Oma Emmi
Auf dem Weg zu Oma Emmi benutze ich eine Abkürzung, die mich statt durch den Ortskern von Todtglüsingen über einen staubigen Trampelpfad an den Bahngeleisen und der abgebrannten Munitionsfabrik entlang bis zur Eisenbahnbrücke führt. Die Schienen leuchten in der Sonne, herrlich ist das. Dann geht’s links die Schulstraße hinunter zu Oma Emmis Haus. Bis vor ein paar Jahren standen hier nur die Bauernhöfe von Holzapfels und Ristoffs, in der Zwischenzeit sind noch vier Fertighäuser dazugekommen, allesamt von Städtern, die es aufs Land gezogen hat. Als ich am Holzapfelhof vorbeilaufe, sehe ich durch die mächtigen Eichen hindurch die beiden Holzapfelsöhne, wie sie mit dem Luftgewehr auf eine Scheibe schießen. Ich weiß zufällig, dass sie Manfred und Wilfried junior heißen. Manfred ist etwa in meinem Alter und Wilfried junior ein paar Jahre älter. Oma Emmi hat mal gesagt, dass er schon ein Teenager wäre. Luftgewehrschießen ist das Allergrößte! Bei mir zu Hause dürfte ich das nie im Leben, aber hier auf dem Land ist eben alles anders, man darf viel mehr als in der Stadt. Zum Glück bemerken mich die beiden nicht, es wäre mir peinlich mit dem Koffer, ich weiß auch nicht, wieso.
Oma Emmis Haus liegt etwas versteckt hinter einer langen Auffahrt. Sie steht an der Haustür und wartet schon. Als sie mich sieht, lässt sie Lexi von der Leine, der völlig außer Rand und Band an mir hochspringt, er kann sich gar nicht wieder einkriegen. Von nahem kann ich riechen, was es zum Mittagessen gibt: Kotelett. Oma Emmi bekommt nur eine ganz kleine Rente, weil sie aus der DDR geflohen ist, eigentlich kann sie sich kein Fleisch leisten, aber wahrscheinlich hat meine richtige Oma ihr Geld dazugegeben, schließlich muss Emmi nun zwei Mäuler stopfen. Sie schließt mich in ihre fleischigen Arme und drückt mich so fest an sich, wie ich es ihr mit ihren sechsundsiebzig Jahren im Leben nicht zugetraut hätte. Lexi springt fortwährend an uns hoch und jault, weil er eifersüchtig ist. Er bellt so gut wie nie, er wirkt immer zittrig und verängstigt und würde sich auch niemals mit einem anderen Hund anlegen, und sei der noch so klein und harmlos.
«Eine Freude, eine Freude», ruft Oma Emmi fortwährend. Damit meint sie den Hund, wie der sich freut.
«Eine Freude, eine Freude», so geht das minutenlang. Umarmungen, der jaulende Lexi, Kotelettduft.
Oma Emmis Kotelett ist höchstens halb so groß wie meins. Während des Essens beobachtet sie mich, ob es mir auch schmeckt, oder weist den Hund zurecht, obwohl das weniger als gar nichts bringt. Lexi ist zwar verschüchtert, aber gleichzeitig auch schlecht erzogen, obwohl Oma Emmi ständig von allen möglichen Leuten ins Gebet genommen wird. «Ein Hund muss richtig erzogen werden, das ist auch besser für den Hund», «Ein Hund darf einem Menschen nicht auf der Nase herumtanzen» und so weiter.
