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Biegler wachte vom Motor eines Lieferwagens auf. Er hatte nachts das Fenster wieder geöffnet, jetzt roch es im Zimmer nach Diesel. Er sah auf seine Uhr, es war kurz vor sechs. Er versuchte wieder einzuschlafen. Ein paar Minuten später läuteten die Glocken der Kirche zur Frühmesse. Biegler stöhnte und setzte sich auf. Er nahm den Mantel vom Haken, zog ihn über den Pyjama und ging in seinen Hausschuhen nach draußen.
Es war kühl. Er zündete sich einen Zigarillo an. Um diese Zeit saß Elly schon in ihrem Wintergarten und frühstückte. Sie würde um acht in ihre Praxis gehen. Er rief sie an.
»Mir ist langweilig«, sagte er.
»Gefällt es dir gar nicht?«
»Ein Zauberberg für Oberstudienräte.«
»Warst du wandern?«
»Jeden Tag. Ich bin schon völlig erholt. Eigentlich könnte ich zurückfahren.«
»Du solltest noch dort bleiben, Biegler«, sagte Elly. Sie sagte es sanft. Elly nannte ihn immer nur »Biegler«.
»Weißt du, das Essen hier ist furchtbar. Ich habe dauernd Magenschmerzen«, sagte Biegler.
»Mindestens noch drei Wochen«, sagte sie.
Er kannte das, sie konnte in ihrer Sanftheit streng sein. Er zog an seinem Zigarillo und musste husten.
»Und du solltest weniger rauchen.«
Sie verabschiedeten sich. Biegler steckte das Telefon in den Mantel. Er wäre jetzt gerne in seinem Café am Savignyplatz. Er dachte daran, wie es wäre, dort Zeitung zu lesen, ein Croissant zu essen und den Leuten auf der Straße zuzusehen.
Elly sprach in letzter Zeit öfter von einer Weltreise. Die Idee, andere Länder zu sehen, gefiel ihm, aber sobald er dort war, konnte er es nicht aushalten. Es war jedes Mal etwas anderes: die Betten, sein Magen, die Hitze, die Insekten, die Transportmittel. Er weigerte sich auch, ins Meer zu gehen, er war der Ansicht, der Mensch gehöre aufs Land.
Biegler rauchte noch ein paar Züge. Er bekam Angst, nicht wieder in einen Gerichtssaal zu dürfen. Er legte den Zigarillo in einen Aschenbecher, in dem sich das Regenwasser der Nacht gesammelt hatte.
Nach dem Frühstück – Biegler trank gerade den zweiten Kaffee auf der Terrasse – klingelte sein Telefon. Er beachtete es nicht, weil er den Ton nicht zuordnen konnte. Erst als die anderen Gäste ihn ansahen und ein Mann die Augenbrauen hochzog, begriff er es. Es war seine Sekretärin. Bieglers Büroleiter hatte sie eingestellt, er hatte gesagt, sie sei sehr tüchtig. Biegler hatte sie nur kurz an ihrem ersten Arbeitstag gesehen, danach war er ins Krankenhaus gekommen. Sie war jung, hübsch und intelligent.
»Guten Morgen, Herr Biegler«, sagte sie. »Wie ist Ihr Urlaub?«
Eine angenehme Stimme hat sie auch noch, dachte Biegler. Jemand wird sich in sie verlieben und sie heiraten, sie wird schwanger und ich muss alles bezahlen.
»Neblig«, sagte er.
»Erholen Sie sich?«, fragte sie.
»Niemand erholt sich in den Ferien«, sagte Biegler. »Warum rufen Sie an?«
»Einen Moment, ich verbinde.«
Einer der jungen Anwälte aus seinem Büro kam ans Telefon. »Bitte entschuldigen Sie, Herr Biegler, dass wir Sie stören. Aber wir können das nicht ohne Sie entscheiden.«
»Was entscheiden?«, fragte Biegler.
»Wir haben heute Morgen einen Anruf aus der Haftanstalt bekommen. Ein Gefangener möchte, dass Sie seine Verteidigung übernehmen. Die Lebensgefährtin war auch schon hier, die Finanzierung ist gesichert.«
»Was wird ihm vorgeworfen?«
»Er hat eine Frau umgebracht. Es ist diese große Pressesache, fast jeden Tag wird über den Fall berichtet. Ist etwa fünf Monate her.«
»Soll«, sagte Biegler.
