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Es war der erste Tag der großen Ferien. Sebastian hatte kaum geschlafen. Sie fuhren um vier Uhr früh ins Revier. Nachts hatte es geregnet, die Wiesen waren feucht, die Erde klebte an den Gummistiefeln und machte sie schwer. Der Vater trug die Doppelbüchse über der Schulter. Der Schaft rieb am Lodenmantel, der Stoff dort war mit den Jahren dünn geworden. Die Rosen und Goldlinien der englischen Gravuren waren kaum noch sichtbar, der Schaft war fast schwarz. Der Lodenmantel roch nach Kaninchen und Tabak. Sebastian dachte an das Gewehr, das ihm sein Vater zur Jagdprüfung versprochen hatte. Mit 17 könnte er die Prüfung machen, aber bis dahin würde es noch lange dauern.

Er ging gerne neben seinem Vater. Jagen ist eine ernste Sache, hatte der Vater oft gesagt, und Sebastian verstand, was er meinte. Nur auf den Treibjagden war es anders. Im Hof des Jagdhauses gab es dann Kartoffelsuppe, es war laut. Oft kamen neue Gäste, »Frischlinge«, wie die Treiber sie heimlich nannten. Sie trugen neue Mäntel und hatten neue Gewehre. Man brachte die »Frischlinge« zu besonderen Plätzen, wo sie mit ihren Gewehren nichts anstellen konnten. Sie redeten immer, auch während sie auf das Wild warteten. Sie sprachen über ihre Arbeit in der Stadt oder über Politik oder über irgendetwas anderes, und Sebastian wusste, dass sie die Jagd nicht begriffen. Später wurde vor dem Jagdhaus die Strecke gelegt, die Tiere waren tot und schmutzig. Sebastian ging nicht mehr mit auf die Treibjagden. Aber wenn sie alleine waren und der Vater kaum sprach, gehörte ihnen der Wald und das Wild und es gab nichts Schmutziges und nichts Falsches.

Sie stiegen auf den Hochsitz und warteten, bis der Frühnebel sich aufgelöst hatte. Als der Rehbock auf das Feld trat, gab der Vater Sebastian das Fernglas. Es war ein kapitaler Sechserbock, er war groß und stolz und er war sehr schön. »Wir haben noch Zeit«, flüsterte der Vater. Sebastian nickte. Es war Anfang August, die Schonzeit würde erst Mitte Oktober beginnen. Er überlegte, warum der Vater überhaupt ein Gewehr dabeihatte, wenn er es nicht benutzen wollte. Aber dann dachte er, dass er später auch immer sein Gewehr mitnehmen würde.

Der Vater zog eine Zigarre aus dem Etui, das Leder war fleckig und alt, so wie alles alt war, was der Vater besaß. Von hier oben konnten sie weit ins Tal sehen, bis zu dem Kirchturm des Dorfes und an klaren Tagen noch weiter, bis zu den Alpen. Sebastian würde sich später an jede Einzelheit erinnern, an den Rauch der Zigarren, an den Geruch von Harz und von nasser Wolle und an den Wind in den Bäumen.

Sie wechselten sich mit dem Fernglas ab, es war so schwer, dass Sebastian sich mit den Ellbogen auf dem Querbalken abstützen musste. Lange beobachteten sie die Rehe.

Dann legte der Vater kurz an und schoss. Sie kletterten vom Hochsitz, Sebastian rannte über das Feld. Die Vorderläufe des Rehs sahen aus, als würde es noch laufen, sie waren abgeknickt und klein, die Augen standen offen, halbrund gewölbt und trüb, die rote Zunge war seltsam verdreht. Sebastian kannte die alte Sprache der Jäger, sie sagten Lichter anstelle von Augen und Äser anstelle von Maul. Der Vater hatte gesagt, Jäger seien abergläubisch und man dürfe im Wald keine normalen Worte benutzen, das Wild würde sonst gewarnt. Aber jetzt war das Reh tot und die Worte spielten keine Rolle mehr.

Der Vater beugte sich über das Tier, spreizte dessen Hinterläufe und kniete sich darauf. Er schnitt die Bauchdecke vom Darmausgang bis zur Kehle auf. Blut und Gedärme quollen hervor. Der Vater zog Pansen, Herz, Milz und Lunge aus dem Körper und legte sie neben sich ins Gras.

Sebastian fühlte sich wie damals, als er auf einer Wanderung in eine Schlucht geschaut hatte, er hatte sich nicht mehr lösen können. Er hatte in die Tiefe gestarrt, immer weiter, wehrlos und ohne Willen, bis der Vater ihn zurückgerissen hatte. Und jetzt war es dieser Schnitt, der Schnitt mit dem Messer seines Vaters. Er zog Sebastian an und stieß ihn gleichzeitig ab. Er konnte sich nicht mehr bewegen, er sah das Weiße in dem Körper des Rehs, die Muskelfasern und die Knochen. Endlich war der Vater fertig und legte das Reh über seine Schultern. Sebastian trug den Rucksack, er ging hinter dem Vater zurück zum Wagen. Es würde ein heißer Tag werden, die Wiesen begannen zu dampfen, das Licht wurde hart und es war besser, im Schatten der Bäume zu bleiben.

