Otto

Mutter will Opa ins Heim geben. Ich finde das ziemlich mitleidslos, noch dazu kann’s ihr ja egal sein, denn die Plackerei hat ausschließlich Oma, also sollte es nach Adam Riese auch ihre Entscheidung sein. Ich habe Mutter im Verdacht, dass sie sich an Opa rächen will für das, was er ihr angeblich in ihrer Jugend angetan hat. Bei den geringsten Verfehlungen soll er sie blutig geschlagen haben, wenn sie beispielsweise nicht ordentlich Klavier geübt hat. Da ich mir das kaum vorstellen konnte, habe ich Oma gefragt:

«Stimmt es, dass Opa Mutti früher regelmäßig verdroschen hat?»

«Ach, Mathias.»

«Nee, sag mal.»

«Ach, nun lass doch.»

«Also stimmt das nicht?»

«Ach, mein Junge.»

Und so weiter.

Um Oma einzuschüchtern, entwirft Mutter regelrechte Horrorszenarien. Detailliert beschreibt sie ihr, wie die Oma von Schultes ihre Zimmerwände regelmäßig mit Kacke beschmiert, sich büschelweise die Haare ausreißt und einmal sogar eine tote Maus mit Haut und Haaren verspeist hat. Seit zwei Jahren sei das Leben der Schultes die Hölle, aber sie gingen lieber vor die Hunde, als dass sie ihre Oma ins Heim gäben. Dabei ist die wirklich jenseits von Gut und Böse und merkt nicht mehr, wo und bei wem sie ist. Eine Gemeinheit, Opa mit der alten Frau Schulte zu vergleichen. Noch zeigt sich Oma wehrhaft, aber ich befürchte, dass sie Mutters Bombardement über kurz oder lang nicht wird standhalten können.

Seitdem wir umgezogen sind, ufern die abendlichen Schularbeitenkontrollen immer mehr aus. Nach dem Abendbrot immer Minimum eine, oft zwei Stunden, der bisherige Rekord liegt bei fast drei. Obwohl ich versuche, Mutter so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen, kommt es fast jeden Tag zu bösem Streit. Bei einem Telefonat mit ihrer Freundin Maria aus Reinbek, das ich belauscht habe, nannte sie mich verstockt und unberechenbar, das läge aber an der Pubertät. Unberechenbar! Wer hier wohl unberechenbar ist! Und wenn ich schon Pubertät höre. Das blödeste Argument von allen! Läuft irgendwas schief, ist unter Garantie die Pubertät dran schuld. Eckhard Todt rasiert sich jeden Tag wie ein Geisteskranker, weil durch stetige Rasur der Bart angeblich von selbst zu sprießen anfängt. Schab, schab. Sein älterer Bruder ist im Käfer-Cabrio-Fanclub, den Rest kann man sich ja denken. Angeblich soll Eckhard auch wichsen, Thomas Leppin hat ihn laut eigenen Angaben mal in der Umkleide dabei erwischt. Es würde niemand niemals zugeben, dass er wichst, Wichsen ist das Allerletzte überhaupt. Aber ich bin mir sicher, dass es fast alle machen, vielleicht nicht gleich mit der Hand, aber an der Matratze schuppern, es gibt da ja verschiedene Methoden. Ich mach es auch ein- bis zweimal die Woche, meist, wenn ich bei den Hausaufgaben sitze und einfach nicht auf die Lösung komme. Dann übermannt mich eine ohnmächtige Verzweiflung, ich lege mich auf die Matratze und reibe mich so lange, bis sich dieses unbeschreibliche Gefühl einstellt. Danach bin ich erst mal erleichtert und kann mich wieder mit halbwegs klarem Kopf meinen Hausaufgaben widmen. Für mich ist das allerdings nur ein Übergang. Wenn ich die Schule endgültig in den Griff bekommen habe, höre ich damit auch wieder auf.


