8

Die Hauptverhandlung sollte um neun Uhr beginnen. Vor dem Gericht, auf den Fluren und vor dem Verhandlungssaal standen Journalisten mit Kameras. Biegler hatte noch nie so viele Reporter bei einem Verfahren erlebt. Die beiden großen Nachrichtensendungen hatten am Vorabend das Verfahren angekündigt. Er sah Staatsanwältin Landau von Mikrofonen umringt, aber er konnte in dem Gedränge nicht hören, was sie sagte. Er hatte vor der Verhandlung fast jeder Zeitung ein Interview zu der Folter gegeben, er war sogar in eine Talkshow gegangen, obwohl es ihm zuwider war. Als er jetzt den Saal betrat, lehnte der Vorsitzende am Richtertisch und sprach mit seiner Protokollführerin. Er nickte Biegler zu.

»Wird ein anstrengender Tag«, sagte der Vorsitzende.

Biegler zuckte mit den Schultern. »Affentheater«, sagte er.

Ein paar Minuten nachdem Biegler sich gesetzt hatte, öffnete sich eine kleine Tür in der Holzvertäfelung und zwei Wachtmeister brachten Eschburg in den Saal. Er setzte sich neben Biegler, er wirkte gelassen.

Es dauerte fast dreißig Minuten, bis die Journalisten und Zuhörer im Saal Platz genommen hatten. Die Wachtmeister ermahnten mehrfach zur Ruhe. Als die Richter und Schöffen den Saal betraten, standen die Prozessbeteiligten und die Zuschauer auf.

»Die Sitzung der 14. Großen Strafkammer ist eröffnet«, sagte der Vorsitzende. »Setzen Sie sich bitte.«

Der Vorsitzende stellte die Anwesenheit der Prozessbeteiligten fest. Dann fragte er Eschburg nach seinem Namen, seinem Geburtsdatum und seiner letzten Wohnanschrift.

»Wenn es keine Anträge gibt, darf ich die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft bitten, die Anklage zu verlesen«, sagte der Vorsitzende.

Wie fast immer in Schwurgerichtsverfahren war die Anklage kurz. Eschburg solle seine Halbschwester entführt und getötet haben. Ihre Leiche sei nicht aufgefunden worden. Mordmerkmale seien angesichts der besonderen Umstände nicht festzustellen.

Staatsanwältin Landau trug eine weiße Bluse und ein weißes Halstuch unter ihrer Robe. Sie ist eine hübsche Frau, dachte Biegler. Und dann ärgerte er sich über den ganz unpassenden Gedanken.

Der Vorsitzende erklärte, dass die Kammer die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen habe. Dann wandte er sich an Eschburg. Er belehrte ihn über sein Recht zu schweigen. Bis jetzt war alles Routine, die Verhandlung lief ab wie in anderen Verfahren auch.

»Nun haben wir hier eine außergewöhnliche Situation«, sagte der Vorsitzende. »Grundsätzlich ist es das Recht des Angeklagten, sich sofort zur Anklage zu äußern. In diesem Verfahren steht allerdings im Raum, dass dem Angeklagten vor seinem Geständnis von einem Polizeibeamten Folter angedroht wurde. Sollte sich das als wahr herausstellen, wäre sein Geständnis nicht verwertbar. Der Angeklagte könnte sich dann erneut entscheiden, wie er sich verhalten möchte – er könnte schweigen oder aussagen. Die Kammer hat sich daher entschlossen, vor einer eventuellen Aussage des Angeklagten den Polizisten zu hören. Sind die Prozessbeteiligten mit diesem Vorgehen einverstanden oder gibt es Widerspruch?«

Biegler und Landau nickten. Im Zuschauerraum wurde es bei der Erwähnung der Folter unruhig. Die Journalisten hatten Notizblöcke auf ihren Knien und schrieben mit.

Der Polizist, der Eschburg vernommen hatte, trug Anzug und Krawatte. Der Vorsitzende stellte ihm die üblichen Fragen, wie alt er sei, wo er wohne, ob er mit dem Angeklagten verwandt sei. Der Polizist antwortete schnell und routiniert. Er war es gewohnt, vor Gericht auszusagen. Der Vorsitzende belehrte den Polizisten, dass er die Wahrheit sagen müsse. Der Polizist nickte.