Zu Hause saß Sebastians Mutter draußen an dem Eisentisch unter den Kastanien und frühstückte, ihre beiden Hunde dösten auf dem Rasen. Es war Donnerstag, sie würde heute noch auf ein Reitturnier fahren, Sebastian hatte den Pferdetransporter gesehen. Vor ein paar Jahren hatte die Mutter den Stall renovieren lassen, jetzt standen ihre zwei Dressurpferde dort. Sebastian küsste die Mutter auf beide Wangen, dann rannte er nach oben in sein Zimmer und holte ihr Geschenk aus dem Koffer. Im Werkraum des Internats hatte er einen Nussknacker gebastelt, er hatte weiße Zähne, einen roten Bart und einen schwarzen Hut mit einer Fasanenfeder aus Holz. Sebastian hatte lange an ihm gearbeitet, die Feder hatte er braun-grün angemalt. Aber jetzt kam ihm das Geschenk dumm vor. Er sah zu Boden, als er es ihr gab. An den Händen hatte er noch das Harz vom Hochsitz und nun klebte es an dem Nussknacker, weil er nicht aufgepasst hatte. Die Mutter bedankte sich. Sie öffnete zweimal den Mund des Nussknackers. Dann las sie weiter die Ausschreibungen in der »Reiter Revue«. Auf dem Tisch lagen die Meldescheine für ihre Turniere. Sebastian erzählte die Neuigkeiten aus dem Internat. Manchmal stellte sie eine Frage, ohne von den Papieren aufzusehen. Nach einiger Zeit sagte sie, dass sie nun losmüsse. Sie faltete ihre Serviette zusammen, sorgfältig, bis die Enden exakt aufeinanderlagen. Sie küsste ihn auf die Stirn. Die Hunde sprangen auf und trotteten neben ihr die Allee zum Stall hinunter.

Sebastian blieb im Schatten der alten Kastanien sitzen. Die großen Ferien lagen vor ihm. Vielleicht würde er den Holzkahn im Bootshaus ausbessern, er musste neu gestrichen werden. Sebastian erinnerte sich, wie sie in dem Boot zu dritt über den See gefahren waren, der Vater hatte gerudert, während er auf dem Bauch gelegen hatte, das Kinn auf die Bordwand gestützt. Er war noch sehr jung gewesen, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Seine Mutter hatte ein helles Leinenkleid getragen und steif auf der Mittelbank gesessen. Damals hatte sie noch viel gelacht, sie hatte aufgeschrien, wenn das Boot schwankte und der Vater sie mit den Paddeln nass spritzte. Sebastian hatte seine Hände in den kalten See getaucht, er hatte Forellen, Barsche und Renken gesehen und manchmal hatte er das warme Parfum seiner Mutter riechen können: Rosen, Jasmin und Orangen auf Wasser.

Das alles schien ihm lange her zu sein. Er wusste jetzt, dass seine Eltern sich nicht mehr mochten. Oft sah er sich die Hochzeitsalben im Zimmer des Vaters an. Die Eltern sahen jung und fremd auf den Bildern aus, seine Mutter war unsicher und weich, fast noch ein Mädchen, mit offenem Gesicht und hellen Augen.

Früher, als Sebastians Eltern noch miteinander redeten, hatte er seine Mutter oft zum Vater sagen hören, er habe keinen Ehrgeiz, keine Disziplin, er habe noch nicht einmal einen richtigen Beruf. Man brauche Ziele im Leben, hatte sie gesagt, das sei das Wichtigste.

Sebastian holte das Rad aus der Garage, pumpte die Reifen auf und fuhr aus dem Park. In dem letzten Haus vor den Feldern wohnte sein Freund. Die Großmutter des Freundes rief aus dem Fenster, der Junge sei mit den anderen unten bei der Schleuse. Sebastian wendete das Fahrrad, fuhr bis zum Marktplatz zurück und bog hinter der Apotheke in den Feldweg.

Der Freund stand mit den anderen Jungen aus dem Dorf am Wasser. Obwohl sie sich drei Monate nicht gesehen hatten, begrüßten sie Sebastian so beiläufig, als wäre er nie weg gewesen. Den Tag verbrachten sie damit, das Floß zu reparieren. Es hatte den ganzen Winter im Morast gelegen, die Stämme hatten sich vollgesogen, sie waren schwer und glitschig.

Sie grillten unreife Maiskolben, die sie auf Stöcke gespießt hatten, der Mais blieb zwischen den Zähnen hängen, er schmeckte nach nichts, aber der Rauch vertrieb die Wespen, und es war gut, am Feuer zu sitzen. Sie schnitten Schilfrohre, zerkleinerten sie, und rauchten sie wie große Zigarren.

