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Am nächsten Morgen ging Biegler als Erstes in die Haftanstalt. Er legte Eschburg das neue Gutachten des Gerichtsmediziners vor.
»Überrascht es Sie, dass es Ihre Halbschwester ist?«, fragte Biegler.
»Ich wundere mich nur, dass die Ermittler so lange gebraucht haben«, sagte Eschburg.
»Sie machen es mir nicht gerade einfach, Eschburg.«
»Tut mir leid.«
»Wollen oder können Sie mir nicht helfen? Ich weiß bisher noch nicht einmal, ob die Frau das Kind Ihrer Mutter oder Ihres Vaters ist. Der Sachverständige sagte, er bräuchte dazu die DNA der Eltern. Die Staatsanwaltschaft wird sicher zuerst in Richtung Ihrer Mutter ermitteln, schon weil es einfacher ist«, sagte Biegler.
Eschburg zuckte mit den Achseln.
Biegler wartete eine Weile, dann zog er sein Notizbuch aus seinem Jackett. »Gut, fangen wir mit einer anderen Sache an. Ich habe ein weiteres Problem«, sagte Biegler. »Sie haben mir bei unserem letzten Gespräch von Ihrer Nachbarin in der Linienstraße erzählt.«
»Senja Finks«, sagte Eschburg.
»Meine Mitarbeiter haben das überprüft«, sagte Biegler. »Offenbar hat dort nie jemand gewohnt. Es gab keine Nachbarn.«
Eschburg wirkte überrascht. »Aber wir sind uns begegnet. Auf dem Dach in der Linienstraße, in ihrer Wohnung, im Krankenhaus.«
»Können Sie sich erinnern, wer diese Frau noch gesehen hat? An irgendjemanden?«
»Ich weiß nicht … Nein, ich war immer allein mit ihr. Aber die Schlägerei … ich war im Krankenhaus. Es muss Berichte des Krankenhauses geben.«
»Ja, gibt es. Die Polizei hat sie in Ihrer Wohnung gefunden.« Biegler zog einen Bericht auf hellgrünem Papier aus seiner Aktentasche. »Das ist der Entlassungsbericht aus dem Krankenhaus. Dort steht, Sie seien gestürzt und hätten sich dabei den Kopf aufgeschlagen, eine Platzwunde und ein Schädeltrauma.«
»Es war eine Schlägerei.«
»Das haben Sie mir erzählt, ich weiß. Ich habe daraufhin bei der Polizei nachsehen lassen. Dort gibt es keinen Vorgang.«
»Natürlich nicht. Ich habe nichts angezeigt, weil Finks mich darum gebeten hat. Aber warten Sie … Es muss doch einen alten Mietvertrag über die Wohnung geben.«
»Auch das haben meine Mitarbeiter nachgeprüft. Als letzter Eigentümer des Gebäudes in der Linienstraße war eine Kapitalgesellschaft in der Schweiz im Grundbuch eingetragen. Sie selbst haben das Haus von dieser Gesellschaft gekauft. Die Schweizer Gesellschaft wurde nach dem Verkauf aufgelöst. Der Treuhänder in Zürich hat keine Unterlagen mehr.«
»Senja Finks hat die Miete immer in bar in meinen Briefkasten gelegt. Es war ja nicht viel. Wir haben nie über Verträge geredet.«
Biegler stand auf und ging zum Fenster. Eschburg tat ihm leid, er brauchte Hilfe. »Sie müssen es begreifen: Es hat Senja Finks nie gegeben, die Wohnung stand leer.« Biegler sprach jetzt langsam. »Ich habe mit Ihrer Freundin Sofia telefoniert – auch sie hat diese Frau nie gesehen.«
Eschburg schüttelte den Kopf. Er sank in sich zusammen.
»Verteidigen Sie mich weiter?«, fragte Eschburg.
»Ich kann das Mandat so kurz vor der Hauptverhandlung nicht mehr niederlegen. Das Gericht würde mich als Pflichtverteidiger beiordnen. Aber Sie müssen mir jetzt etwas über Ihre Schwester sagen. Wenn die Staatsanwaltschaft schneller ist als wir, können wir den Prozess verlieren«, sagte Biegler.