»Ich werde nun den Vermerk von Staatsanwältin Landau inhaltlich bekannt geben, er befindet sich auf Blatt 105 im vierten Band der Akten.« Der Vorsitzende wartete, bis die Protokollführerin das aufgeschrieben hatte. Dann sagte er: »Nach diesem Vermerk sollen Sie den Angeklagten in einer Vernehmung bedroht haben. Sie sollen gesagt haben, er sei ein Schwein und ein Vergewaltiger. Sie sollen ihm angedroht haben, ihn zu foltern. Der Angeklagte habe daraufhin ein Verbrechen gestanden. Er habe gesagt, er habe die junge Frau getötet und ihre Leiche verschwinden lassen. Das Geständnis sei nicht vollständig, weil die Staatsanwältin die Vernehmung unterbrochen habe. So weit der Vermerk.«

Der Vorsitzende lehnte sich ein wenig vor und sah den Polizisten direkt an.

»Herr Zeuge, ich möchte von Ihnen wissen, wie sich diese Vernehmung abgespielt hat. Bevor Sie antworten, muss ich Sie jedoch darauf hinweisen, dass Sie die Antwort auf solche Fragen verweigern dürfen, mit deren Beantwortung Sie sich selbst der Gefahr der Strafverfolgung aussetzen können. In diesem Fall dürfen Sie schweigen. Aber wenn Sie etwas sagen, muss es der Wahrheit entsprechen.«

Der Vorsitzende drehte sich zu der Protokollführerin und diktierte: »Belehrt nach § 55 StPO.« Dann wandte er sich wieder an den Polizisten.

»Ich bin auch der Ansicht, dass Sie hier sogar auf jede Frage zu der Vernehmung schweigen dürfen. Sie könnten sich der Nötigung, der Körperverletzung und wegen anderer Delikte strafbar gemacht haben. Deshalb müssten Sie noch nicht einmal sagen, dass Sie den Angeklagten vernommen haben.«

»Das Recht schützt Sie«, sagte Biegler laut.

»Bitte, Herr Verteidiger, lassen Sie das«, sagte der Vorsitzende. Er wandte sich wieder an den Polizisten. »Frau Staatsanwältin Landau hat dem Gericht mitgeteilt, dass ein Ermittlungsverfahren gegen Sie eingeleitet wurde. Sie können einen Anwalt Ihrer Wahl auch zu dieser Vernehmung als Zeugenbeistand hinzuziehen. Haben Sie das alles genau verstanden?«

Der Polizist nickte.

»Nun, wie wollen Sie es halten?«, fragte der Vorsitzende.

»Ich werde mich nicht äußern«, sagte der Polizist. Seine Stimme war fest.

Staatsanwältin Landau sah von den Akten auf.

Natürlich hat er sich beraten lassen, dachte Biegler. Es gab in einer solchen Situation nur zwei Strategien: leugnen oder schweigen. Leugnen war nicht mehr möglich.

»Dann habe ich keine Fragen an den Zeugen«, sagte der Vorsitzende. »Hat einer der anderen Prozessbeteiligten eine Frage an den Zeugen oder kann er entlassen werden?«

Staatsanwältin Landau schüttelte den Kopf.

»Ich habe ein paar Fragen an den Zeugen«, sagte Biegler. Die Zuschauer wurden wieder unruhig.

»Ich bitte um Ruhe«, sagte der Vorsitzende. Er wandte sich an Biegler. Er klang ungeduldig, fast zynisch. »Natürlich, Herr Verteidiger, ich hätte mir das auch nicht anders vorstellen können. Also bitte.«

Biegler ging nicht auf den Vorwurf ein. Er hatte das Mandat übernommen, um diese eine Sache zu klären. Er musste es wenigstens versuchen. »Wie lange sind Sie schon Polizeibeamter?«, fragte er.

»Seit 36 Jahren«, sagte der Polizist.

»Und seit wann sind Sie bei der Mordkommission?«

»Seit zwölf Jahren.«

»In wie vielen Tötungsverbrechen haben Sie bisher ermittelt?« Biegler hatte den Polizisten in vielen Verfahren als Zeuge erlebt. Er kannte seine Arbeit.

»Das weiß ich nicht mehr, es waren sehr viele«, sagte der Polizist.

»In der ganzen Zeit, in der Sie jetzt Polizist sind, also in den vergangenen 36 Jahren: Wie oft wurden Ermittlungsverfahren gegen Sie geführt?«

»Noch nie.«

»Es gab also keine Verfahren gegen Sie wegen Bedrohung, Nötigung, Körperverletzung oder einer anderen Straftat?«

»Es ist das erste Mal.« Der Polizist sah kurz zu Landau. Sie reagierte nicht.

