Der Kirschendieb

Die Zeit vergeht wie im Flug. Ich verbringe meine Tage an der Tonkuhle, entweder mit Manfred oder Jens oder mit beiden zusammen. Eigentlich sind drei ja eine schlechte Kombination, weil sich für gewöhnlich zwei zusammentun und der Dritte nichts zu lachen hat, aber bei uns nicht. Manfred ist sowieso mit Abstand der Stärkste; wenn er auf uns Schwächere losginge, wäre das unfair. Aber er hätte auch nichts davon, denn dann könnte er in Zukunft alleine losziehen. Ich als Städter bin sowieso unterlegen, außerdem bin ich nicht einer von ihresgleichen, und sie trauen sich schon deshalb nicht richtig an mich heran, weil es dann richtig Ärger geben würde.

Ich mache meinen Vorsatz wahr und übe vor dem Mittag Rauchen. Lux, wie Manfred. Per Zufall entdecke ich ein paar Tage später die Marke «John Players Navy Cut». Die schmeckt zwar wie Knüppel auf den Kopp, aber die Schachtel ist die schönste und edelste, die ich je gesehen habe. Die Sorte hat 1,0 Prozent Nikotin und 14 Prozent Kondensat, stärker geht es kaum noch, fast so stark wie Drogen. In Harburg würden sie die mir im Tabakladen nie und nimmer verkaufen, aber hier auf dem Land ist es egal. Mein ganzes Taschengeld geht drauf für Zigaretten und Katjes, aber Oma Emmi was zu klauen kommt nicht in die Tüte, außerdem wäre es zwecklos, denn sie weiß, glaube ich, auf den Pfennig genau, wie viel sie im Portemonnaie hat. Um des lieben Friedens willen helfe ich ihr jetzt immer bei den Einkäufen, und ich unterhalte mich mindestens eine halbe Stunde täglich mit ihr und achte darauf, abends spätestens um Viertel nach sechs zu Hause zu sein, das geht gerade eben noch so.


Am Sonntag hatte ich dann doch noch ein sehr unangenehmes Erlebnis: Da Kempermanns wieder mal vor Ort waren, mussten wir uns wohl oder übel etwas anderes einfallen lassen. Daraufhin hatte Manfred die Idee, einen Reitausritt zu unternehmen. Jens war auch dabei, und selbst der kleine Kai mit seiner Mongobrille durfte mit. Obwohl ich tierisch Schiss hatte, musste ich gute Miene zum bösen Spiel machen, sonst wäre der Schwindel aufgeflogen, und bisher ist noch keine Lüge richtig aufgeflogen, weder das mit den Zigaretten noch das mit dem Schießen, und so soll es auch in Zukunft bleiben. Zum Glück haben Holzapfels keine turmhohen Turnierpferde, wie man sie von den Olympischen Spielen kennt, sondern jugoslawische, sogenannte Bosniaken, die liegen von der Größe zwischen Pony und normalem Pferd. Geritten wird ohne Sattel. Zum Glück hat mir Herr Holzapfel hochgeholfen, alleine wäre ich niemals auf den Gaul gekommen. Wie das Pferd schon gerochen hat, war mir zuwider. Das Glück dieser Erde liegt auf dem Rücken der Pferde, von wegen. Wer sich das ausgedacht hat, dem gehört eine Abreibung verpasst. Die einzigen anständigen Pferde sind die von Holsten, weil die das Bier bringen. Erst mal ging es in Schrittgeschwindigkeit die Schulstraße hoch bis zur Eisenbahnbrücke, Manfred vorweg, dann Jens, Kai und ich als Schlusslicht.

Im Schritt hatte ich Gelegenheit, mich an den Bewegungsablauf zu gewöhnen und beruhigend auf das Tier einzuwirken. Das war auch bitter nötig, denn als die Straße in den Waldweg überwechselte, ging es über in den Trab. Bereits jetzt hatte ich ständig Mühe, nicht abzurutschen. Zum Glück war ich der Letzte, und die anderen bekamen nichts davon mit, dass ich wie ein Spast rumgeeiert bin. Dann geschah das Unvermeidliche: Manfred fiel in den Galopp. Und das auf den engen Waldwegen! Da war es nur eine Frage der Zeit, bis ein Unglück passierte. Erschwerend kam hinzu, dass ich den mit Abstand lahmsten Klepper von allen hatte. Als sich plötzlich eine Lichtung auftat und der Weg breiter wurde, zog Manfred das Tempo noch mal an, und irgendwann ist mein Gaul nicht mehr mitgekommen. Eins nach dem anderen gerieten die übrigen Pferde aus dem Blickfeld. An einer Abzweigung wusste meine lahme Ente schließlich nicht, ob links oder rechts, und blieb abrupt stehen, von hundert auf null in einer Sekunde. Ich flog in hohem Bogen runter, ein Wunder, dass ich mir dabei nicht das Genick gebrochen habe. Da habe ich also dagelegen und meine Gliedmaßen betastet, während der Gaul friedlich graste. Von den anderen war nichts zu sehen oder zu hören.