Alles Quatsch, wie soll Oma Emmi in ihrem Alter denn noch einen Hund erziehen! Außerdem ist Lexi alles, was sie hat nach Onkel Horsts Tod. Unauffällig spuckt sie halbzerkautes Fleisch in ihre Hand und reicht es dem Dackel runter. Sie glaubt wohl, ich sehe das nicht! Am Ende läuft es darauf hinaus, dass der Hund das winzige Kotelett verspeist hat und Oma Emmi mit Salzkartoffeln und Gemüse vorliebnehmen musste. Sosehr Lexi einen gut bei mir hat, weil er sich so gefreut hat über mein Kommen, es geht nicht an, dass er der armen Oma Emmi das bisschen Fleisch wegfrisst. Ich versuche, ihn unter dem Tisch zu treten. Schließlich erwische ich ihn am Kopf, es gibt ein holziges Geräusch, der Köter rennt winselnd in die hinterste Ecke des Wohnzimmers und zittert dort vor sich hin. Oma Emmi versteht den Zusammenhang nicht.
«Was zappelst du denn so, Mathias?»
Auf die Idee, dass ich ihren Hund getreten haben könnte, kommt sie nicht. Zur Abwechslung könnte ich mich ja an die Erziehung des Tieres machen.
Obwohl ich die doppelte Portion hatte, bin ich noch vor Oma Emmi mit dem Essen fertig. Jetzt lutscht sie den Kotelettknochen ab, wahrscheinlich, weil sie noch so hungrig ist. Das sieht eklig aus, richtig gierig, als würde sie sich am liebsten den ganzen Knochen in den Mund schieben. Ich stelle mir vor, wie er festsitzt und sie ihn nie wieder herausbekommt. Als sie endlich fertig ist, leckt sie genießerisch den Teller ab. Ich kann gar nicht hinschauen. Im hintersten Winkel kauert der zitternde Kurzhaardackel, und Oma Emmi leckt kreuz und quer den Teller ab.
Nachtisch gibt’s nur sonn- und feiertags, also tragen wir die Teller in die winzige Küche, und Oma Emmi tut sie in das schmutzige Geschirrspülwasser, auf dem Kartoffelschalen und alles Mögliche schwimmen. Weil sie so sparsam ist, wechselt sie nur selten das Geschirrspülwasser, und damit es nicht ganz eisekalt ist, gießt sie ab und an kochend heißes Wasser nach. Ich stelle mir vor, wie im Geschirrspülbecken irgendwann praktisch kein Wasser mehr ist, sondern nur noch Abfälle, und Oma Emmi merkt es nicht mehr und wäscht trotzdem unverdrossen weiter ab. Wenn ich mir das noch länger angucke, kann ich von den Tellern und Gläsern nichts mehr essen und trinken. Jetzt lässt sie das Wasser doch ab, der Abfluss gluckst und rülpst von den ganzen Speiseresten. Ich gehe in die gute Stube zurück, wo mich Lexi schwanzwedelnd empfängt, wahrscheinlich hat er den Vorfall schon längst wieder vergessen. Ich habe nichts gegen ihn, ganz im Gegenteil. Als ich mich in den hellbraunen Fernsehsessel setze und er gleich auf meinen Schoß springt, gefällt mir das sehr, und ich streichle ihn.
«So, wenn du willst, kannst du spielen gehen, deinen Koffer packe ich schon aus. Aber spätestens um sechs bist du wieder hier.»
Während ich mir die Jacke überziehe, winselt und jault Lexi, als ob gleich etwas Entsetzliches passieren würde. Oma Emmi versucht, das Tier zu beruhigen, aber Lexi verdreht die Augen und ist kaum noch zu bändigen, er weiß ja nicht, dass ich schon bald wiederkomme. Oma Emmi hat ihren Hund einfach nicht im Griff. Unschlüssig gehe ich die Schulstraße dorfauswärts Richtung Eisenbahnbrücke, und als ich auf der Höhe vom Holzapfelhof bin, schießt vor mir ein Trecker aus der Einfahrt. Der Fahrer ist bestimmt Wilfried senior, Herr Holzapfel. Wilfried junior sitzt auf dem Seitensitzer, wird ordentlich durchgerüttelt und muss sich an der Eisenstange festklammern, damit er nicht den Halt verliert. Wenn ich nicht mit einem mächtigen Satz zur Seite gesprungen wäre, hätten die mich glatt über den Haufen gefahren! Ein Menschenleben zählt auf dem Land viel weniger. Der Trecker fährt in einem Affenzahn die Schulstraße hoch und verschwindet schließlich hinter der Eisenbahnbrücke.