»Man kann also sagen, dass Sie ein sehr erfahrener Polizist sind, der die Gesetze kennt und noch nie mit ihnen in Konflikt gekommen ist.«

»Das kann man so sagen.«

»Sie haben kurz vor dieser Hauptverhandlung einer Boulevardzeitung ein Interview gegeben. Warten Sie bitte.« Biegler blätterte in der Akte, die auf seinem Tisch lag. »Hier habe ich es.« Er hielt ein Zeitungsblatt hoch.

»Ich kenne das Interview nicht«, sagte Landau.

»Dann besorgen Sie es sich«, sagte Biegler, »und unterbrechen Sie mich nicht mehr.«

Er wandte sich wieder an den Polizisten. »In diesem Interview sollen Sie Folgendes gesagt haben – ich zitiere: ›Stellen Sie sich vor, ein Terrorist versteckt irgendwo in Berlin eine Atombombe. Sie geht in einer Stunde hoch. Wir haben den Terroristen gefangen, aber wir wissen nicht, wo seine Bombe ist. Ich muss nun entscheiden. Soll ich ihn foltern und vier Millionen Menschen retten? Oder soll ich meine Hände in den Schoß legen und nichts tun?‹ Trifft es zu, dass Sie das so gesagt haben?«

»Dazu möchte ich nichts sagen.«

»Wieso? Weil Sie sich damit selbst belasten könnten?«, fragte Biegler.

»Der Zeuge darf auch darauf die Auskunft verweigern«, sagte Landau.

»Wirklich?«, fragte Biegler und sah den Polizisten weiter an. »Wollen Sie tatsächlich nicht mehr dazu stehen, was Sie einer Zeitung mit Millionenauflage gesagt haben? Aus Angst vor Strafverfolgung? So wie die Verbrecher, die Sie sonst verfolgen?«

»Herr Vorsitzender, ich beantrage, dem Verteidiger das Wort zu entziehen. Er bedrängt den Zeugen«, sagte Landau.

»Der Zeuge ist erfahren genug, um sich selbst zu entscheiden«, sagte der Vorsitzende. »Ich habe ihn belehrt. Er weiß, dass er nicht antworten muss.«

Biegler sah den Polizisten immer noch an. Der Polizist drehte sich auf dem Stuhl zu ihm. Na also, ein erster Schritt, dachte Biegler.

»Noch einmal: Wollen Sie uns nicht etwas zu diesem Interview sagen? Es geht noch gar nicht um die Vernehmung des Angeklagten. Nur um Ihre Einstellung.«

Der Polizist öffnete die beiden Knöpfe seiner Anzugjacke. »Na gut«, sagte er. Er atmete laut aus. »Ich würde die Aussage aus Terroristen herausholen. Wenn es nicht anders geht, auch mit Folter. Meine Aufgabe ist es, die Bürger zu schützen. Dazu stehe ich.«

Ein Zuhörer applaudierte. Der Vorsitzende sah ihn an. »Wenn sich das noch einmal wiederholt, lasse ich Sie aus dem Saal entfernen«, sagte er.

»Und was«, fuhr Biegler fort, »würden Sie machen, wenn Ihr Gefangener trotzdem nichts sagt? Er ist ja ein Terrorist, er wurde ausgebildet, Folter zu überstehen. Er lacht Sie aus. Nun wissen Sie aber, dass der Mann eine vierzehnjährige Tochter hat. Sie sind sich sicher, dass er reden wird, wenn Sie die Tochter vor seinen Augen foltern. Machen Sie auch das?«

»Nein, ich würde das nicht tun. Die Tochter ist unschuldig.«

»Das sind die anderen Menschen in dieser Stadt doch auch«, sagte Biegler. »Sie könnten vier Millionen dieser unschuldigen Leben retten. Ein wenig Folter gegen die Rettung von ganz Berlin. Das ist doch ein fairer Deal.«

»Ich …«

»Sie denken also: Das Mädchen kann nichts für seinen Vater. Sie ist unschuldig, ich darf sie nicht foltern.«

»Richtig«, sagte der Polizist.

»Unschuldige darf man also nie foltern?«

»So ist es.«

»Aber was ist mit Ihrem Terroristen? Woher wissen Sie, dass er der Schuldige ist? Einfach so? Aufgrund von Indizien? Ihrem Gefühl nach?«, sagte Biegler.

