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Das Leben im Kloster war seit Jahrhunderten auf das Lesen und Schreiben ausgerichtet. Die Stiftsbibliothek war ein hoher Saal mit hellem Eichenboden, hier standen über 1400 Handschriften und über 200 000 gedruckte Bücher, die meisten in Leder gebunden. Die Mönche hatten im 11. Jahrhundert eine Schreibschule gegründet, im 17. Jahrhundert kam eine Druckerei dazu. Für die Schüler gab es eine zweite Bibliothek, einen Raum mit dunklen Holztischen und Messingleuchten. Unter den Kindern gab es Gerüchte über geheime Räume im Keller des Klosters mit verbotenen Büchern: Aufzeichnungen über Folter, über Hexenprozesse, Anleitungen zur Zauberei. Die Patres förderten das Lesen nicht, sie wussten, dass es sich für manche Kinder von alleine ergeben und für die anderen uninteressant bleiben würde.

Sebastian begann in der Abgeschiedenheit des Klosters zu lesen. Nach einiger Zeit störten ihn die Regeln im Internat nicht mehr, er gewöhnte sich an Früh- und Abendmessen, an den Unterricht, den Sport, die Lernzeiten. Es war dieser immer gleiche Rhythmus der klösterlichen Tage, der ihm die Ruhe gab, in den Büchern zu leben.

In den ersten Wochen vermisste er das Haus am See. Zwischen den Ferien durften die Kinder nicht nach Hause fahren, Telefonate mussten umständlich angemeldet werden. An jedem zweiten Sonntag rief Sebastian zu Hause an. Er stand dann in einer der kleinen Holzkabinen in der Eingangshalle des Klosters und der Pater an der Pforte stellte das Gespräch durch.

An einem der Sonntage war seine Mutter am Apparat. Sebastian wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Der Vater sei krank, sagte sie, aber es sei nicht schlimm. Als Sebastian auflegte, zitterten seine Knie. Plötzlich war er überzeugt, dass nur er den Vater retten könne. Er müsste dazu alleine durch die Viamalaschlucht wandern. Sebastian hatte Angst vor der Schlucht, vor dem Dunklen dort, den engen Wegen. Auf die Klassenwanderung war er nicht mitgekommen. »Via mala« – der »schlechte Weg«: 300 Meter hohe Felswände, glatt geschliffen und kalt, Steinstufen und Brücken.

Sebastian ging sofort los, er meldete sich nicht ab. Vor dem Internat nahm er den Bus. Erst unterwegs merkte er, dass er nur dünne Halbschuhe trug und keine Jacke mitgenommen hatte. Er war zwölf Jahre alt, er hatte Höhenangst, aber er musste es schaffen. Er ging sehr langsam. Auf den Brücken hielt er sich in der Mitte, er sah nicht in die Tiefe. Unter sich hörte er den Fluss. Er war so bleich, dass er mehrmals von Wanderern gefragt wurde, ob sie ihm helfen könnten. Nach drei Stunden hatte er es geschafft. Er fuhr zurück ins Kloster. Sie hatten ihn gesucht und natürlich verstand der Präfekt die Sache mit dem Vater nicht. Sebastian bekam eine Ohrfeige. Es machte ihm nichts: Er hatte den Vater gerettet.

Die Schule lag fast 2000 Meter hoch, die Winter begannen früh und dauerten lange. Im Internat wurde erst spät geheizt, die hohen Räume wurden nie richtig warm und auf den langen Fluren zog es. Sebastian freute sich immer über die ersten Tage im Schnee. Die Schlitten wurden aus den Kellern geholt und am Wochenende fuhren die Kinder Ski. Morgens lag eine dünne Schicht Raureif auf den Bettdecken und im Waschsaal kamen aus den Hähnen winzige Eiskristalle.

Jedes Jahr wurde Sebastian zu Beginn des Winters krank, er bekam eine Mittelohrentzündung und Fieber. In der Praxis des Arztes aus dem Dorf hing ein großes Schaubild von einem Ohr. Der Arzt zeigte Sebastian darauf die Haut, die Knorpel, Knochen und Nerven. Seine Haut sei vielleicht zu dünn, sagte der Arzt. Auf seinem Tisch lagen chromglänzende Instrumente, sie waren kalt und taten weh in dem kranken Ohr. Sebastian dachte an die Köchin zu Hause, die ihm die Umschläge mit fein geschnittenen Zwiebeln gegen die Schmerzen gemacht hatte. Sie hatte gesagt, von den Zwiebeln müsse man weinen, aber sie könnten auch heilen. Die Köchin hatte an seinem Bett gesessen, sie hatte von Tunesien erzählt, von den Gewürzen auf den Märkten in der Medina, von dem Wüstenluchs, der Ohren hatte, die wie Pinsel aussahen, und von der Hitze des Saharawindes, den sie Chehili nannte.

In den dunklen Monaten im Internat, wenn die Bücher nicht mehr ausreichten, wenn Gärtnerei, Sportplätze und Bänke vom Schnee bedeckt waren, retteten Sebastian die Farben in seinem Kopf.