«EY, Aldda.»
Manfred! Er hat mich gesehen und kommt angelaufen. Die Art, wie er geht, das sieht gar nicht gut aus.
«Was willst du auf unserem Hoff?» Er sagt nicht Hof, sondern Hoff.
«Gar nichts, ich bin doch gar nicht auf dem Hof, ich steh auf der Straße.»
«Aber du hast gespannt, ich hab’s genau gesehen.»
Er ballt die Fäuste, ich hätte nie im Leben eine Chance gegen ihn.
«Nein, echt nicht, ich schwör. Ich komm von Oma Emmi. Frau Beuger.»
Er macht ein Gesicht, als wäre er enttäuscht darüber, keinen Grund zu haben, mir eine reinzuhauen.
«Wie das denn?» Er lässt nicht locker.
«Oma Emmi ist die Schwester meiner Oma, und meine Eltern haben mich für zwei Wochen hierhergeschickt.»
Wenn ich das mit der Großtante gesagt hätte, hätte er es sicher nicht verstanden, aber so kann es ja wohl jeder Dummkopf begreifen.
«Und wieso habe ich dich noch nie gesehen hier?»
Ich erkläre ihm alles haarklein, bis sich sein Misstrauen endlich legt. Plötzlich scheint er froh darüber zu sein, Gesellschaft zu haben, und er bietet an, mit mir einen Rundgang über den Hof zu unternehmen: Holzapfels wohnen sieben Mann hoch hier, Herr und Frau Holzapfel, die beiden Söhne, die große Schwester Sonja, die zur Landfrauenschule geht und schon verlobt ist, und die zweijährige Schwester Silke, die wie Tobias Schulz mongoloid ist. Dann gibt es noch Frau Schlummbohm, Herrn Holzapfels Mutter, alle nennen sie nur Frau Schlummbohm, auch Herr Holzapfel selbst, wie Manfred hinzufügt. Vervollständigt wird die Sippe von Hummel, einer Rottweilerhündin, die, kaum dass ihr Name fällt, prompt aus dem Bauernhaus stürmt und begeistert mit ihrem Stummelschwanz wedelt. Obwohl Rottweiler normalerweise noch gefährlicher als Schäferhunde und sogar Doggen sind, ist Hummel harmlos, das hört man ja schon am Namen. Weiter geht’s: Der Holzapfelhof beherbergt alles, was die Landwirtschaft an Tieren zu bieten hat: Rinder, Schweine, Hühner und das große Steckenpferd von Herrn Holzapfel, Pferde, gleich vier an der Zahl. Dann zeigt mir Manfred noch einen Schatz: Hinter dem Schweinestall in einem Schuppen sind zwei pechschwarze Motorräder untergestellt. Die wären noch aus dem Zweiten Weltkrieg, behauptet er, mit Automatik und daher kinderleicht zu bedienen. Ehrfürchtig bestaune ich die Maschinen und stelle mir vor, wie die Soldaten im Feindeinsatz auf ihnen gesessen haben. Manfred schlägt vor, eine Runde zu drehen. Als ich frage, ob das nicht verboten ist, sagt er, dass man auf Privatgelände keinen Führerschein braucht und rumpesen kann, so viel und so lange man will. Das lass ich mir natürlich nicht zweimal sagen. Manfred zeigt mir, wie man die Maschine anlässt, und wir drehen hintereinander auf dem Acker unsere Runden. Ich glaube, mir hat noch nie etwas so viel Spaß gebracht. Manfred packt sich voll Karacho auf die Seite, es sieht so aus, als würde er sich jeden Moment hinlegen, aber dann behält er doch das Gleichgewicht. Die Motorräder haben keinen Tacho, ich schätze, dass wir mindestens Tempo hundert draufhaben.