Im Schatten der Erlen war der See kühl und dunkel. Sebastian schwamm weit hinaus, er legte sich auf den Rücken. Wenn er den Kopf hob, konnte er auf der anderen Seeseite das Haus sehen, es leuchtete weiß und leicht in der Sonne. Er sah den Steg dort, das blau gestrichene Bootshaus, er hörte die hellen Stimmen der Freunde am Ufer, und als er die Augen schloss, wurde alles in ihm zu einer einzigen unbenennbaren Farbe.

Am frühen Abend fuhr Sebastian nach Hause, wusch sich das Gesicht und zog frische Sachen an. Es war zu kühl, um draußen zu essen, die Köchin hatte im Landschaftszimmer gedeckt. Der Vater roch nach Alkohol, er sah müde aus.

»Ich habe keinen Hunger, Sebastian, ich werde nur etwas trinken.«

Er ist dünn geworden, dachte Sebastian. Er wusste, dass der Vater nur noch selten zu Hause war, die meiste Zeit verbrachte er auf seiner Jagd in Österreich. Wenn er hier war, blieb er fast immer in seinem Arbeitszimmer. Die Vorhänge dort wurden nicht geöffnet und niemand durfte das Zimmer betreten, wenn er nicht da war. Er lag auf dem Sofa, starrte an die Decke und rauchte. Er sprach immer weniger, seine Anzüge hingen an ihm herunter und er begann schon morgens zu trinken.

Nach dem Essen gingen sie in das Billardzimmer. Der Vater schwankte.

»Wollen wir spielen?«, fragte Sebastian.

»Nein, ich bin zu müde. Spiel du nur, ich leiste dir Gesellschaft.«

Sebastian ordnete die Kugeln. Der Vater setzte sich mit einem Glas Whisky auf die Fensterbank und zündete sich eine Zigarre an. Manchmal sah er auf den Tisch, dann sagte er in seinem altmodischen Französisch »entrée«, »dedans« und »à cheval«. Sebastian spielte konzentriert eine amerikanische Serie, er trieb die Elfenbeinkugeln an der Bande entlang um den Tisch. Das Klacken der Kugeln auf dem Filz war lange das einzige Geräusch.

Als es dunkel wurde, stellte er den Queue zurück in den Holzständer. Er setzte sich in den Sessel neben seinen Vater. In der Bibliothek brannte noch Licht, ein schmaler Streifen fiel durch die Schiebetür auf die Dielen, das Holz sah aus wie dunkler Samt.

»Es ist schön, dass du hier bist«, sagte der Vater. Seine Stimme war verwaschen.

»Soll ich das Licht anmachen?«, fragte Sebastian.

»Nein, bitte nicht«, sagte der Vater.

Draußen schrie ein Habicht. Sebastian wurde schläfrig. Er sah das Profil des Vaters im Halbdunkel, seine hohe Stirn, die eingefallenen Wangen. Er hörte den Vater atmen. Es schien ihm, als wolle der Vater etwas sagen, als suche er nur noch die Worte. Aber der Vater sagte nichts.

Sebastian war im Sessel eingeschlafen. Als er es hörte, rannte er im Dunkeln die Treppen runter bis zur Haupthalle im Erdgeschoss, er stolperte, schlug sich das Knie auf und rannte weiter über den Gang bis zum Arbeitszimmer. Er riss die Tür auf.

Nur die Schreibtischlampe brannte, neben ihr lag eine Pappschachtel mit Munition, Schrotpatronen mit hellroten Hülsen, Kaliber 12/70. Sebastian ging vorsichtig um den Schreibtisch herum. Vaters Tweedanzug war an Armen und Knien schon dünn, das grüne Taschentuch hing aus der Brusttasche. Sein linkes Bein lag auf dem umgestürzten Stuhl, der Absatz des Schuhs war heruntergetreten, die Nägel waren sichtbar. Der Vater hatte keinen Kopf mehr. Die Wucht der zwölf Bleikugeln hatte sein Gesicht weggerissen und das Schädeldach abgehoben.

Sebastian stand im Zimmer, er konnte sich nicht rühren. Er roch das Pulver, den Whisky, der aus einer umgekippten Flasche auf die Steinplatten tropfte, das Rasierwasser des Vaters. Er sah den Staub auf den Büchern, das Fernrohr aus Messing, die Risse in den Ledersesseln und das silberne Zigarettenetui mit dem großen Stein aus Jade. Dann wurde es zu viel, die Bilder rasten in seinem Kopf, sie überlagerten sich und setzten sich immer wieder neu zusammen, er konnte sie nicht mehr ordnen. Die Farben quollen zu riesigen Blasen auf.

Sebastian blutete aus der Nase, es lief warm über die Lippen auf die Zunge. Er trat einen Schritt vor, nahm das Zigarettenetui an sich und schaltete die Schreibtischlampe aus. Er wusste nicht, warum er das tat, aber danach wurde es stiller.

»Wir haben noch Zeit«, hatte der Vater gesagt.