JETZT BLEIBT NUR NOCH EIN KAPITEL meiner Geschichte, und das ist gut so, denn bald werden wir West Palm Beach erreichen, das Ziel meiner Reise. Die Fahrt hat etwas länger gedauert, als ich dachte (mehr als drei Tage infolge der Entgleisung bei New Haven und der Fälle von Lebensmittelvergiftung in Richmond; eigentlich hätte sie nur dreißig Stunden dauern sollen), und ich werde wohl von Glück reden können, wenn ich rechtzeitig zur Beerdigung komme; sie ist auf Wunsch meiner Schwester, die mich gern dabeihaben wollte, ohnehin schon hinausgeschoben worden. Ich war gerührt von Meritables Wunsch, als ich davon aus Berthes (eine meiner Schwestern) Telegramm erfuhr. Er bewog mich, die Reise auf mich zu nehmen, was ich sonst vielleicht nicht getan hätte. Es tat mir gut zu erfahren, daß Meritable sich ein wenig Zuneigung für mich bewahrt hatte, obwohl sie so stark mit Clara verbunden war. Vielleicht war es Meritables Absicht, Clara und mich nach ihrem Tod zusammenzuführen, weil sie hoffte, wir würden uns dann aussöhnen.
Ich hätte mich heute morgen nach dem Frühstück gern in den Bibliothekswagen gesetzt, am liebsten in die Zeitschriftenabteilung, weil ich in diesem rollenden Kokon das Gefühl habe, völlig vom Weltgeschehen abgeschnitten zu sein.
Ich habe beinahe ununterbrochen geschrieben, seit ich in White River Junction den Zug bestiegen habe, und bin in drei Tagen durch vierundsechzig Jahre persönlicher Geschichte gereist.
Es war ein heikles Unternehmen, weit gefährlicher, als ich es mir je vorgestellt habe.
Sobald Etna ihren Brief erhalten hatte – den gleichen Brief, den ich an Frank Goodspeed, den Collegepräsidenten, und Merrill Gates, den Leiter der Polizeidienststelle, geschrieben hatte –, kam sie in die Holyoke Street.
Mit Clara zusammen begaben wir uns in den Salon. Etna setzte sich nicht, trotz wiederholter Aufforderungen von meiner Seite. Sie hielt den Brief in der Hand, als hätte sie ihn die ganze Fahrt von Drury hierher nicht aus den Fingern gelassen. Ich hatte aufgeatmet, als ich den grün-goldenen Landaulet vor dem Haus anhalten sah. Ich wußte, daß sie kommen würde. (Ich hatte den Zeitpunkt ihres Eintreffens auf die Viertelstunde genau vorhergesagt.)
»Ist das wahr?« fragte sie die zitternde Clara, die, wie ich mit ihr vereinbart hatte, nach der Schule in die Holyoke Street zurückgekehrt war.
Clara, die nur die Familie wieder vereint sehen wollte, sagte, ja, es sei wahr, Mr. Asher habe sie berührt.
»Wie? Wie hat er dich berührt?« fragte Etna. Ihre Stimme und ihr Blick waren scharf.
Ich behielt meine Tochter aufmerksam im Auge. Dies würde eine echte Probe für sie sein, ihre schwierigste Prüfung. Einen langen Moment standen wir in einem niedergedrückten Dreieck beisammen und atmeten langsam im Einklang, während Nicky in Abigails sicherer Obhut war. Clara berührte ihren Busen, ein leichter dreifingriger Strich über die Seite ihrer Brust, der beinahe obszön war auf der weißen Bluse ihrer Schuluniform. Es war eine atemberaubende Geste, sowohl in ihrer Aussage wie als Bild an sich – ein junges Mädchen, das sich selbst vielleicht nie zuvor auf diese Art berührt hatte und es jetzt so öffentlich tat. Etnas Gesichtszüge gefroren unter diesem Eindruck. Und in unbewußter Nachahmung strich meine Frau sich selbst mit den Fingern über die Brust, als wollte (oder müßte) sie fühlen, was Clara gefühlt hatte.
Clara wurde rot. Sicher hätte sie am liebsten wie bei einem Kinderspiel laut gerufen: »Ätsch-bätsch, reingefallen!« Aber sie mußte an ihrer Rolle festhalten, der Text war gesprochen, die undenkbare Geste ausgeführt. Jetzt abbrechen, hieße alles verlieren.
»Wann war das?« fragte Etna so leise, daß die Worte kaum zu verstehen waren. Sie nahm ihren Autohut ab und ließ ihn zu Boden fallen.
»Nach der Schule«, antwortete Clara. »Als du beim Einkaufen warst.«
»Einmal?«
»Dreimal«, sagte Clara, Ashers Schicksal mit einer Zahl besiegelnd. Mit einer Zahl, die ich ausgesucht hatte, weil sie vernichtend war und plausibel.