Zu einem riesengroßen Problem hat sich Bernd Kloppstock entwickelt, der eine über mir geht. Kloppstock, der Name ist Programm. Er ist der einzige richtig Dicke an der ganzen Schule und der Inbegriff von Brutalität. So wie Maik, nur dass Bernd auch noch aussieht wie ein Vogel, aber einer von der fluguntüchtigen Sorte. Er ist dauernd hinter den Mädchen her und lässt keine Gelegenheit aus, sich ihnen zu nähern, meist beim Spiel Mädchen die Jungen bzw. Jungen die Mädchen, bei dem es darum geht, dass die eine Gruppe der anderen habhaft wird. Wenn alle Mädchen oder alle Jungen gefangen sind, ist das Spiel vorbei. Es geht im Grunde genommen ausschließlich darum, die Mädchen unter dem Deckmantel des Spiels zu befummeln. Ganz wichtig dabei ist, dass die Mädchen wie verrückt kreischen und sich mit Händen und Füßen wehren. Wenn sie das nicht tun, ist es nämlich witzlos. Simone Behrbaum hat Heiko Voss einmal voll auflaufen lassen. Als er ihr zwischen die Beine gegangen ist, ist sie ganz ruhig stehen geblieben und hat ihn gefragt, ob es Spaß macht. Da hat er seine Hand aber ganz schnell weggezogen, so schnell konnte man gar nicht gucken. Bernd Kloppstock jedenfalls fasst die Mädchen unsittlich an und lacht die ganze Zeit wie ein armer Irrer, als ob alles ein riesengroßer Spaß wäre, dabei ist es bitterer Ernst. Das wissen natürlich alle, und Bernd weiß auch, dass ihn alle durchschauen, er ist ja nicht völlig behämmert. Bloß zu sagen traut sich niemand was, aus Angst vor Prügel. Weil er so grob und dumm und hässlich ist und keinen Plan hat, wie er sich Mädchen auf vernünftige Weise nähern könnte, ist er auf eine ganz seltsame Masche gekommen: Wenn er eine besonders gut findet, stellt er ihr ein Bein. Knall hin. Man fragt sich, was er damit bezweckt, denn die legen sich zum Teil richtig auf die Fresse und fangen an zu heulen und alles, aber der blöde Idi findet einfach keine andere Methode, um auf sich aufmerksam zu machen. Vielleicht glaubt er in seinem Spatzenhirn am Ende sogar, die Mädchen würden schon schnallen, dass er sie in Wahrheit gut findet, was weiß ich. Wenn man so fett und scheiße ist wie Bernd Kloppstock, kann nichts mehr schön oder zart oder romantisch sein. Nichts. Nie. Ich stelle mir vor, wie er jeden Morgen bereits schäumend vor Wut aufwacht und dieser Zorn im Verlauf des Tages nur noch wächst. Der Hass haut ihn fast aus den Socken.

Auf jeden Fall war ich mit Andreas und Frank in der kleinen Pause eine rauchen und hab abgelästert, wie mongomäßig bescheuert Bernd ist, als der plötzlich um die Ecke gebogen kam. Seitdem hab ich nichts mehr zu lachen. Er weiß zum Beispiel ganz genau, was für einen Stress ich mit meiner Mutter habe, und nimmt mir deshalb ständig mein Fahrrad ab. Er fährt damit dann stundenlang um den Pudding, obwohl er gar keine Lust dazu hat, er macht es nur, um mich zu quälen. Ich flehe ihn nach jeder Umkreisung an, mir das Rad zurückzugeben, aber er grinst nur fies und zieht die nächste Schleife. Es bereitet ihm diabolisches Vergnügen zu sehen, wie sich meine Verzweiflung Runde um Runde steigert. Wenn ich einfach nach oben ginge, würde er mein Fahrrad in die nächste Ecke pfeffern, und es würde sofort geklaut, und dann frage nicht nach Sonnenschein. Also muss ich so lange warten, bis er keinen Bock mehr hat und mir das Rad freiwillig aushändigt. Ich hab ihm schon Geld geboten und mein Mikroskop, aber das interessiert ihn alles nicht. Ihm geht es mit seinem ganzen Hass nur darum, mich zu unterdrücken.

Meine einzige Hoffnung ist, dass Bernd jemand anderen auf den Kieker nimmt, und ich überlege schon immer krampfhaft, was man da tun könnte. Es gibt nämlich meiner Meinung nach viel bessere Folteropfer, zum Beispiel Dirk Schmidt. Der hat Schuppenflechte, dünne, fettige Haare und abartig knallrote Wulstlippen, voll die Mutation. Die Krönung ist, dass er dreimal die Woche zum orthopädischen Turnen muss, weshalb er sowieso schon andauernd gefoltert wird. Manchmal binden sie ihn nach Schulschluss an den Fahrradständer und lassen ihn dort einfach liegen. Irgendwann fängt er an zu blöken wie ein verlassenes Kalb in der Wüste Gobi, bis er vom Hausmeister gefunden wird. Da alle dichthalten, ist bisher nichts rausgekommen, und Dirk hält auch die Klappe. Sollte er auch nur einen Mucks sagen, dann gnade ihm Gott. Ab und zu binden sie ihm in der großen Pause eine Leine um und führen ihn durchs Schulgelände wie einen Hund. Auf der einen Seite tut er mir leid, auf der anderen Seite ist er wirklich eklig und noch dazu strohdoof und kein Stück sympathisch. Da kann er meine Folter auch noch mit übernehmen.


