3

Am übernächsten Morgen in Berlin stand Biegler um sechs Uhr auf. In der Nacht hatte er die Akten gelesen und wenig geschlafen. Trotzdem fühlte er sich frisch und erholt. Er frühstückte mit Elly.

»Letzte Woche war der Baumsachverständige da«, sagte Elly hinter ihrer Zeitung.

»Wer bitte?«

»Der Baumsachverständige. Wenn du hier einen Baum fällen willst, muss ein Baumsachverständiger es erlauben.«

»Oh Gott«, sagte Biegler.

»Er hat gesagt, der Baum sei völlig gesund. Du darfst ihn nicht fällen«, sagte Elly.

Der Baum stand vor dem Wintergarten, in dem sie jeden Morgen frühstückten. Er verdunkelte das Zimmer.

»Heißt das, ich muss weiter im Schatten leben?«

»So in etwa«, sagte Elly.

»Die Deutschen sind wirklich verrückt«, sagte Biegler. »Ich werde den Baum vergiften. Mit Blei. Wie macht man das eigentlich?«

Elly antwortete nicht.

»Ich könnte einen Mandanten anrufen, der auf den Baum schießt«, sagte Biegler.

»Hör auf zu schimpfen«, sagte Elly.

Vor zwei Jahren hatte Elly ihn zu einem Psychoanalytiker geschickt. Er werde immer unerträglicher, hatte sie gesagt. Er war tatsächlich dorthin gegangen, acht Sitzungen hatte er dem Analytiker beim Atmen zugehört. Jede Stunde hatte ihn 85 Euro gekostet. Natürlich hatte Biegler kein Wort gesprochen. Er hatte es langweilig gefunden, über sich selbst nachzudenken. Nach 680 Euro hatte er die Analyse abgebrochen. Er traute sich nicht, es Elly zu sagen, und lebte seitdem in der Angst, sie würde es rausbekommen. Er hatte Freuds »Gesammelte Werke« gekauft, manchmal zitierte er daraus. Er hoffte, damit durchzukommen.

»In der Zeitung steht, du hättest den Fall dieses Künstlers übernommen«, sagte Elly.

»Vielleicht mache ich es.«

»Sie schreiben, er sei es wahrscheinlich gewesen.«

»Sonst wäre es keine Meldung«, sagte Biegler.

Elly schlug ihm vor, der neuen Sekretärin Blumen mitzubringen, aber er lehnte es ab. »Blüten sind geöffnete Geschlechtsorgane, so etwas verschenke ich nicht, vor allem nicht an eine junge Frau«, sagte er.

Um acht Uhr fuhr er in die Haftanstalt nach Moabit. An der Abfertigung legte er die Vollmacht für Eschburg vor und bat darum, den Mandanten zu sprechen. Die Beamtin telefonierte, dann fragte sie Biegler, ob er sich im Urlaub erholt habe. Biegler antwortete nicht.

Eschburg sei zurzeit der prominenteste Gefangene, sagte die Beamtin. Ganz ruhig sei er, meistens liege er auf dem Bett in der Zelle, zu Aufsehern und Mitgefangenen sei er höflich. Er verzichte auf den Hofgang. Er habe sich bisher über nichts beschwert und er habe keinerlei Sonderbehandlung verlangt.

»Das klingt doch angenehm«, sagte Biegler.

»Irgendetwas ist seltsam an ihm«, sagte die Beamtin.

»Was?«, fragte Biegler.

»Ich weiß auch nicht«, sagte die Beamtin. »Es ist nur so ein Gefühl.«

»Ein Gefühl also«, sagte Biegler. Die Beamtin nickte.

Nach ein paar Minuten kam Eschburg. Biegler nahm ihn mit in eine der Anwaltssprechzellen.

»Rauchen Sie?«, fragte Biegler.

»Ich habe es mir hier abgewöhnt«, sagte Eschburg.

Biegler steckte seine Zigarillos wieder ein. »Rauchen ist in den Sprechzellen ohnehin verboten. Sie haben mich gebeten, Ihre Verteidigung zu übernehmen.«

»Ja.«

»Sie haben schon einen Pflichtverteidiger.«

»Aber jetzt brauche ich Sie«, sagte Eschburg.