»Es war nur ein Beispiel«, sagte der Polizist.

»Ein Beispiel für Jurastudenten im ersten Semester. Ich frage Sie aber als erfahrenen Polizeibeamten. Glauben Sie denn, es kommt ein Terrorist auf die Polizeiwache und sagt: Hallo, wie geht’s euch? Ich habe übrigens gerade eine kleine Atombombe in Berlin versteckt, sie geht in einer Stunde hoch, aber ich sage euch nicht, wo.«

»Unsinn«, sagte der Polizist. »In meinem Beispiel hätten wir den Terroristen über Monate beobachtet. Wir würden wissen, dass er ein Terrorist ist, dass er schuldig ist.«

»Schuldfeststellung durch Beobachtung, ich verstehe. Und woher wissen Sie, dass er eine Bombe versteckt hat? Haben Sie das auch beobachtet? Und falls ja, wieso haben Sie ihn dann nicht festgenommen? Wieso haben Sie sein Handy nicht überwacht? Wieso kennen Sie nicht seine Kontaktleute? Wieso haben Sie seinen Laptop nicht ausgewertet? Anders gesagt: Ist es nicht immer so, dass es viel mehr gibt als nur diese eine nackte Information: Ein Terrorist hat eine tickende Bombe versteckt?«, fragte Biegler.

»Das Beispiel sollte nur klarmachen, in welcher Ausnahmesituation wir sein können«, sagte der Polizist. »Ich wollte damit sagen, dass es notwendig sein kann, zu härteren Mitteln zu greifen.«

»Aber Sie würden zugeben, dass es einen solchen Fall in der Wirklichkeit nicht gibt.«

»Wie gesagt: Es ist nur ein Beispiel«, sagte der Polizist.

»Gut. Wenn ich Sie richtig verstehe, dann würden Sie den Terroristen foltern, um die Wahrheit von ihm zu erfahren.«

»Um die Bombe entschärfen zu können«, sagte der Polizist.

»Glauben Sie, dass alle Hexen mit dem Teufel geschlafen haben?«, fragte Biegler.

»Wie bitte?«

»Ich meine, ist Ihnen bewusst, dass die Folter auch deshalb abgeschafft wurde, weil Gefangene unter Schmerzen alles gestehen? Sie sagen nicht die Wahrheit, sondern das, was der Folterknecht hören will. Während der Inquisition haben alle Hexen mit dem Teufel geschlafen – das haben sie jedenfalls behauptet, wenn sie lange genug gequält wurden. Selbst der Papst hat irgendwann eingesehen, dass es nichts bringt. In Ihrem Beispiel der tickenden Bombe können Sie doch gar nicht rechtzeitig überprüfen, ob der Terrorist die Wahrheit sagt.«

»Vielleicht nicht. Aber vielleicht kann ich die Bombe finden und entschärfen«, sagte der Polizist.

»Sie foltern also, weil es ›vielleicht‹ hilft?«

»Ich … ich muss es tun, um die Menschen zu retten.«

»Ich verstehe«, sagte Biegler.

»In meinem Beispiel wissen wir ja, dass er die Bombe versteckt hat«, sagte der Polizist.

»Das ist ja das Schöne an Ihrem Beispiel. Sie wissen alles. Auch dass er unter Folter die Wahrheit sagen wird … Sie haben gesagt, Ihnen seien als erfahrenem Polizisten die Gesetze vertraut.«

»Ja.«

»Auch unsere Verfassung?«

»Natürlich«, sagte der Polizist.

»Sie wissen also, dass jeder – auch ein Entführer – unter dem Schutz dieser Verfassung steht. Ist Ihnen klar, dass Sie seine Würde durch die Folter verletzen?«

»Und was ist mit der Würde des Opfers?«, fragte der Polizist.

»Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Biegler. »Sie treffen eine Entscheidung. Sie sagen sich zum Beispiel, ein entführtes Kind ist unschuldig, der Entführer ist schuldig. Er hat seine Würde verspielt und ich darf ihn foltern.«

»Zur Rettung des Kindes. Es wäre eine ›Rettungsfolter‹«, sagte der Polizist.

»›Rettungsfolter‹? Was für ein hübscher Begriff«, sagte Biegler. »Das ist dann einfach eine Art härtere Vernehmung für ein edles Ziel?«

»Ja.«

»Vielleicht unter ärztlicher Aufsicht?«

»Kann ich mir vorstellen, ja«, sagte der Polizist.