»Ja«, sagte Eschburg nach einer Weile, »das werde ich.«
Nach dem Haftbesuch fuhr Biegler mit dem Taxi zu dem Restaurant, in dem er fast immer zu Mittag aß. Es wurde von Libanesen betrieben, die sich als Italiener ausgaben. Trotz des Rauchverbots in Gaststätten gab es ein Hinterzimmer mit Kamin, in dem man noch rauchen durfte. Biegler saß dort alleine, er hatte sich mit Sofia verabredet.
Er bestellte einen Teller Spaghetti. Dann rief er in seiner Kanzlei an und bat die Sekretärin darum, die Presseerklärung, die er gestern geschrieben hatte, an die Nachrichtenagenturen und Zeitungen zu verschicken. Er wusste, dass bald überall die Folterfrage diskutiert werden würde.
Natürlich, dachte er, kommen Folter, Bedrohung und Täuschung eines Beschuldigten viel häufiger vor, als sie vor Gericht verhandelt werden. Zu allen Zeiten gab es Polizisten, die glaubten, sie müssten so handeln. Biegler war Landau dankbar für ihren Vermerk. Ohne dieses Papier könnte er die Folter nicht beweisen: Kein Gericht glaubt einem Angeklagten, der so etwas behauptet. Er verstand trotzdem nicht, warum sie es überhaupt zugelassen hatte.
Als Sofia das Restaurant betrat, stand er auf und winkte durch den Raum. Sie sah aus, wie Eschburg sie beschrieben hatte. Die anderen Gäste drehten sich nach ihr um. »Sie passt hier nicht her«, dachte er.
Sofia bestellte nur einen Tee. Sie sprachen über Demonstrationen und Baustellen und die Touristen in der Stadt. Dann sagte Biegler so beiläufig wie möglich: »Haben Sie gewusst, dass die verschwundene Frau Eschburgs Halbschwester ist?«
»Was?« Sie schrie fast.
»Die DNA wurde untersucht. Es gibt keinen Zweifel«, sagte er.
»Ich habe noch nicht einmal gewusst, dass er überhaupt eine Schwester hat«, sagte Sofia. »Er hat mich immer von seiner Familie ferngehalten.« Erst jetzt zog sie ihren Mantel aus und ließ ihn hinter sich über die Lehne ihres Stuhls fallen. »Was bedeutet das für den Prozess?«, fragte sie.
»Es ist auch verboten, seine Schwester umzubringen«, sagte Biegler und aß weiter.
Sofia schüttelte den Kopf. Biegler sah auf.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte er. »Es bedeutet, dass die Staatsanwaltschaft weiter ermittelt. Sie werden versuchen herauszubekommen, wer die Frau ist. Oder war.«
»Glauben Sie mir bitte, Sebastian ist kein Mörder.«
»Das sagen alle Freundinnen und die meisten Ehefrauen«, sagte Biegler.
»Haben Sie mal beobachtet, wie er Menschen begrüßt? Er streckt immer den Arm durch, um sie von sich wegzuhalten. Er kann niemanden anfassen«, sagte Sofia.
»Na ja«, sagte Biegler. Er überlegte, ob er noch einen Nachtisch nehmen sollte, obwohl Elly es verboten hatte.
»Ich glaube es einfach nicht«, sagte Sofia.
