6
Am nächsten Morgen flogen Biegler und Sofia mit der ersten Maschine nach Salzburg. Biegler schimpfte über die engen Sitze, er sei doch kein Huhn, sagte er.
Eine Frau auf Bieglers Nebensitz bestellte Currywurst, Fleischstücke schwammen in brauner Soße, 15 Minuten bei 150 Grad im Konvektomaten regeneriert. Die Stewardess legte ihre Hand auf Bieglers Schulter und fragte, ob er einen süßen oder einen salzigen Snack wolle. Biegler begann zu schimpfen. Der Kabinenchef kam, er sagte, er sei der »Purser« des Flugzeugs. Biegler erklärte ihm, der Begriff »Purser« stamme aus der »christlichen Seefahrt« und bedeute »Proviantmeister«, aber von Proviant könne in diesem Käfig überhaupt nicht die Rede sein.
Sofia versuchte Biegler zu beruhigen. Biegler sagte, der Mann habe angefangen.
»Warum sind Sie eigentlich Anwalt geworden, Herr Biegler?«, fragte sie.
»Als Musiker tauge ich nichts«, sagte Biegler.
»Kommen Sie schon, das ist keine Antwort.«
»Die andere Antwort ist eine lange Geschichte, ich möchte Sie nicht langweilen.«
»Tun Sie nicht«, sagte Sofia.
»Na ja, am Ende ist es vielleicht doch nicht so kompliziert: Ich habe irgendwann begriffen, dass der Mensch nur sich selbst gehört. Nicht einem Gott, nicht einer Kirche, nicht einem Staat – nur sich selbst. Das ist seine Freiheit. Sie ist zerbrechlich, diese Freiheit, empfindlich und verwundbar. Nur das Recht kann sie schützen. Klinge ich jetzt zu pathetisch?«
»Ein wenig«, sagte Sofia.
»Ich glaube trotzdem daran.«
»Und was werden Sie machen, wenn das hier vorbei ist?«, fragte Sofia.
»Das nächste Mandat natürlich, wieso?«, sagte Biegler.
»Haben Sie nicht irgendwann genug? Stören Sie die dauernden Angriffe der Presse nicht?«
»Strafverteidigung ist kein Beliebtheitswettbewerb«, sagte Biegler.
»Aber wollen Sie nicht mal etwas anderes tun? In die Politik gehen zum Beispiel? Das machen berühmte Anwälte doch manchmal.«
»In die Politik?«
»Ja, die weltbewegenden Fragen …«
»… je weltbewegender eine Frage ist, desto weniger interessiert sie mich«, sagte Biegler.
In Salzburg mieteten sie einen Wagen und kamen zweieinhalb Stunden später in dem Bergdorf an. Sie hielten auf dem Marktplatz vor dem Gasthaus »Goldener Hirsch«. Biegler klingelte. Als niemand öffnete, gingen sie um das Haus herum. Das Gartentor stand offen. Biegler sah einen Mann mit Pockennarben und grauem Stoppelbart vor dem Haus sitzen. Er wollte ihm zuwinken, als ein Hund ihn ansprang. Biegler konnte nicht ausweichen. Er stürzte nach hinten, die Bretter des Lattenzauns fingen ihn auf, aber die Spitzen bohrten sich in seinen Rücken.
Der Mann mit den Pockennarben brüllte: »Aus, Lauser.«
Der Hund ließ von Biegler ab, schaute ihn an und wedelte mit dem Schwanz. Der Mann kam näher. Biegler ordnete seine Kleidung.
»Brav, Lauser, brav«, sagte der Mann. Der Hund legte sich auf den Boden.
»Ich finde Lauser nicht brav«, sagte Biegler. Sein Rücken tat weh.
»Er mag Sie«, sagte der Mann, »normalerweise beißt er sofort.« Der Mann schien ein Kompliment für Lauser zu erwarten.
Sofia beugte sich zu dem Hund und streichelte ihn. »Was ist das für eine Rasse?«, fragte sie. »Er ist hübsch.«
»Hübsch? Sie finden ihn hübsch? Er ist ein Monster«, sagte Biegler.
»Berner Sennhund«, sagte der Mann. »Der beste Hund für die Berge.«
»Wir suchen die Wirtin«, sagte Biegler. Er hatte immer noch Hundehaare im Gesicht.
»Sie ist in der Wirtschaft.«
»Wir haben geklingelt«, sagte Sofia.
»Die Klingel ist kaputt«, sagte der Mann. »Und wer sind Sie?«
»Biegler, Rechtsanwalt, Berlin. Und ich habe eine Hundehaarallergie.«
»Ja und?«, sagte der Mann. Er schaute Biegler offen an und grinste. Biegler grinste zurück. Eine Zeit lang standen sie sich so gegenüber. Endlich gab der Mann auf: »Warten Sie.« Er ging durch die Hintertür in die Wirtschaft. Die Füße hob er kaum beim Gehen.
Sofia half Biegler, die Haare von seinen Sachen zu entfernen. Der Hund lehnte sich gegen Bieglers Beine, er wedelte mit dem Schwanz. »Er sieht mich die ganze Zeit an«, sagte Biegler.
