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Nachdem Sebastians Mutter das Haus am See verkauft hatte, pachtete sie einen modernen Reiterhof in der Nähe von Freiburg. Sie wohnte dort in einem Einfamilienhaus mit dünnen Wänden und einer Doppelgarage.

Der Stall hatte zwölf Boxen, es gab eine Reithalle und ein Dressurviereck. Ein Pferdepfleger reinigte jeden Tag Stallgasse, Sattelkammer und Innenhof. Die Mutter wurde laut, wenn sie irgendwo Spinnweben sah.

Jeden Morgen stand sie um sechs Uhr auf, sie ritt alle zwölf Pferde bis zum Nachmittag. Von Frühjahr bis Herbst war sie an den Wochenenden auf Turnieren, einmal wurde sie deutsche Vizemeisterin im Dressurreiten. Sie lebte von dem, was das Haus am See und der Wald eingebracht hatten.

Weil die Abstände zwischen den Ferien groß waren, sah Sebastian, wie sie sich veränderte: Kinn und Nase wurden spitzer, ihr Mund wurde schmaler, die Venen traten auf ihren Unterarmen hervor.

Wenn Sebastian sie besuchte, wohnte er in einem kleinen Zimmer unter dem Dach, im Sommer war es dort stickig, im Winter dunkel. Wenn er nicht da war, nutzte die Mutter den Raum als Büro. Seine Sachen standen, in zwei Kisten verpackt, auf dem Speicher.

In den Ferien fuhr er mit auf die Turniere. Die Reitplätze waren voll Schlamm, Wasser stand in den Fahrspuren der Pferdetransporter, und in den Zelten roch es nach Zwiebeln und verbranntem Fett. Im Sommer trocknete der Pferdemist auf den Wiesen, die Hitze ließ die Gesichter der Menschen rot werden, der scharfe Schweiß der Pferde stand in der Luft. Die Männer saßen auf Klappstühlen am Rand des Dressurvierecks, sie sahen ihren Frauen und Töchtern zu. Sie hatten eine eigene Sprache, sie sagten, ein Pferd müsse durchs Genick gehen, sie redeten von Traversalen, fliegenden Wechseln, gestrecktem Trab. Sebastian verstand, dass die Reiterinnen süchtig nach ihren Pferden waren.

Die Mutter sprach nur wenig mit ihm, sie war immer müde vom Reiten. Sie sagte, dass sie ihren Körper nicht mehr ertrage, die Schmerzen in den Knien und die Schmerzen im Rücken und die Schmerzen in den Händen. Ein Arzt hatte sie gewarnt: Ihre Halsnerven seien von der Dauerbelastung dünn geworden. Es sei gefährlich, weiterzureiten, sie riskiere zu viel. Sie hielt es nur eine Woche aus, dann stieg sie wieder auf die Pferde. Sie müsse reiten, sagte sie, es ginge nicht anders.

Als Sebastian 16 Jahre alt war, stellte ihm die Mutter ihren neuen Freund vor. Er war Mitte vierzig, einen halben Kopf kleiner als sie, er hatte kurze graue Haare, dichte Augenbrauen, manikürte Fingernägel. Sie holten Sebastian vom Bahnhof ab, als er aus dem Internat kam.

Sie würden jetzt essen gehen, sagte der neue Mann. Er fuhr zu einem Restaurant, von dem er sagte, es sei das beste, sein Chef esse auch dort. In der Karte stand, »eine ehemalige Metzgerei wurde stilsicher in ein französisches Café der Jahrhundertwende verwandelt« und sei nun »ein authentisches Stück Frankreich mitten in Freiburg«. Die Tische standen eng, zu viele Leute saßen in dem Raum, die Stühle waren unbequem. Es war sehr laut. Der neue Mann schrie, das Essen hier sei hervorragend, den Kellner begrüßte er mit Vornamen.

Der neue Mann sah auf die Uhr und bestellte für alle. Er wisse, was hier gut sei, sagte er. Während sie auf das Essen warteten, sagte er zu Sebastian, er sei Vertreter für Gipskartonplatten, es sei ein »Riesengeschäft«. Einmal sei ein Artikel über ihn in der lokalen Boulevardzeitung erschienen, er habe damals alles dafür getan, damit sich ein schwedischer Autozulieferer in der Stadt niederließ. Der Autozulieferer habe sich später zwar anders entschieden, aber in dem Zeitungsartikel sei er »der Macher« genannt worden. So etwas bleibe hängen, sagte er. Er zog die Augenbrauen hoch und sagte das so, als wolle er sich darüber lustig machen, aber Sebastian begriff, dass er stolz darauf war. Die Mutter schwieg, sie schien die Geschichte zu kennen.

»Alles hat seinen Preis«, sagte der Macher. »Aber wenn du deinen Arsch bewegst, ist es egal, woher du kommst.«

Der Macher legte seine Hand auf die Oberschenkel der Mutter und starrte in ihren Ausschnitt. Der Kellner brachte eine Flasche »Clos de Beaujeu«, ohne dass jemand sie bestellt hatte. Er solle ruhig etwas trinken, sagte der Macher zu Sebastian, »zur Feier des Tages«. Sebastian fragte, ob er ein Wasser haben könne.

