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Auf der halben Strecke zwischen München und Salzburg, etwas abseits der großen Straßen, liegt das Dorf Eschburg. Von der Burg, die dem Dorf seinen Namen gegeben hatte, gab es oben auf dem Hügel nur noch ein paar Steine. Einer der Eschburgs war im 18. Jahrhundert bayerischer Gesandter in Berlin gewesen, und als er zurückkam, hatte er das neue Haus am See gebaut.
Anfang des 20. Jahrhunderts hatten die Eschburgs das letzte Mal Geld gehabt. Damals besaßen sie eine Papiermühle und eine Spinnerei. 1912 ertrank der erstgeborene Sohn und Erbe beim Untergang der Titanic, worauf man in der Familie später ein wenig stolz war. Er hatte eine Erste-Klasse-Kabine gebucht und war nur mit seinem Hund gereist. Er hatte darauf verzichtet, in ein Rettungsboot zu steigen, vermutlich weil er zu betrunken war.
Sein jüngerer Bruder verkaufte die Unternehmen der Familie, spekulierte und verlor während der Inflation der Zwanzigerjahre den größten Teil des Vermögens. Danach war immer zu wenig Geld da, um das Haus richtig zu renovieren. Der Putz blätterte von den Mauern, die beiden Seitenflügel wurden im Winter nicht geheizt und auf den Dächern wuchs Moos. Im Frühjahr und im Herbst standen auf den Speichern Blecheimer, die den Regen auffingen.
Fast alle Eschburgs waren Jäger und Reisende gewesen und 250 Jahre lang hatten sie die Zimmer des Hauses mit den Dingen gefüllt, die sie mochten. In der Eingangshalle standen drei Schirmständer aus Elefantenfüßen, daneben hingen mittelalterliche Saufedern an der Wand – lange Spieße, die zur Wildschweinjagd benutzt wurden. Zwei ausgestopfte Krokodile lagen ineinander verbissen im oberen Flur, eines hatte ein Glasauge verloren, dem anderen fehlte ein Teil seines Schwanzes. Ein riesiger Braunbär stand im Hauswirtschaftsraum, am Bauch waren ihm fast alle Haare ausgefallen. In der Bibliothek hingen die Schädel von Kudus und Oryxantilopen, auf einem Regal stand zwischen Goethe und Herder der Kopf eines schielenden Gibbons. Neben dem Kamin lagen Trommeln, Naturhörner und Lamellophone aus dem Kongo. Zwei afrikanische Fruchtbarkeitsgötter aus Ebenholz, schwarz und ernst, saßen neben dem Eingang zum Billardzimmer.
In den Fluren hingen Heiligenbilder aus Polen und Russland neben vergrößerten Briefmarken aus Indien und Tuschzeichnungen aus Japan. Es gab chinesische Pferdchen aus Holz, Speerspitzen aus Südamerika, die gelben Fangzähne eines Eisbären, den Kopf eines Schwertfisches, einen Hocker mit den vier Hufen einer Säbelantilope, Straußeneier und hölzerne Truhen aus Indonesien, zu denen die Schlüssel längst verloren gegangen waren. In einem Gästezimmer standen gefälschte Barockmöbel aus Florenz, in einem anderen ein Vitrinentisch mit Broschen, Zigarettenetuis und einer Familienbibel mit silbernem Schloss.
Ganz hinten im Park war ein kleiner Stall mit fünf Pferdeboxen. An den Wänden wuchs Efeu und zwischen den Pflastersteinen im Hof Gras. Die Farbe war von den Fensterläden abgeplatzt, der Rost hatte das Wasser braun werden lassen. In zwei Boxen trocknete Kaminholz, in einer anderen wurden im Winter Pflanzenkübel, Streusalz und Wildfutter aufbewahrt.
Sebastian kam in diesem Haus zur Welt. Eigentlich wollte seine Mutter im Krankenhaus in München entbinden, aber der Wagen hatte zu lange in der Kälte gestanden und sprang nicht an. Während der Vater weiter versuchte, den Wagen zu starten, setzten ihre Wehen ein. Der Apotheker und seine Frau kamen aus dem Dorf, Sebastians Vater wartete auf dem Flur vor ihrem Zimmer. Als der Apotheker ihn zwei Stunden später fragte, ob er die Nabelschnur durchschneiden wolle, brüllte er ihn an, der Anlasser sei doch kaputt. Später entschuldigte er sich dafür, aber im Dorf rätselte man noch lange, was das bedeuten sollte.
Kinder waren in Sebastians Familie noch nie der Mittelpunkt gewesen. Man brachte ihnen bei, wie man das Besteck beim Essen hält, wie ein Handkuss gegeben wird und dass ein Kind möglichst wenig reden sollte. Aber die meiste Zeit kümmerte man sich nicht um sie. Als Sebastian acht Jahre alt wurde, durfte er das erste Mal bei seinen Eltern am Tisch essen.