»Wie bitte?«
»Er soll eine Frau umgebracht haben. Solange er nicht verurteilt ist: soll. Himmel noch mal, was lernt ihr eigentlich?«
»Entschuldigen Sie bitte.«
»Ist er schon angeklagt?«
»Seit einem Monat. Das Schwurgericht will jetzt die Termine für die Hauptverhandlung festsetzen.«
»Welche Kammer?«
»Die Vierzehnte.«
»Staatsanwaltschaft?«
»Monika Landau.«
»Kenne ich die?«
»Sie ist seit sechs Jahren in der Abteilung für Kapitalverbrechen. Sie kommt von den Betäubungsmitteln, davor Raub. Sie gilt als fair. Wir hatten sie aber noch nicht in einem Prozess.«
»So eine große Dunkelhaarige, Anfang vierzig?«
»Ja, genau.«
»Ich erinnere mich«, sagte Biegler. »Wer macht das psychiatrische Gutachten?«
»Bisher niemand. Der Mandant hat eine Begutachtung abgelehnt.«
»Klingt interessant«, sagte Biegler, »aber ich darf hier nicht weg.«
»Das haben wir uns auch gedacht. Aber dann haben wir diesen Vermerk in den Akten gefunden und beschlossen, Sie anzurufen.«
»Was für einen Vermerk?«
»Der Mandant hatte bisher einen Pflichtverteidiger. Wir wissen nicht, ob er den Vermerk nicht gesehen hat oder ob es ihm egal war. Jedenfalls ist davon noch nichts in der Presse.«
»Nochmals: Was für ein Vermerk?«
In diesem Moment fuhr der Bauer mit dem defekten Traktor an der Terrasse vorbei. Biegler presste das Telefon an sein Ohr, um den Anwalt zu verstehen. Er schrie ihn an, er solle lauter sprechen. Dann sagte er: »Faxen Sie mir den Vermerk nicht hierher, das ist mir zu unsicher. Ich fahre sofort los und bin heute Abend im Bayerischen Hof in München, schicken Sie ihn per Boten dorthin. Beantragen Sie Haftprüfung. Und dann suchen Sie sich jemanden im Büro aus, der übermorgen den Aktenvortrag für mich hält. Ich müsste gegen 14 Uhr in der Kanzlei sein.«
»Ja, mache ich alles.«
»Ich melde mich«, sagte Biegler und legte ohne Verabschiedung auf.
Der Wirt berechnete Biegler sämtliche Tage, die er gebucht hatte. Das Leitungswasser auf der Rechnung hieß »Zirmerhofwasser« und kostete zwei Euro pro Krug. Biegler ärgerte sich furchtbar, er zitierte Montaignes Reiseberichte über Gastwirte, er sagte, schon damals seien sie Halsabschneider gewesen.
Er war froh, als er in seinem Wagen saß. Auf dem halben Weg ins Tal hielt er an. Er stieg aus und ging auf einem Schotterweg durch die Apfelgärten. Nach einiger Zeit zog er sein Jackett aus und trug es über dem Arm. Er riss einen Apfel von einem Zweig und aß ihn, mit einem Taschentuch wischte er über seinen Nacken. Zwei Stunden später war er vom Wandern müde, er setzte sich auf einen Stein. Es war windstill, seine Schuhe waren staubig. Biegler wurde ganz ruhig. Er dachte an seinen sechzigsten Geburtstag letztes Jahr. Ein Bekannter hatte ihm ein Rohr aus Stahl geschenkt, er hatte gesagt, es könne sogar einen Atomkrieg überstehen. »Legen Sie die Sachen rein, die Sie überdauern sollen, und vergraben Sie es in Ihrem Garten.« Das Rohr hatte eine Woche auf Bieglers Schreibtisch gelegen, dann hatte er es weggeschmissen.
Auf der Fahrt über den Brenner hörte er Jazz. Bill Evans: »Explorations«, Dave Brubeck: »Time Out«, Herbie Hancock: »The New Standard«. Mit 17 hatte er selbst Musiker werden wollen. Er war damals in Clubs aufgetreten, er hatte Jazztrompete gespielt. Die Leute mochten seinen runden, weichen Ton. Aber dann hatte er Albert Mangelsdorff mit seiner riesigen Posaune gehört. Mangelsdorff hatte gleichzeitig geblasen und in das Mundstück gesungen. Biegler war sofort klar gewesen, dass er selbst nie wieder spielen würde.
Er schob den Anruf bei Elly hinaus, bis er über die italienisch-österreichische Grenze war. Natürlich schimpfte sie. »Du bist nicht zu retten, Biegler«, sagte sie.
Drei Stunden später parkte Biegler vor dem Bayerischen Hof in München. »Zivilisation«, sagte er und meinte Zimmerservice. Er gab dem Concierge zu viel Trinkgeld.
Obwohl Biegler sonst nur duschte, lag er fast eine Stunde in der Badewanne. Als der Etagenkellner den Briefumschlag in seinem Zimmer abgab, hatte er noch den Bademantel an. Biegler suchte seine Lesebrille, setzte sich an den Schreibtisch und las den Vermerk. Er legte sich auf das Sofa. Er wusste, wie krank er war, aber er musste zurück. Sie sind zu weit gegangen, dachte er.