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Vom Gericht aus fuhr Biegler sofort zu der Adresse, die ihm Eschburg gegeben hatte. Der Notar begrüßte ihn freundlich, sie kannten sich aus dem Studium. Er übergab Biegler einen großen versiegelten Briefumschlag und wünschte ihm Glück.

Biegler riss den Umschlag noch auf der Straße auf. Er enthielt nur einen USB-Stick und ein Schriftstück. Biegler fuhr mit dem Taxi in seine Kanzlei und steckte den Stick in seinen Laptop. Eine halbe Stunde später kam Bieglers Sekretärin in sein Büro. Sie sah ihn hinter dem aufgeklappten Laptop sitzen. Und, ganz gegen seine Gewohnheit, lachte er.

Biegler bat seine Sekretärin, einen großen Fernseher zu kaufen und ihn in das Gericht schaffen zu lassen. Er telefonierte mit dem Vorsitzenden und erklärte ihm, dass Eschburg den Bildschirm für seine Einlassung brauche. Nach einigem Hin und Her stimmte der Vorsitzende zu. Er bat Biegler, Staatsanwältin Landau zu informieren.

Biegler fuhr ins Gericht, zog im Anwaltszimmer zwei Kaffee aus dem Automaten und ging zu dem Dienstzimmer von Staatsanwältin Landau.

»Ich habe Kaffee in Plastikbechern mitgebracht«, sagte er.

»Klingt toll«, sagte sie.

»Seien Sie nicht sarkastisch«, antwortete Biegler. Er setzte sich auf den Besucherstuhl. Aus dem Becher schwappte Kaffee auf den Ärmel seines Jacketts.

»Das geht wieder raus«, sagte sie. »Einfach mit Wasser.«

»Gut«, sagte er.

»Sie dürfen es nur nicht in den Stoff reiben.«

Sie schwiegen. Biegler wusste, dass es jetzt kommen würde. Es war ihm unangenehm.

»Ich war beeindruckt, wie Sie den Polizisten befragt haben«, sagte Landau.

»Das ist ganz überflüssig«, sagte Biegler.

»Nein«, sagte sie. »Ich habe einen Fehler gemacht, als ich den Polizisten mit Ihrem Mandanten allein ließ.« Sie sprach leise.

»In Ordnung. Ich habe mit dem Vorsitzenden gesprochen. Nach der Aussage des Polizisten geht das Gericht jetzt davon aus, dass Ihr Vermerk stimmt. Der Vorsitzende wird Sie also nicht als Zeugin hören.«

»Danke«, sagte Landau. Sie schien erleichtert zu sein.

»Na gut. Was wird Ihr Mandant in der nächsten Hauptverhandlung sagen?«, fragte sie.

»Lassen Sie sich überraschen«, sagte Biegler.

»Sie machen aus allem ein Theaterstück«, sagte Landau.

»Vielleicht haben Sie damit sogar ein wenig recht. Aber das liegt daran, dass jedes Verfahren ohnehin ein Theaterstück ist, finden Sie nicht?«, sagte Biegler. »Wir spielen mit Worten, Anträgen, Zeugen und Beweisen die Tat nach. Unsere Vorfahren haben gedacht, das Böse würde so seine Macht über uns verlieren. Das war nicht so dumm.«

»Ich glaube immer noch, dass Eschburg die Frau umgebracht hat«, sagte Landau. »Eine andere Erklärung gibt es nicht.«

»Es gibt immer eine andere Erklärung«, sagte Biegler.

»Sie machen sich etwas vor, Herr Biegler.«

»Ja? Und wenn schon, warum nicht?«, sagte Biegler.

»Warum nicht? Weil es natürlich nie gut ist, sich etwas vorzumachen.«

»Unsinn«, sagte Biegler. »Wenn ich ins Bett gehe, tue ich doch auch so, als würde ich schlafen, bis ich eingeschlafen bin.«

Landau lachte. »Bitte im Ernst, Herr Biegler: Haben Sie gar keine Angst?«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Biegler.