»Weshalb?«

»Jeder da draußen hält mich für einen Mörder.«

»Na ja, Sie haben ein Geständnis abgelegt«, sagte Biegler.

»Ja.«

»Und Sie haben es unterschrieben.«

»Ja. Aber es war erzwungen.«

»Wollen Sie damit sagen, dass es nicht stimmt?«, fragte Biegler.

»Ich möchte, dass Sie mich so verteidigen, als sei ich nicht der Mörder.«

»Als seien Sie nicht der Mörder? Verstehe ich das richtig? Sind Sie einer oder sind Sie keiner?«, fragte Biegler.

»Ist das wichtig?«

Es war eine gute Frage. Biegler hatte sie noch nie von einem Mandanten gehört. Journalisten stellen solche Fragen, Studenten oder Referendare, dachte er. »Für die Verteidigung ist es nicht wichtig, wenn Sie das meinen«, sagte Biegler.

»Und für Sie persönlich?«

»Bei einer Verteidigung geht es nur um die Verteidigung.«

»Das ist der Grund, weshalb ich Sie als Anwalt möchte. Nicht alle haben diese Einstellung.« Eschburg wirkte völlig ruhig. »Haben Sie die Akte gelesen?«, fragte er.

»Ich habe schon Schlimmeres gesehen«, sagte Biegler.

»Wie würden Sie mich verteidigen?«

Biegler sah Eschburg an. »Wenn man einen Freispruch von einer Mordanklage will, gibt es sechs Möglichkeiten. Erstens: Es war richtig zu töten – kommt selten vor. Zweitens: Es war Notwehr. Drittens: Es war ein Unfall. Viertens: Sie wussten nicht, was Sie taten, oder Sie konnten das Unrecht Ihres Handelns nicht einsehen. Fünftens: Sie waren es nicht, ein anderer hat’s getan. Und – ebenfalls sehr selten – sechstens: Es gibt gar keinen Mord. Spielen wir es einmal durch: Notwehr, Unfall und Schuldunfähigkeit lassen wir vorerst beiseite. Beginnen wir mit dem Alternativtäter. Wer, wenn nicht Sie, könnte der Täter sein?«

Eschburg überlegte eine Weile. »Niemand.«

»Haben Sie keine Nachbarn?«, fragte Biegler.

»Doch, eine Frau, Senja Finks«, sagte Eschburg.

»Wer ist das?«

Eschburg erzählte, was er von ihr wusste, auch von dem Messerangriff und ihren Verletzungen.

»Gut«, sagte Biegler. Er schrieb alles in sein Notizbuch. »Darüber kann man nachdenken. Kommen wir zur letzten Verteidigungsmöglichkeit. Sie ist hier die interessanteste: Es gibt keinen Mord.«

»Ich habe doch gestanden.«

»Ja, das haben Sie.«

»Aber?«, fragte Eschburg.

»Die Staatsanwaltschaft wird alles versuchen, damit das Geständnis bei Gericht durchgeht. Aber ich vermute, das Schwurgericht wird es nicht verwerten wollen. Wenn das so ist, werden die Richter prüfen müssen, ob die anderen Indizien ausreichen. Dazu gibt es offene Fragen. Die zwei wichtigsten: Wer war die Frau? Und wo ist ihre Leiche? Ihr Geständnis bricht an diesem Punkt ab.«

»Muss ich die Fragen des Gerichts beantworten?«

»Nein.« Biegler schlug die Akte auf. »Hier, Ihr letzter Satz: ›Ich habe die Leiche verschwinden lassen. Ich habe sie aufgelöst.‹ Das ist das Ende der Vernehmung.« Biegler drehte die Akte zu Eschburg und zeigte ihm die Stelle.

»Ich erinnere mich«, sagte Eschburg.

»Wie haben Sie es gemacht?«

»Was?«

»Die Sache mit dem Verschwinden? Wie Houdini, der Zauberer?«

»Mit Chemikalien.«

»Aha.«

»Als Fotograf habe ich Zugang dazu.«

»Und weiter?«

»Ich habe die Leiche in ein Salzsäurebad gelegt. Sie hat sich aufgelöst«, sagte Eschburg.