Nach einer Weile, die Dämmerung war schon hereingebrochen, habe ich es mit der Angst zu tun bekommen, ich wusste ja weder, wo ich war, noch wäre ich ohne fremde Hilfe wieder auf den Klepper gekommen. Ein Elend. Endlich hörte ich es von ferne tuckern, und tatsächlich haben mich kurz darauf Herr Holzapfel und Wilfried junior mit dem Trecker aufgegabelt. Herrn Holzapfel habe ich richtig angesehen, wie wütend er wieder war. Jedem anderen hätte er sicher sofort eine reingehauen.

«Was ist los mit dir, du Eddel! Ich denk, du kannst das?»

«Kann ich auch, aber das Pferd hat vor irgendwas gescheut.»

«Ja und? Dann steigt man eben wieder auf.»

«Aber ich dachte, ich bleib lieber, damit die anderen mich finden, ich weiß ja gar nicht, wo wir sind.»

«Jaja, nun hör mal auf zu labern und steig auf. Wilfried reitet dein Pferd nach Hause. Nichts als Ärger machst du. Laumann.»

Ich habe mir geschworen, dass dieses Erlebnis das letzte sein sollte, das ich mit Pferden hatte.


Am vorletzten Feriensonntagnachmittag hocken wir wie immer gemeinsam in Holzapfels guter Stube und gucken «Die Leute von der Shiloh Ranch». Für uns Kinder gibt es zusätzlich zum Kuchen noch eine Packung Negerküsse. Da sitzt die ganze Familie inklusive Frau Schlummbohm und dem Rottweiler Hummel beisammen, und ich bin ganz stolz, dass ich als Fremder dabei sein darf.

«Du musst mal zum Putzer, Matten.»

Erst fühle ich mich nicht angesprochen, aber als die ganze Runde verstummt, merke ich, dass Herr Holzapfel das Wort an mich gerichtet hat. Matten ist die ländliche Abkürzung von Mathias, und was Putzer heißt, ist ja klar.

«Finden Sie?»

«Geh so mal zur Musterung. Die haben richtig Bock auf dich.»

«Wieso Musterung? Ich muss doch erst mal die Schule zu Ende machen.»

«Wenn du mit so ’ner Matte zum Kreiswehrersatzamt gehst, kannst du richtig was erleben.»

«Ach so.»

«Mann, Mann, Matten.»

Das erste Mal überhaupt meldet sich Frau Schlummbohm zu Wort, indem sie das plattdeutsche Lied «Lütt Matten de Haas» anstimmt, da kommt der Name Matten wohl her.

«Lütt Matten, de Haas
de maak sich een Spaß
he weer bi’t Studeern
dat Danzen to lehrn
un danz ganz alleen
op de achtersten Been.»

Ich versteh kein Wort, bin aber stolz wie Oskar, dass ausgerechnet Herr Holzapfel sich die Mühe gibt, mich mit einem Spitznamen zu bedenken. Die kleine Silke macht keinen Pieps, ich frage mich, ob das vielleicht an ihrer Behinderung liegt. Andere Kleinkinder hätten sich doch sicher schon mal irgendwie gemeldet. Noch findet ihr Vater sie süß, aber wenn ihre Behinderung mit fortschreitendem Alter mehr und mehr zutage tritt, bestimmt nicht mehr. Als der Abspann zu «Die Leute von der Shiloh Ranch» erklingt, wird mir einerseits ganz wehmütig ums Herz, weil ich ja jetzt normalerweise zum Bahnhof müsste, heute aber nicht: Ausnahmsweise darf ich noch zum Abendbrot bleiben, und außerdem liegt noch eine ganze Woche Ferien vor mir! Wenn das Wetter mitspielt, gehen wir jeden Tag zur Tonkuhle, aber wird es schon, es gab ja während der gesamten Zeit keinen einzigen Regentag!


Und so geht es auch weiter, jeden Tag herrlichster Sonnenschein, kein Wölkchen trübt den strahlend blauen Himmel, man kann sich gar nicht mehr vorstellen, dass es überhaupt noch mal anders wird. Trotzdem schlägt mir der Gedanke mächtig aufs Gemüt, dass die Sommerferien übermorgen unwiderruflich vorbei sind und ich aufs Gymnasium muss.