Morgen kommt Otto Waalkes! Vielleicht gefällt es ihm ja so gut, dass er länger bleibt als vorgesehen und auch noch unsere Klasse besucht. Einen Blick auf ihn aus der Nähe zu erhaschen sollte auf jeden Fall drin sein. Vielleicht bekomme ich sogar Gelegenheit, ihm die Hand zu schütteln. Wie es wohl wäre, wenn Deep Purple an unsere Schule kämen? Wahnsinn. Wenn ich ihre Musik höre, schließe ich die Augen und stelle mir vor, Ian Gillan und Ritchie Blackmore in einer Person zu sein. Ich stehe, nur mit Jeans und Unterhemd bekleidet, vor dem Gesangsmikro und spiele zusätzlich noch die Gitarrensoli.

Aber heute geht’s erst mal mit der ganzen Klasse zur Köhlbrandbrücke. Bevor die nämlich nächste Woche für den Autoverkehr freigegeben wird, darf sie drei Tage begangen werden. Bundeskanzler Schmidt und Bundespräsident Scheel sollen angeblich auch kommen. Kann ich mir zwar nicht vorstellen, aber man wird spätestens heute Abend in der Tagesschau Genaueres erfahren. Einerseits habe ich keinen Bock, andererseits ist das ja sozusagen schulfrei. Direkt vor mir geht Karsten Petermann, wie immer mit Kippe im Maul, Plateauschuhen und Veddelhose mit extrabreitem Gürtel. Er geht in die Zehnte und ist der abgefahrenste Typ der ganzen Schule, fast als Einzigster darf er sich die Haare wachsen lassen, so lang, wie er will, und nicht so wie wir mit unseren Pottschnitten. Seit neuestem trinkt er den Orangenfruchtsaft «Appelsin», und zwar mit Strohhalm! Niemand außer ihm würde auf die Idee kommen, irgendwas mit Strohhalm zu trinken, das ist ja nur was für Kinder. Und bei jedem anderen würde es auch voll behindert aussehen. Bei ihm aber nicht. Appelsin hat vorher auch keiner getrunken, ich wusste noch nicht einmal, dass es die Marke gibt. Ich hab sie mir sofort gekauft, weil ich dachte, die schmeckt vielleicht besser als Bluna oder andere Limonaden, stimmt aber nicht. Es ist wahrscheinlich so wie mit Navy Cut, die raucht man schließlich auch nicht, weil sie so gut schmecken, und die Chemieplörre schmeckt eben auch nicht. Schütt weg. Karsten bewegt sich extra langsam, wie eine Schnecke, aber ich weiß, dass er jeden Moment explodieren und jeden zusammenschlagen könnte, wenn er wollte, selbst Andreas Janischewski. Ich war mal Zeuge, wie er Hassan fertiggemacht hat. Hassan ist neunzehn und Türke, schon voll der Schrank und so lang wie breit. Beim Autoscooter hat er Karsten gerammt, da hatte der gar keinen Bock drauf. Er hat ihn insgesamt dreimal verwarnt, doch Hassan ist ihm immer wieder volles Rohr in die Seite gefahren. Als die Runde vorbei war, ist Karsten zu Hassan hin und hat sich, ohne ein Wort zu sagen, vor ihm aufgebaut. Im Verhältnis zu Hassan ist er voll der Hänfling. Die beiden haben sich angeschaut, und man konnte schon an den Blicken erkennen, wer den Kürzeren ziehen wird. Hassan hat nämlich Schiss gehabt, ich hab’s genau gesehen. Und dann, wie aus dem Nichts, hat Karsten abgezogen und Hassan mit derartiger Wucht in die Fresse gehauen, dass der sofort zu Boden gegangen ist. Anstatt zurückzuschlagen, hat Hassan nur eine abwehrende Armbewegung gemacht und ist regelrecht weggekrochen. Erst nach zwanzig Metern hat er sich getraut, aufzustehen. Als er außer Reichweite war, hat er wüst rumkrakeelt, aber das hat natürlich keiner mehr ernst genommen. Es ist nämlich der Wille, der den Unterschied ausmacht. Und Karsten wollte es eben.