Sebastian konnte sich nicht vorstellen, jemals woanders zu leben. Wenn er mit seiner Familie in die Ferien fuhr, fühlte er sich fremd in den Hotels. Er war froh, wenn er zurückkam und alles noch da war: die dunklen Dielen auf den Fluren, die heruntergetretene Steintreppe und das weiche Licht am Nachmittag in der schiefen Kapelle.
In Sebastians Leben hatte es schon immer zwei Welten gegeben. Die Netzhaut seiner Augen nahm elektromagnetische Wellen zwischen 380 und 780 Nanometer wahr, sein Gehirn übersetzte sie in 200 Farbtöne, 500 Helligkeiten und 20 verschiedene Weißanteile. Er sah, was andere Menschen sehen. Aber in ihm waren die Farben anders. Sie hatten keine Namen, weil es nicht genug Worte für sie gab. Die Hände des Kindermädchens waren aus Cyan und Amber, seine Haare leuchteten für ihn violett mit einer Spur Ocker, die Haut des Vaters war eine blasse, grünblaue Fläche. Nur seine Mutter hatte keine Farbe. Lange Zeit glaubte Sebastian, sie bestehe aus Wasser, und erst wenn er in ihr Zimmer komme, nehme sie die Gestalt an, die alle kannten. Er bewunderte die Schnelligkeit, mit der ihr jedes Mal die Verwandlung gelang.
Als er lesen lernte, bekamen auch die Buchstaben Farben. Das »A« war so rot wie die Strickjacke der Lehrerin in der Dorfschule oder wie die Fahne der Schweiz, die er letzten Winter auf der Berghütte gesehen hatte, ein dickes, kräftiges, unmissverständliches Rot. Das »B« war viel leichter, es war gelb und roch wie die Rapsfelder auf dem Weg zur Schule. Es schwebte im Raum über dem hellgrünen »C«, höher und freundlicher als das dunkelgrüne »K«.
Da alle Dinge neben der sichtbaren noch die andere, die unsichtbare Farbe hatten, begann Sebastians Gehirn diese Welt zu ordnen. Nach und nach entstand eine Landkarte aus Farben, sie hatte Tausende Straßen, Plätze und Gassen, und jedes Jahr kam eine neue Ebene dazu. Er konnte sich in dieser Karte bewegen, er fand durch die Farben seine Erinnerungen. Die Karte wurde zu einem vollständigen Bild seiner Kindheit. Der Staub des Hauses hatte dort die Farbe der Zeit: ein dunkles, sanftes Grün.
Er redete nicht darüber, er glaubte noch, alle Menschen würden so sehen. Er ertrug es nur nicht, wenn seine Mutter ihm bunte Pullover anzog, dann wurde er wütend, zerriss sie oder vergrub sie im Garten. Schließlich konnte er durchsetzen, nur noch die dunkelblauen Bauernkittel aus der Gegend tragen zu dürfen, und bis er zehn Jahre alt war, blieben sie seine tägliche Kleidung. Manchmal zog er im Sommer eine Mütze auf, nur weil sie die richtige Farbe hatte. Das Au-pair-Mädchen ahnte, dass Sebastian anders war. Er bemerkte, wenn sie ein neues Parfum oder einen neuen Lippenstift trug. Manchmal rief sie ihren Freund in Lyon an, sie sprach dann französisch am Telefon, aber es schien ihr, als würde Sebastian die fremde Sprache verstehen, als reiche ihm dafür der Klang ihrer Stimme.
Mit zehn Jahren kam Sebastian ins Internat. Sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater waren schon dort gewesen und da die Familie kein Geld mehr hatte, bekam er ein Stipendium. Die Internatsleitung schickte einen Brief nach Hause. Es war genau festgelegt, welche Kleidung jeder Junge mitbringen durfte, wie viele Hosen, Pullover und Schlafanzüge. Überall musste die Köchin Nummern einnähen, damit die Wäscherei des Internats die Sachen der Kinder auseinanderhalten konnte. Die Köchin weinte, als sie den Koffer vom Speicher holte, und Sebastians Vater sagte ärgerlich, sie solle aufhören mit dem Getue, der Junge komme ja nicht ins Gefängnis. Sie weinte trotzdem, und obwohl der Brief das ausdrücklich verbot, legte sie ein Glas Marmelade und etwas Geld zwischen die frischen Hemden.
Eigentlich war sie keine Köchin, Personal gab es in dem Haus längst nicht mehr. Sie gehörte zur Familie, eine weit entfernte Tante, die in besseren Tagen Hausdame und Geliebte eines deutschen Konsuls in Tunesien gewesen war. Der Konsul hatte ihr nichts hinterlassen. Sie war froh, bei den Eschburgs unterzukommen. Manchmal wurde ihr ein Gehalt bezahlt, aber meistens blieb es bei freiem Wohnen und Essen.
Als Sebastian von seinem Vater ins Internat gebracht wurde, hätte er gerne die weißen Blüten des Hahnenfußes mitgenommen, die auf dem See schwammen, und die Bachstelzen und die Platanen vor dem Haus. Sein Hund lag in der Sonne, sein Fell war warm und Sebastian wusste nicht, was er zu ihm sagen sollte. Der Hund starb ein halbes Jahr später.