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Der Fotograf begrüßte Sebastian von Eschburg freundlich. Sie hatten sich bei einem Altschülertreffen kennengelernt. Der Fotograf hatte sein Abitur vor dreißig Jahren in Eschburgs Internat gemacht. Er hatte an der Kunstakademie in Düsseldorf studiert, in den Achtzigerjahren hatte er Bildbände veröffentlicht, große Schwarz-Weiß-Fotos von Kohlezechen, Wassertürmen, Förderanlagen und Gasometern. Die meisten dieser Anlagen gab es jetzt nicht mehr. Der Fotograf war mit diesen Bildern bekannt geworden. Eschburg mochte die Industriebilder, menschenleere, harte Fotos vor grau-weißem Himmel.
Der Fotograf gab eine Zeitschrift für Architekturfotografie heraus, war Mitglied in zahlreichen Gremien und leitete Jurys für Wettbewerbe. Er hatte Bücher über das Fotografieren geschrieben, besaß enorme technische Kenntnisse und schrieb regelmäßig Kritiken zu Fotografieausstellungen in der größten deutschen Zeitung. Er lebte von Auftragsarbeiten für Architekten und Zeitschriften, er fotografierte Wohn- und Bürogebäude. Seine Fotos waren immer noch makellos, aber er hatte nie eine internationale Karriere gemacht. Er sagte, das sei ihm gleichgültig, aber später begriff Eschburg, dass er darunter litt.
Nebenbei betrieb der Fotograf vier kleine Studios in Berlin, sie liefen nicht unter seinem Namen und er fotografierte dort nicht selbst. Er sagte, das sei das »Brot-und-Butter-Geschäft«. In den kleinen Studios wurden Pass- und Porträtbilder gemacht, Aufnahmen von Hochzeits-, Firmen- und Geburtstagsfeiern und von den Abschlussklassen der Schulen.
Der Fotograf bot Eschburg an, für ihn zu arbeiten. Eschburg mietete ein winziges möbliertes Zimmer in Charlottenburg. Am Anfang zahlte der Fotograf nur ein kleines Gehalt, aber es reichte zum Leben. Die ersten Monate las Eschburg die Bücher des Fotografen und alle anderen Bücher über Fotografie, die er bekommen konnte. Er lernte systematisch alles über Objektive, Belichtungen, Blenden, Filter, über Verschlusszeiten bei analogen und digitalen Kameras, über Groß-, Mittel- und Kleinformate. Er entwickelte Bilder in dem Labor des Studios, er machte Notizen über basische und saure Bäder, experimentierte mit Essig- und Zitronensäure, mit Natrium- und Ammoniumthiosulfatlösungen. Der Fotograf war ein guter Lehrer. Sie unterhielten sich über die Geschichte der Fotografie, sie gingen in Ausstellungen und Galerien, und obwohl der Fotograf launisch und ungerecht war, war Eschburg gerne bei ihm.
Das Fotografieren war für Eschburg viel mehr als ein Handwerk. Er fotografierte nur mit Schwarz-Weiß-Filmen, später bearbeitete er die Abzüge mit Thioharnstoff und Natriumhydroxid. Er experimentierte, bis seine Bilder den weichen, warmen Ton bekamen, der alle anderen Farben in seinem Kopf beruhigte. Der Fotograf sagte, Eschburg müsse revolutionär sein, Kunst müsse provozieren und zerstören, das sei der Weg zur Wahrheit. Aber Eschburg wollte kein Künstler sein. Er wollte sich mit den Fotografien eine andere Welt erschaffen, fließend, vergangen und warm. Und nach einigen Monaten sahen die Gegenstände, Menschen und Landschaften auf seinen Bildern so aus, wie er sie ertragen konnte.
Eschburg arbeitete auch oft in den Brot-und-Butter-Geschäften, er wollte von den angestellten Fotografen das Tagesgeschäft lernen. Sechs Monate nachdem Eschburg bei dem Fotografen angefangen hatte, kam die Besitzerin einer Parfümerie in eines dieser kleinen Studios. Sie wollte Aktaufnahmen von sich machen lassen. Sie war Mitte vierzig, vor ein paar Monaten hatte sie sich von ihrem Mann getrennt, die Bilder sollten für ihren neuen Freund sein. Als sie es sagte, wurde sie rot.