»Er mag Sie eben«, sagte Sofia.
»Er hat zu viele Haare«, sagte er.
Nach ein paar Minuten kam der Mann mit den Pockennarben wieder aus dem Haus und winkte sie herein. Sie gingen durch die Küche in die Gaststube. Die Tische waren aus heller Eiche, die Wände holzgetäfelt. Es roch nach frischem Brot und Bohnerwachs. Eine Frau kam auf sie zu, sie war Anfang vierzig, hellblaue Augen.
»Wer sind Sie?«, fragte sie.
»Biegler, ich bin Anwalt«, sagte Biegler.
»Ja?«
»Wir sind hier wegen Sebastian von Eschburg.«
Die Frau drehte sich um, sah zu dem Mann, der noch an der Tür stand, und hob das Kinn. Er schlurfte aus der Gaststube. Sie wartete, bis er verschwunden war.
»Setzen Sie sich bitte.« Sie zeigte auf einen Tisch. Sie selbst blieb stehen.
»War schon jemand von der Polizei da?«, fragte Biegler.
»Wieso von der Polizei?«, fragte die Frau.
»Oder der Presse?«
»Nein, auch nicht. Um Himmels willen, worum geht es denn? Ich habe von Sebastians Verhaftung gelesen, aber was hat das mit mir zu tun?«
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Biegler. »Könnte ich vielleicht einen Schluck Wasser haben?«
»Ja, natürlich.« Die Frau sah Sofia an. »Möchten Sie auch etwas trinken?«
»Auch ein Wasser bitte«, sagte Sofia.
Die Frau ging hinter die Theke und kam mit einer Flasche und drei Gläsern zurück. Sie schenkte im Stehen ein und setzte sich dann.
»Also, was ist passiert?«, sagte sie.
»Es tut mir leid, aber ich muss das fragen«, sagte Biegler. »Sebastians Vater ist auch der Vater Ihrer Tochter, oder?« Er beobachtete sie. Ihre Oberlippe zitterte ein wenig, das war alles.
»Woher wissen Sie das?«, fragte sie.
Biegler wartete. Er stellte sich ihr Leben in diesem Dorf vor. Alleinerziehende Mutter zu sein war hier sicher nicht leicht. Ein Holzkreuz hing neben dem Ofen. Die Götter haben wir wegen der Einsamkeit erfunden, dachte er, aber genutzt hat das auch nichts.
»Ja, es stimmt«, sagte die Frau nach einer langen Pause. Dann begann sie zu erzählen. Es war ein Dammbruch. Sie erzählte, wie sie Sebastians Vater kennengelernt hatte. Über zwanzig Jahre sei das jetzt her, damals sei sie 19 gewesen. Ihr Vater, der Gastwirt im Dorf, habe sich einen neuen Wagen gekauft, ein Cabriolet. Sebastians Vater habe sich den Wagen geliehen und sie sei mitgefahren. Er habe das Dach geöffnet, obwohl es schon Herbst gewesen sei.
»Er ist wahnsinnig schnell gefahren«, sagte sie, »er hat gelacht und ist sehr albern gewesen. Er hatte ganz schmale Hände und weiche Haare, fast wie ein Mädchen. Wir sind zum See gefahren. Wir haben Radio gehört und auf das Wasser gesehen.«
»Und dann haben Sie nicht mehr auf das Wasser gesehen«, sagte Biegler.
Sie nickte. Sie sei sehr verliebt in ihn gewesen, sagte sie. Nach vier Jahren sei sie schwanger geworden. Sie habe das nicht geplant, es sei einfach passiert. Sie hätten sich ja immer nur gesehen, wenn er hier auf der Jagd war. Er habe sie nicht verlieren wollen, aber er habe auch seine Familie nicht verlassen können.
»Wie Männer so sind«, sagte sie. »Als mein Bauch größer wurde und alle es gesehen haben, hat er nur noch davon geredet, er hat nicht mehr ein noch aus gewusst. Er hat geweint und hin und her geredet und dann wieder geweint. Er hat sich ganz verheddert in seinen Gedanken.«
Dann habe er mit dem Trinken angefangen, Schnaps, hier unten in der Wirtschaft, die harten Sachen. Sie kenne Trinker, sie wisse, dass man ihnen nicht helfen könne.
»Für mich war’s schon schlimm, aber ich glaube, für ihn war’s noch schlimmer. Mein Vater ist ganz ruhig damit gewesen, er hat gesagt, das Kind kriegen wir schon groß«, sagte sie. »Irgendwann bin ich dann nicht mehr hoch ins Jagdhaus, weil ich gedacht habe, dass es besser so ist, bevor es ihn ganz zerreißt. Vielleicht ist das falsch gewesen, manchmal denke ich das jetzt. Als meine Tochter zur Welt gekommen ist, bin ich alleine gewesen.«
Die Frau trank ihr Glas aus. Sie hatte so plötzlich aufgehört zu sprechen, wie sie damit angefangen hatte. Ihre Oberlippe zitterte wieder. Biegler holte seine Zigarillos aus der Tasche.