Jens hat heute keine Zeit, weil er seinen Vater zu irgendwelchen Einkäufen begleitet. Mir soll’s recht sein, wenn ich’s mir aussuchen könnte, bin ich sowieso lieber mit Manfred alleine, hab ich mir mal überlegt. Als wir von der Tonkuhle zurückkommen, hören wir es schon von weitem: schrille, spitze Schreie, als ob jemand abgestochen wird. Und dann sehen wir die Bescherung: Der kleine Kai sitzt im Kirschbaum. Herr Holzapfel hat ihn gestellt; er steht breitbeinig mit einer Weidenrute unter dem Baum, und so, wie Kai aussieht, hat er schon einiges an Schlägen kassiert. So hoch er auch in den Baum klettern mag, der Hüne erwischt ihn doch. Schon holt er erneut aus und lässt die Rute auf Kais nackte Beine zischen. Eine Lektion, die sich gewaschen hat, da hätte der kleine Kai besser die Finger von Holzapfels Früchten gelassen.

«Die Kirschen musst du dir verdienen, für jede Frucht gibt’s einen Schlag. Und wenn du schreist, schlag ich doppelt hart. Das war noch gar nichts, sollst mal sehen.»

Die Striemen zeichnen sich rot auf Kais Haut ab, er wimmert vor Angst und Schmerzen, zu schreien traut er sich nicht, denn er weiß, dass Herr Holzapfel es bitterernst meint. Mit seinem breiten Kreuz und dem glattpolierten Eierschädel sieht er aus wie Meister Proper in unfreundlich.

«Pass up, ich zähl jetzt bis zwanzig, und dann gibt’s wieder einen.»

Herr Holzapfel beginnt zu zählen, man spürt richtig, wie viel Spaß ihm das macht.

«Eins, zwei, drei …»

Kai wimmert vor sich hin. Auf welchen Körperteil es Herr Holzapfel wohl als Nächstes abgesehen hat? Ich habe mal in einem Piratenfilm gesehen, wie ein Matrose zehn Schläge mit der neunschwänzigen Katze verabreicht bekam, da hat sich der Kapitän zwischen den einzelnen Hieben auch besonders viel Zeit gelassen.

«… achtzehn, neunzehn, zwanzig.»

Diesmal ist der Po Zielscheibe. Kai ist völlig außer sich vor Panik; krampfhaft hält er immer noch den Korb mit dem Diebesgut umklammert. Das sollte er besser seinlassen.

«Lässt du wohl den Korb los, du Spastiker!»

Kai schnallt gar nichts mehr. Jetzt kann ich mir gut vorstellen, was es bedeutet, vor Angst nicht mehr zu wissen, was oben ist und was unten. Hummel kommt in mächtigen Sätzen herbeigesprungen und feuert sein Herrchen durch wüstes Gebell zusätzlich an. Ich frage mich, was passieren würde, wenn ich der Kirschendieb wäre? Ob Herr Holzapfel mich verschonen würde? Ich glaube kaum.

«Fünfzehn, sechzehn.»

Der nächste Countdown ist im Gange. Diesmal erwischt Herr Holzapfel Kai am linken Arm, sodass der endlich den Korb loslässt und sich das Diebesgut auf dem Erdboden verteilt. Jeder andere hätte spätestens jetzt von dem zitternden Bündel Mensch abgelassen, nicht so Herr Holzapfel. Eine echte Gemeinheit, wo Kai doch bestimmt noch nicht mal weiß, dass er etwas Unrechtes getan hat, er hatte wahrscheinlich einfach nur Appetit auf Obst. Frau Holzapfel kommt herbeigeeilt und versucht, ihren Mann zur Vernunft zu bringen.

«Nun ist aber langsam mal genug, du schlägst den Jungen noch tot.»

«Von so ’n paar Schlägen stirbt man nicht. Der soll nie wieder in sei’m kleinen Scheißleben an unser Obst rangehen.»

Zu guter Letzt gesellt sich auch noch Frau Schlummbohm dazu.

«Lass mal jetzt, Wilfried, der Jung’ hat seine Lektion gelernt.»

Enttäuscht lässt Herr Holzapfel die Rute sinken, er traut sich nicht, seiner Mutter zu widersprechen. Kanns’ mal sehen, jeder Mensch hat irgendeinen anderen Menschen, vor dem er Angst hat. Dann überstürzen sich die Ereignisse, denn nun stürzt ein kleiner, untersetzter Mann wie ein wildgewordener Brummkreisel auf Herrn Holzapfel zu. Das kann niemand anderes als Herr Ristoff sein! Ich habe ihn zwar noch nie gesehen, aber er ist es ohne Zweifel. Im Schlepptau hat er Jens. «Hör auf, oder ich mach dich kaputt», brüllt er mit Schaum vor dem Mund. Gegen Herrn Holzapfel hat er zwar nicht die geringste Chance, aber das interessiert ihn in seiner Wut anscheinend gar nicht.