Und dann passiert’s: Wie aus dem Nichts kommt mit einem Affenzahn der Trecker angerast. Herr Holzapfel hält voll auf Manfred zu, der verzweifelt versucht, dem Ungetüm auszuweichen, was ihm aber nur knapp gelingt. Der Trecker wendet und jagt erneut auf Manfred zu. Wieso ist der so schnell? Der muss einen Supermotor eingebaut haben, sonst wäre ein so sperriges Fahrzeug doch niemals so schnell wie ein Motorrad! Ist er aber. Wieder fehlt nur eine Haaresbreite, und es wäre aus gewesen mit Manfred. Herr Holzapfel meint es ernst. Wie irre geht das noch mehrere Male hin und her, bis Manfred endgültig das Gleichgewicht verliert und sich hinpackt. Als Herr Holzapfel dann vom Trecker springt und mit Riesensätzen auf seinen wimmernden Sohn zuläuft, möchte man meinen, er wollte ihn mit bloßen Händen totschlagen. Er packt ihn mit einer Hand am Kragen und lässt ihn am ausgestreckten Arm zappeln. Herr Holzapfel ist bestimmt einen Meter fünfundneunzig groß und wiegt hundert Kilo. Er hat einen Eierkopf und Glatze.
«WAS IST LOS MIT DIR?», schreit der Bauer. Selbst wenn Manfred antworten wollte, ginge das gar nicht bei der Schüttelei.
«GLEICH HAST DU GEBURTSTAG!», schreit Herr Holzapfel wieder. Ich verstehe nicht, was er meint. Wieso hat Manfred Geburtstag? Morgen? Dann gesellt sich auch Wilfried junior dazu, sichtlich zufrieden, dass sein Bruder eine ordentliche Abreibung kriegt. Manfred gurgelt etwas, das nach einer Entschuldigung klingt. Aber sein Vater kann sich gar nicht mehr beruhigen. «WILLST DU AUFMUCKEN? MUCK BLOSS NICHT AUF, DU EDDEL!»
Er schüttelt Manfred so sehr, dass man Angst um sein Genick haben muss, der Kopf schlackert hin und her, als würde er jeden Moment abfallen. Manfred verdreht die Augen und röchelt. Viel fehlt nicht mehr, und er fällt in Ohnmacht, denke ich. Endlich lässt ihn Herr Holzapfel los, wechselt schlagartig die Richtung und geht auf mich zu. Das halte ich nicht länger aus! Manfred wird sicher dauernd so behandelt, aber ich bin das nicht gewohnt. Obwohl ich gerade noch starr war vor Angst, gelingt es mir, in letzter Sekunde wegzustratzen. Wie ein Hase renne ich, so schnell ich kann, über den Acker. Doch kurz bevor ich die Straße erreicht habe, versperrt mir Wilfried junior den Weg und packt mich am Schlafittchen. Wo kommt der denn auf einmal her? «Hiergeblieben, Freundchen.» Er hält mich fest, bis sein Vater angestapft kommt.
«Wer bist du?», fragt Herr Holzapfel mich.
«Mathias. Von Frau Beuger der Enkel.» Enkel, na ja, so ungefähr.
«Und was hast du hier zu suchen? Was macht ihr hier für eine Scheiße?»
«Ich wusste das nicht. Manfred hat gesagt, dass man auf dem Acker keinen Führerschein braucht.»
Jetzt kommt auch Manfred angekrochen, und Herr Holzapfel schreit ihm volles Brett ins Ohr, dass ihm fast das Trommelfell platzen muss:
«UND WENN DEM EUMEL HIER WAS PASSIERT WÄRE? WER HÄTTE DAS GEZAHLT? DU, ODER WAS? LOS, AUFS ZIMMER, UND DA BLEIBST DU, BIS ICH DIR DAS SAG.»
