter abzuholen oder wenigstens mal anzurufen, um zu fragen, ob alles recht ist. Der Familie wäre es wohl am liebsten, wenn Frau Donath einfach nicht mehr auftauchen würde. Vom Erdboden verschwunden, vom Winde verweht. Vielleicht ahnt Frau Donath das im Geheimen, und weil sie ihre Familie nicht belasten möchte, fängt sie schon mal damit an, sich aufzulösen. Bei ihr ist es wirklich vorstellbar, dass das geht. Schweb weg.