»Mit dem Glauben ist es so eine Sache. Ich hatte mal einen Mandanten, der seine Wohnung sechs Jahre lang nicht verlassen konnte. Er hatte Angst vor Menschen, auch er konnte niemanden anfassen. Aber er hatte eine Frau durch das Internet kennengelernt. Irgendwie hat er es geschafft, mit ihr ein Kind zu zeugen. Dann wurde er immer merkwürdiger. Er konnte nichts Rotes und Grünes mehr essen und er glaubte, die Parfümindustrie würde ihn verfolgen. Er sprach stundenlang mit Menschen, die nicht da waren und ernährte sich ausschließlich von Haferflocken. Natürlich trennte sich seine Freundin irgendwann von ihm. Aber sie war ein nettes Mädchen. Sie besuchte ihn jede Woche, kaufte für ihn ein und sorgte dafür, dass er nicht verwahrloste. Dann machte sie einen Fehler. Sie glaubte, er müsse das gemeinsame Kind einmal sehen. Er erwürgte sie. Danach wusch er ihre Haare, feilte ihre Finger- und Fußnägel und putzte ihre Zähne. Er schnitt mit einem Küchenmesser vierunddreißigmal in ihre Haut. In die Öffnungen steckte er Zettel. Auf alle schrieb er das gleiche Wort: Kronkorken. Der Mann wurde im Treppenhaus festgenommen, das Baby saß noch neben seiner Mutter in der Küche und schrie. Die Nachbarn hatten die Polizei gerufen, weil er Blut an den Händen hatte. Er erinnerte sich an nichts. Nur daran, dass er das Geländer angefasst hatte. Das war das Schlimmste für ihn: das Geländer. Er sagte, es sei so schmutzig gewesen.«
»Was hat dieses Kronkorken bedeutet?«, fragte Sofia.
»Keine Ahnung«, sagte Biegler.
Sofia starrte ihn an und schüttelte wieder den Kopf.
Biegler zuckte mit den Schultern und erzählte, was er von Eschburg erfahren hatte: Seine Halbschwester stamme aus Österreich, aus dem Dorf, in dem Eschburgs Vater seine Jagd hatte.
»Was werden Sie jetzt tun?«, fragte Sofia.
»Was soll ich schon machen? Ich muss natürlich nach Österreich, wieder in diese absurden Berge, es bleibt mir nichts anderes übrig. Offenbar bin ich jetzt so etwas wie Eschburgs Laufbursche. Keine besonders lustige Rolle, wenn Sie mich fragen«, sagte Biegler.
»Warum hat Sebastian Ihnen nicht gesagt, wo seine Schwester jetzt ist?«
»Er meinte, ich würde es verstehen, wenn ich dort bin. Seltsame Antwort, finden Sie nicht?«
»Sie passt zu ihm«, sagte Sofia.
»Ich kann Überraschungen nicht leiden. Elly hat einmal an meinem Geburtstag …«
»… hat er gesagt, ob sie noch lebt?«, fragte Sofia.
»Nein.« Sofia gefiel ihm, sie ist ein freundlicher Mensch, dachte er. Er wollte etwas Versöhnliches sagen: »Aber er hat auch nicht gesagt, dass er sie umgebracht hat.« Es klang nicht so, wie er gehofft hatte.
»Kann ich mitkommen?«, fragte sie. »Ich will hier nicht warten, das ertrage ich nicht.«
Biegler überlegte, ob er sie anstrengend finden würde. »Nur wenn Sie versprechen, mir nicht dauernd zu erklären, warum er nicht der Mörder ist.«
»Sebastian hat es trotzdem nicht getan«, sagte Sofia. »Er kann das nicht. Ich kenne ihn.«
Biegler zuckte mit den Schultern und bestellte die Rechnung. Sie verabschiedeten sich auf der Straße. Er ging ein paar Schritte, dann drehte er sich noch einmal zu Sofia um und rief ihr nach.
»Sagen Sie, kennen Sie zufällig einen guten Baumsachverständigen?«
»Was?«, fragte Sofia.
»Ach, vergessen Sie’s.«
Er stieg in ein Taxi und fuhr nach Hause.
Am Nachmittag kam Elly aus ihrer Praxis. Biegler stand in der offenen Garage. Er hatte sein Jackett ausgezogen. Die Ärmel seines Hemdes waren hochgekrempelt.
»Was tust du da?«, fragte Elly.
»Wieso haben wir eigentlich so viele Zollstöcke?«, fragte Biegler. Er hatte Schweißtropfen auf der Stirn. »Neun Zollstöcke, drei Hämmer und keine einzige Zange. Das ist doch merkwürdig.«
Er hielt zwei Kartons in den Händen.
»So schlimm?«, fragte sie.