Eschburg half bei den Aufnahmen. Es waren die üblichen Fotos: Tüllschleier über die Schwangerschaftsstreifen, gedämpftes Licht gegen die Falten, Unschärfefilter für Po, Oberschenkel und Bauch, unsichtbare Tesastreifen, mit denen die Brüste angehoben wurden.
Als die Aufnahmen fertig waren, fragte Eschburg die Frau, ob er auch ein paar Bilder von ihr machen dürfe. Sie nickte. Eschburg nahm die Hasselblad, die er sich für wenig Geld gebraucht gekauft hatte. Er mochte die Kamera, der Fotografierende sieht sein Modell nicht direkt, der Blick wird über einen Spiegel gelenkt, er ist weniger brutal. Eschburg legte einen Film ein, zog die Vorhänge des Ateliers auf und schaltete das Kunstlicht aus. Er bat die Frau, sich abzuschminken. Es hatte den ganzen Tag geregnet, das Licht an diesem Nachmittag war weich, ein helles Grau.
Eschburg sprach mit ihr, er sagte, er habe gerade erst angefangen und sei noch unsicher. Sie entspannte sich. Nach einer Stunde war sie so weit, Eschburg machte sehr schnell zwölf Bilder, er benutzte kein Stativ.
Auf den Bildern saß die Frau mit angezogenen Knien auf dem Bett, die Tücher lagen auf dem Boden, sie sah durch das Fenster nach draußen. Das Licht fiel in einem Rechteck auf das Laken und auf ihr Gesicht. Ihr Körper war fahl, nur ihre Stirn war heller – eine 46 Jahre alte Frau, in ihrer Würde verletzt.
Zwei Tage später holte die Frau die Fotos für ihren Freund ab, sie steckte sie schnell in ihre Tasche. Eschburg zeigte ihr auch seine Bilder, er sagte, sie müsse sie nicht bezahlen. Sie sah sich die Fotos im Stehen an, jedes einzelne, dann drehte sie die Bilder um, zerriss sie und legte sie auf die Theke. Sie blieb vor Eschburg stehen, sie öffnete den Mund, aber sie sagte nichts.
Der Fotograf veränderte sich mit den Jahren, er wurde unkonzentriert, aß zu viel und nahm immer mehr zu. Wenn er Abgabetermine vergaß, schrie er seine Angestellten an und knallte mit den Türen. Am nächsten Tag tat es ihm leid, und wenn er in dieser Stimmung war, sagte er, sein Leben sei ihm zwischen den Fingern zerronnen. Er hatte drei Töchter, die nichts mit seiner Arbeit zu tun haben wollten. Mit seiner Frau war er aus Bequemlichkeit und aus Angst vor der Einsamkeit zusammen. Manchmal dachte Eschburg, dass der Fotograf in ihm den Sohn sehe, den er nie gehabt hatte.
Fast immer konnte Eschburg die Termine des Fotografen retten, er arbeitete die Nächte durch und lieferte die Bilder noch pünktlich ab. Als Eschburg nach vier Jahren dem Fotografen sagte, er müsse jetzt gehen und etwas anderes probieren, wurde der Fotograf wütend. Er habe ihn groß gemacht, sagte er, alles habe er Eschburg beigebracht, ohne ihn sei er nichts. Der Fotograf hatte einen roten Kopf und sein Mund wurde sehr dünn, als er es sagte.
An diesem Nachmittag ging Eschburg früh in das möblierte Zimmer, das er noch immer bewohnte. Er setzte sich an das Fenster und sah den Passanten auf der Straße zu. Er dachte an die großen Bilder des Fotografen, an die Wahrheit, die in ihnen war. Die Bilder würden noch da sein, wenn es den Fotografen nicht mehr gab. Der Fotograf hatte sein Leben nicht verschwendet. Er war als junger Mann sehr gut gewesen und als alter Mann war er immer noch besser als die meisten anderen.
Eschburg schrieb dem Fotografen einen langen Brief, er saß viele Stunden am Schreibtisch, aber am Ende zerriss er den Brief und warf ihn weg.