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»Mandelbiskuit?« Der Vorsitzende Richter hielt eine Blechdose mit Keksen über den Schreibtisch. Er trug einen blauen Blazer mit goldenen Knöpfen, auf die ein Phantasiewappen graviert war. Er war glatt rasiert, rosa Haut, Doppelkinn, abstehende Ohren. Er trug eine kreisrunde Brille, die ihm zu groß war. Menschen, die ihn nicht kannten, hielten ihn für freundlich, vielleicht sogar für ein wenig dumm.
»Sind von meiner Frau«, sagte der Vorsitzende.
Landau schüttelte den Kopf, Biegler nahm einen. Er schmeckte wie Pappe. Biegler dachte daran, dass der Vorsitzende vor ein paar Jahren eine Affäre mit einer Referendarin gehabt hatte. Es gab das Gerücht, dass ihn das seine Berufung zum Richter am Bundesgerichtshof gekostet hatte.
»Vielen Dank«, sagte Biegler.
Der Vorsitzende beobachtete Biegler beim Kauen. »Sie ist eine großartige Bäckerin«, sagte er. »Noch einen?«
»Danke, gerne.« Er selbst isst sie nicht, dachte Biegler.
»Die Anklage wurde Ihnen zugestellt?«, fragte der Vorsitzende Biegler.
»Habe ich bekommen, ja.« Er hatte den Mund voll Mehl und Zucker.
»Dann können wir anfangen. Wenn Sie auf die Fristen verzichten, könnten wir am kommenden Montag mit der Hauptverhandlung beginnen. Ein anderer Prozess ist unerwartet ausgesetzt worden, wir haben also plötzlich Zeit für dieses Verfahren.«
»Das ist etwas überraschend«, sagte Biegler. »Ich bin noch nicht vorbereitet. Also wird keine Haftprüfung stattfinden?«
»Nein, wir würden gleich mit der Hauptverhandlung beginnen, wenn es Ihnen recht ist«, sagte der Vorsitzende.
»Heben Sie den Haftbefehl gegen Eschburg trotzdem jetzt schon auf?«, fragte Biegler.
»Warum sollten wir das tun?«, fragte der Vorsitzende.
»Weil sein Geständnis nicht verwertbar ist. Der Polizist hat ihm mit Folter gedroht. Das ist doch nach dem Vermerk von Frau Landau völlig klar«, sagte Biegler. »Wir sind natürlich froh, dass Sie die Sache so schnell verhandeln können, aber ich möchte gerne, dass er auf freien Fuß kommt.«
Der Vorsitzende nickte. »Die Frage der Folter ist eines der Probleme dieses Verfahrens«, sagte er. Er sah Landau an und wartete.
»Wir können das in der Hauptverhandlung klären«, sagte Landau.
Sie ist gut, dachte Biegler, kein bisschen unsicher. Er drehte sich auf seinem Sessel zu ihr. »Ich verstehe nicht, warum Sie das nicht längst geklärt haben. Obwohl Sie dabei waren, haben Sie das Geständnis Eschburgs in die Anklageschrift aufgenommen, als wäre nichts gewesen. Wir wissen hier doch alle, dass es nicht verwertbar ist.«
»Über die Verwertbarkeit wird das Gericht entscheiden«, sagte Landau.
»Seien Sie nicht albern«, sagte Biegler.
»Es ist eine ernste Sache«, sagte der Vorsitzende. »Ich mache das nun schon seit fast dreißig Jahren. Noch nie hatte ich einen Fall der Folter. Wenn sich der Vorwurf als wahr herausstellt, werden wir das Geständnis natürlich nicht verwerten.« Der Vorsitzende klang hart. »Aber ich gebe Frau Landau recht. Die Kammer wird erst im Rahmen der Hauptverhandlung den Foltervorwurf prüfen können. Herr Biegler, bevor Ihr Mandant aussagt, werden wir den Polizisten und dann vielleicht noch Frau Landau selbst als Zeugen hören. Die Frage ist, ob Ihr Mandant sein Geständnis wiederholen wird.«
»Ich habe das mit ihm noch nicht besprochen«, sagte Biegler. »Ich glaube aber nicht, dass Sie hier überhaupt einen Fall haben. Sie haben keine Leiche. Sie wissen noch nicht einmal, wer getötet worden sein soll. Ich weiß, dass diese Kammer schon einmal über einen Mord ohne Leiche verhandelt hat. Aber damals gab es Zeugen, die gesehen haben, was passiert ist. Es gab Hunderte Indizien …«
»Es gab sogar Fotos von der Leiche«, sagte der Vorsitzende.
»So ist es. Aber hier gibt es nichts«, sagte Biegler.
»Das ist nicht wahr«, sagte Landau. »Wir haben den Anruf des Opfers bei der Polizei. Außerdem haben wir die sadistischen Pornos, die Handschellen, die Peitschen, das Obduktionsbesteck, den gemieteten Wagen mit Blutanhaftungen, das zerrissene Kleid in der Mülltonne und so weiter. Diese Indizien sind unabhängig vom Geständnis Ihres Mandanten.«
Biegler gefiel, dass Landau kämpfte. Ich würde das genauso machen, dachte er.