Er hatte einen Ölfleck auf seiner Weste. Elly schob eine Holzkiste mit alten Lappen und Dosen zur Seite.
»Warte«, sagte er. Er ließ die Kartons fallen, holte aus seiner Hosentasche ein großes weißes Taschentuch und legte es auf die Bank. Sie setzte sich. Er stand vor ihr. Er kam sich vor wie ein Junge.
»Also, was ist los mit dir?«, fragte sie. »Immer wenn du die Garage aufräumst, hast du etwas.«
»Ich verstehe ihn einfach nicht«, sagte Biegler.
»Wen?«
»Eschburg, diesen Künstler. Ich verstehe nicht, was mit ihm los ist.«
Elly nahm eine Dose mit eingetrocknetem Lack aus der Holzkiste. »Weißt du noch, wie du für unseren Sohn die Seifenkiste gebaut hast?«, fragte sie.
»Es war sehr kompliziert, ich erinnere mich«, sagte Biegler.
»Auf dem Paket stand, Kinder ab zwölf Jahren könnten sie zusammenbauen«, sagte Elly.
»Ich bin mir immer noch sicher, dass das ein Druckfehler war«, sagte Biegler. »Es war keine besonders gute Seifenkiste.« Er setzte sich neben sie.
»Aber sie hatte eine schöne Farbe«, sagte Elly.
Er sah sie an. Auch heute, 28 Jahre später, verstand er noch nicht, warum sie sich für ihn entschieden hatte. Seine Sachen waren nie ganz sauber. Er kam sich plump neben ihr vor, schwer, ungeschickt.
»Ich glaube, ich werde alt, Elly«, sagte er.
»Du warst schon immer alt«, sagte Elly. Sie stellte die Dose wieder hin und wischte ihre Finger an einer Ecke seines Taschentuchs ab.
»Es war doch auch besser, als die Telefone noch an Kabeln hingen«, sagte Biegler.
»Was ist nun mit diesem Eschburg?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht. Der Mann ist wegen Mordes angeklagt. Er hat ein Geständnis abgelegt. Er sitzt in Untersuchungshaft und die Presse schreibt scheußliche Artikel über ihn. Aber das alles scheint ihm überhaupt nichts anhaben zu können. Die Polizisten sagen, er sei kalt. Ich glaube nicht, dass es so einfach ist. Er besitzt etwas, was ihn vor dem Gefängnis schützt.«
»Was meinst du damit?«
»Erinnerst du dich an den Nachbarn in unserer ersten Wohnung? Der alte Mann lebte ganz alleine. Ich habe ihn einmal besucht. Er saß in Anzug und Krawatte in seiner winzigen Küche. Er hatte den Tisch perfekt gedeckt: Tischtuch, Silberbesteck, Weinglas, Serviette. Er trug sogar Manschettenknöpfe. Jeden Tag saß er alleine so in der Küche, obwohl ihm niemand dabei zusah. Er machte das, weil er nicht verkommen wollte. Dieser alte Mann mit den Manschettenknöpfen war wie Eschburg. Es umgab ihn etwas Unberührbares.«
»Du wirkst auch auf die meisten Menschen so«, sagte Elly nach einer Weile. »Als du ein junger Anwalt warst, hielten viele dich für einen Snob.«
»Einen Snob?«
»Ein wenig bist du es ja auch. An unserem ersten Abend sind wir ins Theater gegangen, obwohl du Theater nicht ausstehen kannst und keine Ahnung davon hast. Du wolltest mich nur beeindrucken. Mitten in dem Stück hast du geflüstert, Ödipus sei der erste Detektiv der Weltgeschichte – ein Mann ermittle gegen sich selbst, ohne es zu wissen. Dann hast du gesagt, das würden wir alle tun. Du warst dir völlig sicher. Das ist es vielleicht: Sicherheit. Mich hat das sehr angezogen.«
»Wirklich?« Er lächelte sie an. Sie sieht immer noch aus wie ein Mädchen, dachte er.
»Bilde dir bloß nichts ein, Biegler«, sagte sie.