»Lange nachdem die Folter in diesem Land abgeschafft wurde, haben die Nazis sie wieder eingeführt. Sie haben sich auch einen besonderen Ausdruck dafür ausgedacht. Kennen Sie ihn?«

»Nein.«

»Sie nannten es ›verschärfte Vernehmungsmethoden‹. Klingt doch fast so gut wie ›Rettungsfolter‹, finden Sie nicht? Aber kommen wir noch einmal zurück zu unserem Beispiel. Wonach treffen Sie Ihre Entscheidung?«

»Welche Entscheidung?«, fragte der Polizist.

»Sie müssen sich doch entscheiden, wen Sie foltern«, sagte Biegler.

»Das sagte ich doch schon: Das Kind ist unschuldig, der Entführer schuldig«, sagte der Polizist.

»Sie foltern also jeden Schuldigen?«

»Nein, natürlich nur in extremen Ausnahmen«, sagte der Polizist.

»Stellen Sie sich vor, der Täter sagt Ihnen: Ja, ich habe das Mädchen entführt. Aber sie ist in einem hübschen Haus, sie wird mit Essen versorgt, es ist warm dort und sie hat genügend Bücher und Spiele. Was machen Sie dann? Foltern Sie?«

»Ich … ich …«

»Also«, sagte Biegler, »wo ziehen Sie die Grenze? Wann dürfen Sie foltern? Nur wenn ein zehnjähriges Mädchen entführt wird? Oder dürfen Sie auch foltern, wenn das Opfer ein fünfzigjähriger Obdachloser am Rande der Gesellschaft ist? Wenn der Bundespräsident entführt wird, tun Sie es. Aber wenn ein bekannter Vergewaltiger das Opfer ist, dann lieber doch nicht? Wer bestimmt in Ihrer Welt, wann gefoltert werden darf? Sie selbst? Als eine Art Richter, Staatsanwalt, Verteidiger und Vollstrecker in einer Person?«

»Jetzt reicht es«, sagte Staatsanwältin Landau.

»Ich verbitte mir das«, rief Biegler. »Das ist jetzt schon das zweite Mal. Wenn Sie wollen, dass mir das Gericht das Wort entzieht, stellen Sie einen Antrag. Wir sind in einer Hauptverhandlung und nicht in einer Talkshow, wo jeder mal was sagen darf. Ich habe jetzt das Fragerecht, und Sie schweigen.« Er beruhigte sich wieder und sagte leiser: »Lassen Sie uns doch bitte versuchen, den Zeugen zu verstehen.«

»Ich lasse die Frage zu. Mich interessiert das auch«, sagte der Vorsitzende.

Der Polizist dachte kurz nach. Dann sagte er: »Ich bin kein Jurist.«

»Es ist alles andere als eine juristische Frage«, sagte Biegler.

»Ich würde einen Richter fragen«, sagte der Polizist.

»Das ist immer eine gute Antwort. Aber wieso haben Sie dann nicht in unserem Fall einen Ermittlungsrichter gefragt, ob Sie foltern dürfen?«

»Es hätte viel zu lange gedauert«, sagte er.

»Blödsinn. So einen Beschluss hätten Sie innerhalb von zehn Minuten bekommen«, sagte Biegler. »Ich sage Ihnen, weshalb Sie keinen Richter gefragt haben: Sie wussten, wie er entscheiden würde. Er hätte Sie aus dem Zimmer geworfen. Nein, Sie selbst wollten diese Entscheidung treffen, ganz allein, für sich. Sie wollten selbst der Richter über den Angeklagten sein.«

Der Polizist wurde rot. Er sagte laut: »Ja? Wollte ich das? Sie sitzen hier in Ihrem warmen Gerichtssaal. Sie können es sich leisten, so fein von der Würde des Menschen zu reden. Aber wir sind da draußen. Wir sollen Ihr Leben und das Leben Ihrer Familie beschützen. Wenn es gefährlich wird, dann rufen Sie nach uns. Dann sollen wir alles tun. Aber hier besitzen Sie die Frechheit, mich mit den Nazis zu vergleichen. Denken Sie doch einmal nach: Was wäre, wenn ich das Leben der jungen Frau hätte retten können?« Er starrte Biegler mit offenem Mund an.