Das Erste, was ich mit achtzehn mache, ist, mir eine Veddelhose zuzulegen. Der einzige Typ, der sonst noch Veddelhose tragen darf, ist Oliver Büscher, der kennt angeblich welche von den Hells Angels. Das Problem bei Veddelhosen ist, dass die als absolute Rockerhosen verschrien sind. Ich hatte mal kurz bei meiner Mutter vorgefühlt, weil ich dachte, dass sie weltfremd genug ist, über Veddelhosen nicht Bescheid zu wissen, aber da hatte ich mich leider geschnitten.

Es herrscht ein totales Gedrängel auf der Brücke, halb Hamburg ist unterwegs, und zwischendurch schwankt alles, dass ich es mit der Angst zu tun bekomme und echt froh bin, als wir wieder runter sind. Alleine wäre ich niemals auf die Idee gekommen, die Brücke zu besteigen.


Otto ist viel kleiner, als ich gedacht hätte. Es ist seltsam, jemanden, den man nur aus dem Fernsehen kennt, plötzlich inmitten von ganz normalen Menschen zu sehen, so als wäre er einer von ihnen. Zwischen ihm und den anderen besteht aber ein himmelweiter Unterschied. Von wegen, alle Menschen sind gleich! Sind sie eben nicht. Es gibt nichts Ungleicheres als Menschen. Mäuse sind von mir aus gleich oder Würmer oder Spatzen. Aber Menschen nicht. Eigentlich hätte ich erwartet, dass Otto von einer Schar Leibwächter eskortiert würde. Aber er kommt einfach in Begleitung eines Freundes angelatscht, der nach allem anderen aussieht, nur nicht nach Personenschützer. Ich beobachte ihn von der Pausenhalle aus, es liegen gerade mal zehn Meter Luftlinie zwischen uns. Wenn er jetzt zu mir rüberschauen würde, wie geil wäre das! Ein Zug des Erkennens huscht über sein Gesicht, er lässt alles stehen und liegen und begrüßt mich wie einen alten Freund. Da würde meinen Mitschülern alles aus dem Gesicht fallen. Ich habe mir schon tausendmal ausgemalt, wie es wäre, ihm das Leben zu retten: Otto geht eine einsame Straße entlang, plötzlich brechen Gestalten aus den Büschen und überwältigen ihn. Jetzt gibt es verschiedene Möglichkeiten:

 
  1. Ich erschieße die Leute.

  2. Ich schlage sie zusammen, und sie flüchten.

  3. Ich bringe den schwerverletzten Otto ins Krankenhaus und rette ihm so das Leben. Weil er mir auf ewig dankbar ist, macht er mich zu seinem besten Freund.

Die Pausenglocke läutet und holt mich in die Realität zurück. Ich muss langsam mal ins Klassenzimmer. Bio bei Herrn Soetje, der kein Wort darüber verliert, wer im Stockwerk über uns gerade zu Gast ist. Nur durch eine lächerliche Decke getrennt, steht Otto Waalkes jetzt der R8b Rede und Antwort. Wie der wohl so ist? Viel ernster wahrscheinlich, als man glaubt. Der hat bestimmt keine Lust, den ganzen Tag auch noch privat den Kasper zu spielen. Herr Soetje zieht unverdrossen sein Ding durch: «Welches sind Beispiele für bedingte Reflexe?»

Ein Insekt fliegt Richtung Auge – ich schließe das Auge. Ich rieche den Duft eines Brathähnchens – das Wasser läuft mir im Mund zusammen. Es juckt mich am Hals – ich kratze mich.

Schlaf ein.

Als es endlich läutet, wollen alle sofort nach draußen stürmen, um einen Blick auf Otto zu erhaschen, doch Herr Soetje hält uns zurück.

«Nun beruhigt euch mal wieder, Otto rennt ja nicht gleich weg.»

Ach ja? Woher will denn ausgerechnet der das wissen? Als Herr Soetje aus der Tür heraustritt, rasselt er fast mit Otto zusammen. Otto lächelt freundlich und gibt dem Pauker die Hand. Herr Soetje erwidert das Lächeln und geht seiner Wege, ohne eine Miene zu verziehen. Muss man sich mal vorstellen! Lässt der sich extra nichts anmerken? Oder interessiert es ihn wirklich nicht, wem er da gerade über den Weg gelaufen ist? Ich drängele mich vor, soweit ich kann, aber ich habe keine Chance, Otto näher zu kommen, es sind mindestens zwanzig Leute dazwischen. Otto geht durch das Schultor Richtung EKZ. Dann verliere ich ihn aus den Augen.