»Bisher wissen wir nur von einem Anruf einer unbekannten Frau«, sagte Biegler. »Wir kennen die Frau aber nicht. Es könnte ein Scherz sein. Oder eine falsche Verdächtigung. Eschburg ist sehr bekannt und wie alle Menschen in der Öffentlichkeit ist er dauernd solchem Unsinn ausgesetzt. Darauf können Sie nichts stützen. Was Ihre anderen Indizien angeht – nichts davon ist verboten, oder? Und das Kleid? Wissen Sie wirklich, warum es zerrissen ist? Oder wer es war? Glauben Sie im Ernst, ein Gericht wird einen Menschen deshalb 25 Jahre einsperren?«
»Ihr Mandant kann sich ja unseren Fragen stellen«, sagte Landau.
»Jetzt machen Sie sich aber wirklich lächerlich«, sagte Biegler.
»Das Gericht wird die Indizien zusammen würdigen, nicht nur die einzelnen Teile«, sagte Landau.
»Ich finde es schön, dass Sie immer so genau wissen, was das Gericht machen wird, aber …«, sagte Biegler.
»Schon gut.« Der Vorsitzende unterbrach Biegler. »Sie müssen hier nicht plädieren.«
»Darf ich rauchen?«, fragte Biegler.
»Auf keinen Fall, das ist ein öffentliches Gebäude«, sagte Landau.
»Es ist kein Gebäude, sondern mein Dienstzimmer«, sagte der Vorsitzende. »Trotzdem Nein. Aber Sie können noch Biskuit haben.«
Biegler schüttelte den Kopf. Er hatte bereits Sodbrennen.
»Ich will der Hauptverhandlung nicht vorgreifen, Frau Staatsanwältin«, sagte der Vorsitzende. »Aber ich fürchte, Sie sollten sich noch einmal an die Akten setzen. Die Beweislage ist tatsächlich dünn.«
»Noch kann man Beweise nicht im Fachhandel kaufen«, sagte Biegler.
»Seien Sie nicht so arrogant«, sagte Landau.
»Ach ja?« Biegler wurde wütend. »Mein Mandant sitzt seit 17 Wochen in Untersuchungshaft. Sie haben monatelang ermittelt, ohne irgendetwas Vernünftiges vorlegen zu können. Sie gehen mit der Freiheit meines Mandanten um, als wäre es eine Dose Katzenfutter. Ihr Polizist hat ihm Folter angedroht. Davon steht nichts in der Presse. Das wird sich jetzt ändern, liebe Frau Landau. Sie haben Eschburgs Intimleben in der Öffentlichkeit ausgebreitet. Sie haben dafür gesorgt, dass nie wieder jemand ein Bild von ihm kaufen wird. Aber das Wichtigste an diesem Verfahren verschweigen Sie. Und dann sitzen Sie hier mit übereinandergeschlagenen Beinen und finden mich arrogant?«
»Beruhigen Sie sich jetzt, Herr Biegler«, sagte der Vorsitzende. »Wir wissen nicht, wie die Informationen an die Öffentlichkeit gekommen sind.«
»Das müssen wir auch nicht wissen. Es ist im Ermittlungsverfahren passiert, und Frau Landau ist für das Ermittlungsverfahren verantwortlich. Der Beschuldigte steht in diesem Teil des Verfahrens unter besonderem Schutz des Staates. Aber im Moment sieht es so aus – egal, welche Zeitung Sie lesen –, als wäre er ohne jeden Zweifel schuldig. Wieso sollte ich mich also beruhigen? Die einseitige Informationspolitik der Staatsanwaltschaft ist doch eine Unverschämtheit: Ich habe den ganzen Ordner mit Presseberichten gelesen – nicht ein einziges Wort von Folterdrohung. Ich kann das nicht fassen. Und dann, wenn wir schon über Versäumnisse reden: Die Anklage ist doch überhaupt nicht nachvollziehbar. Was soll dieses Verfahren? Ein Mord ohne Leiche ist schon eine kaum zu lösende Sache. Aber ein Mord, bei dem wir nicht einmal wissen, wer das Opfer sein soll? Das ist schlicht absurd«, sagte Biegler.
Der Vorsitzende lächelte. Biegler gefiel das nicht.
»Vielleicht müssen Sie doch nicht in den Beweisefachhandel, Frau Landau«, sagte der Vorsitzende und lächelte weiter. »Die Kammer hat den medizinischen Sachverständigen beauftragt, die Blutspuren noch einmal zu untersuchen. Es war ja nur eine Kleinigkeit, sie wurde wohl versehentlich vergessen. Die DNA Ihres Mandanten, Herr Biegler, wurde bisher nicht mit der DNA des mutmaßlichen Opfers verglichen. Gehört eigentlich zum Standard in der Gerichtsmedizin, kann aber wohl passieren, dass man es mal vergisst.«
»Ich verstehe kein Wort«, sagte Biegler. Auch Landau sah den Vorsitzenden an.
»Wir haben das nachholen lassen. Gestern Abend haben wir das Gutachten aus dem Institut bekommen.« Der Vorsitzende gab Landau und Biegler Kopien. »Die Identität der verschwundenen Frau ist zumindest teilweise geklärt. Ich darf das Gutachten kurz zusammenfassen: Die unbekannte Frau ist Eschburgs Halbschwester.«