Biegler zog die Akte wieder zu sich und legte sie zurück in seine Tasche. Er stand auf. »Ich glaube nicht, dass ich Sie verteidigen werde.«

»Weshalb?«

Endlich, dachte Biegler, zum ersten Mal reagiert er. »Weil ich Ihnen nicht glaube. Natürlich müssen Sie mir nicht die Wahrheit sagen, Sie können alles abstreiten. Sie können schweigen, Sie können sogar verschiedene Versionen einer Geschichte an mir ausprobieren. Lügen sind in Ordnung. Aber eines kann ich nicht ausstehen: wenn Mandanten etwas gestehen, was sie nicht getan haben.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Eschburg.

»Leichen in Salzsäure – das gehört in einen Kriminalroman. Es funktioniert nicht, jedenfalls nicht besonders gut. Selbst nach vielen Tagen in einem Salzsäurebad löst sich ein Körper nicht richtig auf. Die Brühe wird gelblich, es bleiben organische Klumpen zurück. Von Zähnen und Knochen ganz zu schweigen.«

»Und was ist mit diesem Fall in Belgien, der Pastor?«, fragte Eschburg.

»Sie haben sich erkundigt? Interessant. Sie meinen András Pándy, den Ungarn«, sagte Biegler, während er sich den Mantel anzog. »Richtig, Pándy tötete vier seiner acht Kinder. Aber er nahm keine Salzsäure, er benutzte einen Rohrreiniger. Damals konnte man den in jeder Drogerie kaufen. Pándys Tochter hat die Taten gestanden. Sie war übrigens auch ziemlich unangenehm, hat ihre Mutter erschossen, um ungestört mit ihrem Vater schlafen zu können.«

Biegler ging im Mantel in der Zelle auf und ab. Er hatte die Hände auf dem Rücken. Manchmal hielt er so Gastvorträge an der Polizeihochschule.

»Die junge Frau hat jedenfalls behauptet, die Leichen zerteilt, in Rohrreiniger eingelegt und dann das Ganze durch den Abfluss gespült zu haben. Niemand hat es geglaubt. Der belgische Untersuchungsrichter wollte die Sache überprüfen. Meines Wissens war es das einzige Mal, dass so ein Vorgang wissenschaftlich untersucht wurde.«

»Funktionierte es?«

»Im Experiment wurden zuerst Schweineköpfe zerstückelt und in diesen Abflussreiniger gelegt. Es war erstaunlich, sie lösten sich tatsächlich innerhalb von 24 Stunden vollständig auf, samt Zähnen, Haaren und Knochen. Danach probierte man es mit menschlichen Leichenteilen, es war eine ziemliche Sauerei. Ethisch auch nicht unbedenklich, ich habe dazu einen Artikel veröffentlicht. Der Versuch mit den Leichen ging aus wie der Versuch mit den Schweinen: Alles löste sich perfekt und rasend schnell auf. Der Rohrreiniger kam aus England, er hieß Cleanest.« Biegler lächelte. »Irgendwie ein passender Name, finden Sie nicht?«

Er blieb neben Eschburg stehen und beugte sich vor. »Aber das war 1998, vor vierzehn Jahren. Als das Experiment öffentlich bekannt wurde, änderte der Hersteller von Cleanest die Zusammensetzung des Reinigers. Und: Salzsäure war nie ein Bestandteil.«

Biegler fand es beunruhigend, wie sehr sein eigener Eindruck von den Beschreibungen Eschburgs in den Akten abwich. Der junge Mann war nicht kalt. Es war etwas anderes: Eschburg schien auf etwas zu warten, aber Biegler wusste nicht, was es war. »Machen Sie sich also nichts vor«, sagte Biegler, »Sie wären vermutlich noch nicht einmal in der Lage, eine Leiche zu zerteilen. Schon das ist alles andere als leicht. Ich muss jetzt gehen.«

»Bleiben Sie bitte noch einen Moment«, sagte Eschburg. Er zog einen Zeitungsausschnitt aus seiner Jacke und legte ihn auf den Tisch. Biegler nahm das Papier. Es war ein Artikel über ihn. Damals hatte er in einem Vergewaltigungsfall verteidigt.

»Ja und? Es gibt bekanntere Anwälte«, sagte er.