Dann schrie der Macher über den Tisch zu Sebastian: »Was willst du werden?«

Sebastian zuckte mit den Schultern. Der Macher spielte mit dem Salzstreuer. Er hatte dicke Finger, obwohl er selbst nicht dick war. Er trug eine goldene Uhr mit einem goldenen Armband, auf dem Uhrenglas war eine Lupe für das Datum. In den Mundwinkeln des Machers trocknete Speichel. Sebastian stellte sich den Mund des Machers auf dem Mund seiner Mutter vor.

»Hast du gar keinen Plan? Du gehst auf eine so teure Schule und hast keinen Plan?«, fragte der Macher.

Sebastian antwortete nicht.

»Was hast du da?«, fragte der Macher. Er griff in Sebastians Mantel, der über dem Stuhl lag, und zog das Buch aus der Tasche, das Sebastian im Zug gelesen hatte.

»Windabgeworfenes Licht«, las der Macher langsam vor. »Was soll das denn heißen?« Er lachte laut und hielt das Buch in die Höhe.

»Es sind Gedichte«, sagte Sebastian. Er riss dem Macher das Buch aus der Hand und schmiss dabei ein Glas um. Das Tischtuch saugte sich voll und der Wein lief auf die Hose des Machers. Sebastian entschuldigte sich, er müsse an die frische Luft.

Sebastian ging vor die Tür. An der Bushaltestelle wühlte ein Obdachloser in einer Abfalltonne. Ein sehr langer, glänzender Wagen fuhr vorbei, ohne ein Geräusch zu machen. Die Luft stand in der Straße, es roch nach Asphalt und Benzin. Eine Frau ging an ihm vorbei und schrie in ihr Handy: »Sie war halt lange Single.« Sebastian rauchte zu schnell zwei Zigaretten hintereinander. Im Internat hing über seinem Schreibtisch ein Foto der grünen Fischerhütte in Wales, in der Dylan Thomas die Gedichte geschrieben hatte. Daran dachte er jetzt.

Als er ins Restaurant zurückkam, war die »hausgemachte Frikadelle vom Galloway«, die der Macher für ihn bestellt hatte, kalt.

Der Macher fuhr mit dem Wagen zu schnell nach Hause, Sebastian spürte den Gurt an seinem Hals. Der Macher und die Mutter gingen sofort zu Bett. Sebastian las noch eine Zeit lang in dem Gedichtband. Dann stand er auf und ging in den Garten, um zu rauchen, die Mutter hatte es im Haus verboten.

Im Schlafzimmer brannte Licht. Der Macher stand nackt vor dem Bett, seine Mutter schlief. Er hielt eine Videokamera in der Hand, die rote Diode für die Aufnahme blinkte. Mit der anderen Hand masturbierte der Macher. Sebastian sah sich selbst in der großen Panoramascheibe.

Er ging hoch in das Zimmer unter dem Dach und setzte sich an den Plexiglasschreibtisch vor dem Fenster. Er wollte einen Brief schreiben, aber er wusste nicht an wen. Er starrte auf die Spitze des Bleistifts. Dann holte er aus seinem Koffer ein Opinelmesser mit Holzgriff, das er sonst immer auf seine Wanderungen mitnahm. Er schnitt sich die Kuppe des linken Zeigefingers ab. Er sah zu, wie das Blut hervorquoll und auf den Schreibtisch tropfte. Für einen Moment fühlte er sich lebendig. Dann ging er ins Badezimmer und verband die Wunde.

Sebastians Mutter und der Macher heirateten ein knappes Jahr später. Sie feierten in einem Schlosshotel, das der Macher von einer Vertretertagung kannte. Das Brautpaar fuhr in einer Kutsche zum Standesamt, die Mutter trug ein weißes Kleid. Vor dem Hotel war ein Zelt aufgebaut, ein Alleinunterhalter mit Hammondorgel machte Musik. Man dürfe nur dort draußen tanzen, das Parkett im Schloss sei zu empfindlich, hatte der Hoteldirektor gesagt.

Für den Brautwalzer hatte der Macher Tanzstunden genommen. Trotzdem stolperte er und fiel hart auf den Bretterboden. Die Musik setzte kurz aus, eine Frau hielt sich die Hand vor den Mund. Als der Macher aufstand, war seine Hose voller Staub. Die Gäste applaudierten, ein angetrunkener Mann rief, das sei ein gutes Zeichen für die Ehe, und alle lachten.

Sebastian verließ das Zelt. Dann hörte er seine Mutter. Sie hatte den Macher untergehakt und ihn nach draußen gebracht. Sie stritten miteinander, der Macher schüttelte heftig den Kopf und riss sich los.

Der Macher ging hoch zum erleuchteten Schloss, er humpelte. Eine Katze schlief auf den Steinstufen vor dem Eingang, sie bewegte die Pfoten im Schlaf. Der Macher sah sich um. Dann trat er mit der Spitze seines Lackschuhs in den Bauch der Katze.