»Darf ich?«, fragte er.
Sie schob einen Aschenbecher über den Tisch. Biegler zündete sich einen Zigarillo an. Sofia wollte etwas sagen, aber Biegler schüttelte den Kopf. Die Frau sah auf den Boden und beobachtete ihn dann beim Rauchen.
»Dann habe ich gehört, dass er sich umgebracht hat«, sagte sie endlich. »Erst als er schon unter der Erde gewesen ist, habe ich das gehört, weil ja niemand bei ihm zu Hause von mir gewusst hat. Die Leute haben gesagt, dass er sich den Kopf weggeschossen hat. Er hat seine Tochter nie gesehen.«
Ich muss weitermachen, dachte Biegler. »Sie haben doch dauernd das Foto Ihrer Tochter im Fernsehen gesehen. Warum haben Sie sich nicht bei der Polizei gemeldet?«
»Was für ein Foto?«, fragte die Frau.
Biegler zog aus der Akte das Foto, das Eschburg gemacht hatte.
Die Frau nahm das Bild. »Ja, das habe ich gesehen. Aber wer ist das?«
Sofia und Biegler starrten die Frau an. Sie lügt nicht, dachte Biegler. Er war wütend auf sich selbst. Irgendetwas hatte er übersehen.
»Ich dachte, das sei Ihre Tochter«, sagte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe dieses Mädchen noch nie gesehen.« Sie sah es noch einmal an. »Der Mund sieht meiner Tochter ein bisschen ähnlich, sonst nichts.«
Der Mund sieht ihr ähnlich, dachte Biegler, vielleicht gibt es noch eine uneheliche Tochter?
»Sebastian wird vorgeworfen, dass er sie umgebracht hat«, sagte Sofia.
»Nein, Sebastian könnte niemandem etwas zuleide tun«, sagte die Frau.
»Kennen Sie ihn?«, fragte Sofia.
»Er war ein paarmal hier. Er hat das Jagdhaus von seinem Vater bekommen. Seine Mutter wollte es verkaufen, aber er hatte es ja noch zu Lebzeiten auf seinen Sohn übertragen.«
»War er mit Ihrer Tochter hier?«, fragte Biegler. Er hatte den Zigarillo ausgehen lassen. Das passierte ihm selten.
Die Frau nickte. »Warten Sie einen Moment«, sagte sie und verließ den Raum. Nach zwei Minuten kam sie zurück. Sie hatte einen Karton in der Hand. Sie setzte sich an den Tisch und öffnete ihn. Sofia nahm die Papiere heraus: Es waren Bilder von Eschburgs Ausstellungen, Zeitungsausschnitte, Interviews, Kritiken zu seinen Bildern.
»Der Karton gehört meiner Tochter«, sagte die Frau. »Sie hat schon alles über Sebastian gesammelt, bevor sie ihn das erste Mal gesehen hat. Er ist für sie das richtige Leben gewesen. Sie ist so wütend wegen ihres Vaters gewesen, obwohl sie ihn nie gesehen hat. Wie oft hat sie getobt und geschrien und alle hier verflucht. Ich kann sie verstehen. Ein Fremder kann sich ja nicht vorstellen, wie es ist, in so einem Dorf ohne Vater aufzuwachsen. Sie hat schon immer raus wollen.«
»Und dann?«, fragte Biegler.
»Sie hat Sebastian kurz nach ihrem 16. Geburtstag getroffen. Ich habe sie nicht davon abbringen können. Sie ist zu der Eröffnung seiner Ausstellung in Rom gefahren. Danach sind sie zweimal zusammen hier gewesen«, sagte die Frau. »Sie haben sich gut verstanden, sie sind sich auch sehr ähnlich. Bevor sie gegangen ist, hat sie gesagt, dass sie jetzt für immer ein Teil seiner Kunst sein wird.«
»Gegangen? Meinen Sie gestorben?«, fragte Sofia. Biegler nickte.
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte die Frau. Sie sah die beiden an. »Nein, nach Schottland ist sie gegangen. Sebastian bezahlt ihr den Aufenthalt in einem Internat dort, es heißt Gordonstoun. Sie will später Kunstgeschichte studieren«, sagte sie.
»Was?« Biegler und Sofia sagten es gleichzeitig.
»Wann haben Sie das letzte Mal mit ihr gesprochen?«, fragte Biegler.
»Gestern«, sagte die Frau.
»Sie lebt also?«, fragte Sofia.
»Natürlich lebt sie.« Die Frau saß aufrecht am Tisch und starrte Sofia und Biegler an. »Ist ihr was passiert? Sie fragen so komisch.«
»Nein«, sagte Biegler. »Ihr ist nichts passiert.«
»Sagen Sie mir bitte, können Sie mir vielleicht erklären, was das mit der Kunst bedeuten soll? Meine Tochter weigert sich nämlich«, fragte die Frau.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Biegler. Er hob die Schultern und stand auf. »Es tut mir leid, dass wir das alles fragen mussten«, sagte er. Dann ging er in den Garten.