»Was wäre, wenn das Geständnis Ihres Mandanten stimmt? Was, wenn der Polizist doch recht hatte?«

»Der Polizist hat es versaut. Die anderen Beweise reichen nicht«, sagte Biegler. »So einfach ist das. Ende der Geschichte.«

»Wie können Sie nur so kalt sein?«, fragte Landau.

»Glauben Sie das wirklich?«, fragte Biegler.

»Ja, das glaube ich.«

Biegler schloss die Augen. »Es geht nicht um die Frage, ob ich kalt bin, es geht auch nicht um die Verbrecher, mit denen wir uns hier jeden Tag beschäftigen. Es geht nur darum, dass Sie und ich und die Richter ihre Sache ordentlich machen. Wenn Sie das immer noch nicht begriffen haben, sind Sie hier falsch.«

Landau wurde rot. Sie sagte nichts.

»Eschburg wird sich in der nächsten Hauptverhandlung erklären«, sagte Biegler. »Er braucht dazu einen Fernseher. Wir haben einen Flachbildschirm besorgt, der im Gericht aufgestellt wird. Der Vorsitzende hat zugestimmt. Ich wollte Ihnen das nur sagen.« Er stand auf.

Biegler gab ihr die Hand. Er hatte nicht so schroff sein wollen. »Wissen Sie, ich glaube bei jedem neuen Fall, ich könnte einmal alles richtig machen. Es klappt nie. Bis morgen also«, sagte er.

»Bis morgen«, sagte Landau.

Er ging über die große Treppe zum Ausgang. Der Wachtmeister grüßte und wünschte einen schönen Abend. Biegler grüßte zurück. Er sah sich selbst verschwommen in den Scheiben der alten Türen: ein etwas zu fülliger Mann mit Aktentasche und Hut. Die Türen schlossen sich hinter ihm.

Er nahm ein Taxi zum Savignyplatz, ging in sein Lieblingscafé, bestellte einen doppelten Espresso zum Mitnehmen und setzte sich nach draußen, um rauchen zu können. Die Akte legte er auf seine Knie. Auf der Litfaßsäule neben dem Café wurde eine Fotoausstellung angekündigt: »Die europäische Fotografie des 20. Jahrhunderts«. Auf dem Foto war eine nackte Frau vor dunklem Hintergrund. Biegler schloss die Augen.

Plötzlich sagte er: »Ich bin ein Idiot.« Er war zu laut, andere Gäste drehten sich zu ihm um.

Er suchte sein Telefon und rief seine Sekretärin an. »Sie haben mir doch mal gezeigt, dass Ihr Computer auch übersetzen kann«, sagte er. Er musste einen Moment warten, bis die Sekretärin die Seite aufgerufen hatte. »Bitte sehen Sie doch einmal nach, ob das ukrainische Wort ›Finks‹ auf Deutsch etwas bedeutet.« Er hörte sie tippen.

»Nein, nichts.«

»Und Senja Finks?«

»Auch nichts.«

»Dieses Internet taugt nichts, habe ich immer gewusst. Bleiben Sie bitte dran«, sagte Biegler. Er klemmte das Telefon zwischen Schulter und Ohr. Er zog sein Notizbuch aus dem Mantel, schlug es auf und strich mit seinem Bleistift darin herum. »Geben Sie mal nur den ersten Buchstaben des Vornamens und den Nachnamen ein. Also: ›S F I N K S‹?« Biegler buchstabierte das Wort.

»Treffer. Die Übersetzung lautet Sphinx. Augenblick, ja, hier steht es: Die Sphinx ist eine Frau mit geflügeltem Löwenkörper, die jeden verschlingt, der ihr Rätsel nicht löst.«

»Ich weiß, wer das ist«, sagte Biegler und legte auf.

Er trank seinen Kaffee aus, stand auf und bezahlte. Auf dem Bürgersteig summte er Oscar Peterson: »On a Clear Day«. Plötzlich blieb er stehen und stellte die Aktentasche auf den Boden. Er bewegte sein Becken, drehte die Fußspitzen, winkelte die Arme an und machte vier, fünf Twistschritte. Konrad Biegler tanzte.