Dann wendet sich der Bauer erneut an mich:
«Und du haust besser ab zu deiner Oma.»
Ich mache eine leichte Verbeugung und laufe davon. Je weiter ich mich vom Hof entferne, desto schneller werde ich.
Oma Emmi verschweige ich die Angelegenheit, sonst denkt sie noch, wenn ich komme, gibt’s gleich Ärger. Und das stimmt ja auch nicht. Lexi ist gleich wieder außer Rand und Band, er winselt und jault und verdreht die Augen. Ob Manfred wohl gleich noch eine richtige Abreibung bekommt? Ich will’s gar nicht wissen.
Zum Abendbrot gibt es Leberwurstbrot, hartgekochte Eier und Hagebuttentee. Eine ganz abscheulich dünne heiße Plörre. Daran kann man schon sehen, wie weltfremd sie ist. Welcher Junge in meinem Alter mag schon Tee trinken, und vor allem abends! Ich stelle mir vor, dass Oma Emmi ihn mit dem abgestandenen Geschirrspülwasser zubereitet hat, und bekomme keinen Schluck hinunter. Als sie sieht, wie ich mich herumquäle, hat sie ein Einsehen und holt eine Flasche gelber Brause. Die Brausesorte habe ich nie gesehen, sie heißt Zintos und schmeckt ganz anders als die mir bekannten Sorten, aber besser. Nach dem Essen bleibe ich sitzen und lasse Oma Emmi das schmutzige Geschirr in die Küche schaffen. Wenn ich ihr helfen soll, kann sie es ja kundtun, aber sie macht keinen Mucks. Lexi guckt mich gierig an. Ich drehe ihm die Handflächen hin, um zu zeigen, dass es nichts mehr gibt, aber der Hund lässt nicht locker. Während des Abendbrots hat Oma Emmi ihm viermal Leberwurstbrotstücke gegeben. Kein Wunder, dass er sich nicht bändigen lässt. Als Oma Emmi mit nassen Händen zurückkommt, machen wir es uns vor dem Fernseher gemütlich, ich im Sessel und Emmi auf dem Sofa. Sie sieht ganz erschöpft aus. Kein Wunder, so viel Trubel hat sie bestimmt schon lange nicht mehr erlebt. In der Tagesschau läuft ein Bericht über Willy Brandt. Oma Emmi macht abfällige Bemerkungen über den Bundeskanzler. Sie ist mit der neuen Linie nicht einverstanden. Ich weiß auch, warum, denn die Russen haben im Krieg Oma Emmis kleines Hotel in der Nähe von Berlin besetzt und sie über viele Wochen gequält. Und das sitzt natürlich bis heute.
Der Wetterbericht verspricht weiterhin herrlichsten Sonnenschein, und ich grübele darüber nach, wie es morgen wohl weitergeht. Ob ich noch mal den Holzapfelhof betreten darf? Oder gelte ich jetzt als schlechter Einfluss und bin nicht mehr gern gesehen? Dann müsste ich dafür sorgen, dass ich mit den Kindern vom Ristoffhof ins Gespräch komme.
«So, Mathias, dann wollen wir uns mal langsam fertig machen.»
Und nun? Ich habe mir noch gar keine Gedanken darüber gemacht, wo ich schlafe. Außer dem Wohnzimmer gibt es noch ein Schlafzimmer mit einem Doppelbett und ein zweites, kleines Zimmer mit einem Klappbett. Hier ist es allerdings sehr unordentlich, und der Raum dient vor allem als Abstellkammer.
«Geh man schon mal vor ins Schlafzimmer, ich muss mich noch bettgehfertig machen.»