»Er ist ein anständiger Mann«, dachte Biegler. »Er macht alles falsch, aber ich würde ihm meine Familie anvertrauen.« Biegler wartete. Es wurde still im Gerichtssaal, selbst der Wachtmeister hatte aufgehört, auf seinem Stuhl zu wippen. Dann sagte Biegler leise: »Ich bin Anwalt, ich beantworte keine Fragen, ich stelle sie. So sieht das unsere Prozessordnung vor. Aber ich kann eine Ausnahme machen, wenn das Gericht es erlaubt.«

Der Vorsitzende nickte.

»Wenn Sie die junge Frau gerettet hätten, wären Sie ein Held«, sagte Biegler.

»Ein Held?« Der Polizist klang verunsichert.

Biegler sprach leise weiter: »Ja, ein tragischer Held. Sie haben sich gegen unsere Rechtsordnung gestellt, gegen alles, woran ich glaube. Sie haben die Würde eines Menschen verletzt. Diese Würde kann ein Mensch nicht erwerben und er kann sie nicht verlieren. Der Mensch wird durch Ihre Folter zu einem bloßen Objekt gemacht, er dient nur noch dazu, etwas aus ihm herauszubekommen. Deshalb müssten Sie – wenn es nach mir ginge – für das, was Sie getan haben, hart bestraft werden. Ich würde Ihnen die Pension entziehen und Sie aus dem Dienst entlassen. Aber ich würde Sie bewundern, weil Sie Ihre Zukunft für das Leben der jungen Frau geopfert haben. Die Folgen für Sie müssten fürchterlich sein. Helden werden bewundert. Aber sie gehen unter.«

»Und wie soll ich sonst ein Geständnis bekommen? Was ist die beste Vernehmungsmethode?« Der Polizist sprach leise, er starrte vor sich auf den Zeugentisch.

»Höflichkeit«, sagte Biegler. »Sie können jeden Kriegsgefangenen fragen. Er spricht nie über die körperlichen Qualen. Er spricht von der Einsamkeit, der Verlassenheit. Er will jemanden, der mit ihm spricht – als Mensch.«

»Und wenn ich keine Antworten bekomme?«, fragte der Polizist.

»Dann bekommen Sie keine«, sagte Biegler.

Der Polizist hob den Kopf und sah Biegler an. »Vielleicht haben Sie recht«, sagte er, »ich würde es trotzdem wieder tun.«

Erneut wurde es laut im Gerichtssaal. Manche Fragen werden besser nie gestellt, dachte Biegler.

Der Polizist fasste in sein Hemd und lockerte die Krawatte. Biegler sah, dass sein Kragen feucht vom Schweiß geworden war.

»Gibt es noch Fragen an den Zeugen? Nein? Dann sind Sie mit Dank entlassen«, sagte der Vorsitzende.

Der Polizeibeamte stand auf, schüttelte den Kopf und verließ den Gerichtssaal.

»So, wir müssen jetzt über die Frage der Unverwertbarkeit des Geständnisses beraten«, sagte der Vorsitzende. »Wir werden Zeit dafür brauchen. Wir sehen uns am Donnerstag um neun Uhr wieder, die Prozessbeteiligten sind alle bereits geladen. Die Hauptverhandlung ist unterbrochen.«

»Danke«, sagte Eschburg zu Biegler, als sie alleine waren.

»Es ist noch nicht zu Ende. In der nächsten Verhandlung wird der Vorsitzende Sie fragen, ob Sie sich äußern wollen. Wir sollten das heute Nachmittag in der Haftanstalt besprechen. Aber vor allem müssen wir jetzt Ihre Schwester laden«, sagte Biegler.

»Nein«, sagte Eschburg und schüttelte den Kopf. Er gab Biegler einen zusammengefalteten Zettel. »Bitte gehen Sie dorthin. Sie werden einen Umschlag bekommen. Sehen Sie sich das alles an, und dann kommen Sie bitte wieder zu mir. Nur das wird meine Äußerung in diesem Prozess sein. Meine Schwester brauchen wir nicht.«

Biegler nahm den Zettel und faltete ihn auseinander. »Das ist die Adresse eines Notars«, sagte er.

Eschburg nickte.

»Noch ein Auftrag für den Laufburschen?«, fragte Biegler.

Eschburg lächelte.

»Übertreiben Sie es nicht, Eschburg«, sagte Biegler. Er verließ den Saal. Auf dem Flur beantwortete er die Fragen der Journalisten. Aber die ganze Zeit über dachte er nur an den Zettel in seiner Tasche.