»Darum geht es mir nicht. Sie haben in diesem Interview gesagt, Wahrheit und Wirklichkeit seien ganz verschiedene Dinge, so wie Recht und Moral sich unterscheiden würden. Haben Sie das nur gesagt, weil es gut klingt?« Wie die meisten Gefangenen war Eschburg bleich. Er trug eine schwarze Kaschmirjacke und einen schwarzen Rollkragenpulli. Sie verstärkten seine Blässe noch.

»Hier steht, dass Sie eigentlich Musiker werden wollten. Sie hätten dann aber das Jurastudium begonnen.« Eschburg las vor: »›Das Gericht ist die letzte wichtige Institution, die sich mit Wahrheit beschäftigt‹ – genau deshalb will ich, dass Sie mich verteidigen.«

»Das ist sehr lange her«, sagte Biegler. »Sie sind angeklagt, einen Menschen getötet zu haben. Sie sollten sich ausschließlich Gedanken um sich selbst machen.«

»Das tue ich ja«, sagte Eschburg. »Werden Sie mich verteidigen?«

»Weil Wirklichkeit und Wahrheit verschiedene Dinge sind?«, fragte Biegler.

»Weil Sie es verstehen«, sagte Eschburg.

Biegler sah auf die Uhr. Er setzte sich wieder. »Also gut, ich finde Ihren Fall interessant. Aber nicht wegen der angeblich verschwundenen Leiche und schon gar nicht, weil Sie ein bekannter Künstler sind. Mich interessiert nur die Foltersache an Ihrem Fall.«

»Soll ich es schildern?«

»Nein«, sagte Biegler. »Es gibt einen Vermerk der Staatsanwältin dazu. Nur auf ihn kommt es an. Ich fürchte, das Gericht würde Ihnen nicht glauben, wenn Sie etwas anderes erzählen. Vorerst reicht mir dieser Vermerk. Morgen habe ich in Ihrer Sache einen Termin mit der zuständigen Staatsanwältin und dem Vorsitzenden Richter. Übermorgen soll Ihre Haftprüfung sein. Wir werden also sehen. Ich lasse Ihnen heute noch die kopierten Akten bringen.«

Biegler verließ die Untersuchungshaftanstalt über die Kellertreppe zum Gericht. Nasses Laub lag auf der Straße, es klebte auf den Motorhauben der Autos, die großen Scheiben der Busse waren beschlagen.

Vielleicht hatte die Beamtin recht, dachte Biegler, und mit dem Mann stimmte etwas nicht. Eschburg konnte sich den Zeitungsartikel nicht erst im Gefängnis besorgt haben, er musste ihn schon vor seiner Inhaftierung gehabt haben. Plötzlich spürte Biegler wieder den Druck in seiner Brust, der Schmerz strahlte über die Schulter bis in den Unterkiefer aus. Er lehnte sich an die Mauer des Gerichts. Er wartete, bis der Druck schwächer wurde. Obwohl es schon kühl war, zog er seinen Mantel aus.

Er ging durch den kleinen Park zur Kirche. Er war seit Jahren nicht mehr in einer Kirche gewesen, seit der Taufe seines Sohnes. Die Tür stand offen. Er nahm seinen Hut ab und setzte sich in die letzte Reihe. Die Kirche war leer. Das Licht fiel schräg durch die gelben Fenster auf den Boden. In die Bank hatte jemand ein Monogramm geritzt. Biegler legte seine Stirn auf die Lehne vor ihm. Eine Bodenfliese hatte einen Sprung. Er wischte mit dem Schuh darüber. Eine Weile blieb er so sitzen und starrte auf die Fliese.

Vor der Kirche reparierte ein Junge auf dem Bürgersteig sein Fahrrad. Er hatte es auf Lenker und Sattel gestellt und drehte mit den Pedalen das Hinterrad. Es hatte eine Unwucht. Der Junge hatte schmutzige Hände und eine Schürfwunde am Ellbogen. Er versuchte das Rad mit seinen Unterarmen gerade zu biegen.

»Das wird nicht gehen«, sagte Biegler. Der Junge sah zu ihm hoch. Biegler zuckte mit den Schultern. »So ist das nun mal«, sagte Biegler. Der Junge versuchte es weiter. Biegler sah noch eine Zeit lang zu, dann zog er seine Brieftasche aus der Jacke und gab ihm zwanzig Euro. »Kauf dir eine neue Felge«, sagte er. Der Junge nahm das Geld und steckte es ein, ohne etwas zu sagen.