Also muss ich mit ihr in einem Zimmer schlafen, in einem Bett! Ich weiß gar nicht, ob mir das lieb ist. Außerdem bin ich noch nicht müde und würde gerne noch was lesen, aber Oma Emmi ist sicher dagegen, weil sie gleich das Licht ausmachen will. Wenigstens kann ich noch so lange schmökern, bis sie mit ihrer Toilette fertig ist. Jetzt, wo ich allein bei offenem Fenster im Bett liege, merke ich erst, wie still es ist, nichts, rein gar nichts ist zu hören. Aus Langeweile schaue ich in die Nachtischkommode. Und jetzt kommt’s: Dort liegt, unter ein paar Tüchern versteckt, ein Revolver! Sofort schlägt mein Herz bis zum Hals. Es handelt sich um eine Automatikpistole, das sehe ich auf den ersten Blick. Leider ungeladen. Ob die echt ist? Ich durchstöbere die Schublade und alle anderen Schubladen nach Munition, werde aber nicht fündig. Morgen werde ich das ganze Haus durchsuchen, irgendwo wird sie die Munition schon versteckt haben. In die Stille dringt plötzlich ein knatterndes Geräusch. Und gleich noch mal. Ich grübele, was es sein könnte, dann wird mir schlagartig klar, dass Oma Emmi im Bad welche ziehen lässt. Es hört gar nicht mehr auf, als ob sie es den ganzen Tag aufgespart hätte, um vor dem Schlafengehen einmal richtig loszupupen. Natürlich denkt sie, ich würde es nicht hören, aber es ist so still, dass man selbst das kleinste Geräusch mitkriegt.
Ich höre, wie die Badezimmertür aufgeht und Oma Emmi durch den langen, großen Flur schlurft, vielleicht will sie in der Küche noch ein Glas Wasser trinken oder etwas Ähnliches. Dabei lässt sie wieder einen ziehen. Der Lichtspalt unter der Schlafzimmertür erlischt, und eine mumienmäßig einbalsamierte Emmi kommt hereinspaziert. Ich kriege einen Schrecken, sie hat sich zentimeterdick Nivea ins Gesicht geschmiert.
«So, Mathias, jetzt wollen wir mal gleich schlafen.»
Ich bin eigentlich ganz froh darüber, dass Oma Emmi nicht religiös ist und wir nicht noch gemeinsam beten müssen. Von Oma weiß ich, dass sie im Krieg ihren Glauben verloren hat.
«Schön, dass du mich mal besuchen kommst, Mathias.»
Sie nimmt meine Hand und drückt fest zu. Ich fühle mich etwas unwohl dabei und stelle mir vor, wie sie mit Onkel Horst auch immer so Hand in Hand gelegen hat, und so sind sie dann zusammen eingeschlafen. Vielleicht beruhigt es sie ja, deswegen mag ich meine Hand nicht wegziehen, ich will ja auch nicht, dass sie denkt, ich würde mich vor ihr ekeln. Wir wissen beide nicht, wie wir es machen sollten, die Finger ineinanderschieben oder nicht. So liegen wir eine Weile, dann endlich lockert sich ihr Griff, und sie fängt leise an zu schnarchen. Jetzt könnte ich die Nachtischlampe anmachen und lesen, aber ich denke lieber an den Tag zurück. Es kommt mir vor, als wäre ich viele hundert Kilometer von zu Hause entfernt und schon sehr lange hier. Ich habe jedenfalls kein Stück Heimweh, nur an Oma denke ich und ihre Sorgen. Hoffentlich kann ich morgen wieder auf den Holzapfelhof. Ich rechne zusammen: Luftgewehrschießen, Motorrad fahren und die Pistole von Oma Emmi. Ich schließe die Augen und höre in der Ferne einen Güterzug vorbeirattern. Die Grillen zirpen. Ich habe mal gehört, dass auf jeden Menschen eine Million Insekten kommen. Wahrscheinlich gewinnen also am Ende die Insekten. Die Geleise sind bestimmt mehr als einen Kilometer entfernt. Ach, ist das gemütlich, fast so gemütlich wie zu Hause unterm Dach, wenn es regnet.