Die Gerte in der linken Hand, hält Herr Holzapfel Herrn Ristoff mühelos auf Distanz, indem er ihm den ausgestreckten rechten Arm vor die Stirn hält. Herr Ristoff schlägt um sich wie ein Wahnsinniger, aber seine wilden Schwinger verpuffen, was ihn nur noch rasender macht. Herr Holzapfel genießt seinen Triumph sichtlich, er grinst Herrn Ristoff dreckig an: «Na, kommst nicht ran, du Zwerg? Scheiße, wenn man so ’n Abgebrochener ist, wa?»

Herr Ristoff sieht aus, als ob er vor Zorn gleich ohnmächtig würde. Es lässt sich keine Situation erdenken, in der ein einzelner Mensch wütender werden könnte als Herr Ristoff jetzt gerade. Mit einem Mal duckt er sich, ergreift einen umliegenden Ast und zieht mit voller Wucht durch. Er trifft Herrn Holzapfel aber nur an der Schulter. Keuchend bleibt Herr Ristoff stehen, er weiß, welchen Preis er nun zahlen muss und dass nun möglicherweise sein letztes Stündchen geschlagen hat. Jetzt macht Herr Holzapfel ernst:

«So, du Tittenclown, jetzt lass ich dich abblubbern! Jetzt hast du Geburtstag!»

Er schlägt ihm erst mit voller Wucht in den Bauch und zieht dann mit dem Knie durch. Herr Ristoff sackt zusammen und bleibt wie tot liegen. Oben in luftiger Höhe der wimmernde Sohn und der Vater zusammengekrümmt auf dem Boden. Jens steht daneben und weiß nicht recht, was er machen soll. Mit den Worten «Die Kirschen könnt ihr behalten, die habt ihr euch verdient» stapft Herr Holzapfel davon, seine Frau, Frau Schlummbohm und Hummel im Gefolge. Ich zittere am ganzen Leib. Noch nie habe ich gesehen, wie jemand volles Rohr zusammengehauen wurde. Wie soll ich mich nur verhalten? Angewurzelt stehen bleiben kann ich schließlich schlecht, aber wenn ich den Holzapfels in die Wohnküche folge, als wenn nichts gewesen wäre, trifft mich die Rache von Herrn Ristoff später bestimmt ebenso. Denn wenn eines sicher ist, dann, dass es heute noch Verletzte gibt.

«Ich hau mal ab», sage ich. Herr Ristoff liegt immer noch am Boden, und Jens ist damit beschäftigt, seinen Bruder aus dem Baum zu ziehen. Bestimmt hat Herr Ristoff ein Gewehr, mit dem wird er am Abend zurückkommen und kurzen Prozess machen. Zuzutrauen wär’s ihm, und an seiner Stelle würde ich es genauso machen. Mit einer derartigen Schmach, noch dazu vor aller Augen, kann man schlecht weiterleben. Und ich wäre vielleicht auch dran, auf einen mehr oder weniger kommt’s dann schließlich auch nicht mehr an.


Abends im Sessel achte ich darauf, dass der Fernseher ganz leise gedreht ist, damit ich die Schüsse hören kann. Auch als wir uns um neun langsam bettgehfertig machen, ist das noch kein Grund für Entwarnung. Vielleicht geht’s ja erst los, wenn alle schlafen und sich in Sicherheit wiegen, und wer weiß, ob Herr Ristoff später noch zu uns kommt.

Den Sonntag verbringe ich bei Oma Emmi auf dem Grundstück. Die freut sich natürlich, dass ich zur Abwechslung mal einen ganzen Tag bei ihr bin. Nach dem Mittagessen kommt wie immer Frau Donath. Es riecht, als ob sie sich in die Hose gemacht hätte. Mir ist ganz schwer ums Herz, aber nichts in der Welt brächte mich jetzt noch mal auf den Holzapfelhof. Wenn ich nur wüsste, was passiert ist. «Die Leute von der Shiloh Ranch» gucke ich bei Oma Emmi, und als die Abspannmusik kommt, zerreißt es mir fast das Herz. Ich gebe Oma Emmi noch ein Küsschen und wähle sicherheitshalber den Weg durch den Ort zum Bahnhof, damit ich nicht beim Holzapfelhof vorbeimuss.