»Dreimal«, wiederholte Etna, die, ich sah es, Mühe hatte zu begreifen. »Wann noch?«
Clara, Spiegel dem Spiegel, schlug die Hände vor die Augen. Es war eine Sache, sich ein Stück mit passendem Dialog auszudenken; es war eine ganz andere, der mütterlichen Ungläubigkeit ins Gesicht zu sehen, die es hervorrief.
Doch Etna, die strenge Mutter, zog Claras Hände von ihren Augen. »Sieh mich an!« befahl sie ihrer Tochter. »Sieh mich an. Wann noch?«
»Einmal, als du später aus dem Baker-Haus kamst«, antwortete Clara mit zitternder Stimme, die letzte Zeile ihres Textes sprechend, »und einmal, als du draußen im Garten warst.«
Wie so oft, wenn sie sich einer bestürzenden Tatsache gegenübersah, wurde Etna völlig reglos. Clara und ich, Zeugen dieser Verwandlung, konnten nur warten. Etna war hin und her gerissen, einerseits trieb es sie, zu dem Kind zu gehen, dem Schaden zugefügt worden war, andererseits mahnte sie die Vorsicht, sich nicht zu einem vorschnellen Urteil verleiten zu lassen – da ihr Mutterinstinkt einen unterschwelligen Ton entdeckt hatte (die Wahrheit nämlich).
Sie drückte eine Hand auf ihren flachen Bauch und drehte sich um, so daß sie uns den Rücken kehrte. Clara begann zu weinen, der verzweifelte Trick einer ungeschulten Schauspielerin, die sich in Tränen flüchten muß, um ihr Publikum zu überzeugen. Etna, die den Ausbruch falsch auslegte (wie beabsichtigt), nahm ihre Tochter in die Arme. Sie legte eine Hand um Claras Hinterkopf und drückte ihn an ihre Brust. »Sch«, sagte sie. »Ist ja gut.«
Ich beobachtete das alles mit einer Art wonnigen Grauens.
»Clara, ich muß dich das fragen«, sagte Etna. »Bist du wirklich ganz sicher? Das ist ein sehr, sehr ernster Vorwurf.«
Clara hob den Kopf von der Brust ihrer Mutter und nickte, und ich applaudierte im stillen meiner Tochter, die keinen Moment gezögert hatte.
»Mein Gott«, sagte Etna.
Sie schwankte ein wenig und schloß kurz die Augen. Ich fürchtete, sie würde ohnmächtig werden und das Kind mit sich zu Boden reißen. Ich trat einen Schritt vor.
»Es war so schrecklich«, jammerte Clara. »Bitte laß uns wieder eine Familie sein«, stieß sie, an den Körper ihrer Mutter geklammert, schluchzend hervor.
(Vorsicht, Clara, dachte ich.)
Aber keine Mutter hätte diesem Flehen widerstehen können. »Ja«, sagte Etna tröstend zu ihrer Tochter. »Sch … Schon gut.«
Meine Erleichterung war so überwältigend, daß ich fürchtete, man könnte sie mir ansehen.
»Du darfst das keinem Menschen erzählen«, sagte Etna zu Clara.
Ich räusperte mich und sprach meine einzige (und absolut vernichtende) Textzeile. »Das College und die Polizei sind bereits unterrichtet«, sagte ich.
Etna sah mich an, als hätte sie einen Schlag empfangen. »Du hast es dem College mitgeteilt?« flüsterte sie, da ihr die Stimme versagte.
»Selbstverständlich«, sagte ich. »Der Mann kann nicht in einer verantwortungsvollen Stellung bleiben. Gegen ihn muß ein Strafverfahren eingeleitet werden.«
»Mein Gott«, sagte Etna.
Ich wagte nicht, Clara, meine Komplizin, anzusehen. Ich fürchtete, Triumph in ihrem Gesicht zu sehen, der das ganze Unternehmen gefährdet hätte. Erschüttert, aber in Hochstimmung, wandte ich mich ab. Ich hatte alles erreicht. Meine Frau und meine Tochter würden nach Hause zurückkehren. Die Familie wäre wieder intakt. Phillip Asher würde seines Amtes enthoben, sein Ruf wäre zerstört.
Nicky, der draußen gewartet hatte, riß sich von Abigail los und stürmte ins Wohnzimmer, wo er sich an seine Mutter drückte. Er begann zu betteln. »Geh nicht fort, geh nicht fort«, sang er, und ich sang insgeheim mit.
Etna werde auf keinen Fall noch einmal in das Häuschen zurückkehren, sagte ich, das Kommando übernehmend. Abigail würde mit dem Taxi hinausfahren und alles holen, was Etna brauchte. Ich würde mich um den Verkauf des Hauses kümmern. Etna, die wie betäubt war, erhob keine Einwände. Ich vermutete, daß sie keinerlei Verlangen hatte, das Haus zu sehen oder sich in Thrupp zu zeigen. Ich sagte mir, daß die Scham mit der Zeit vergehen und wir wieder eine ganz normale Familie werden würden.
Phillip Asher wurde am selben Nachmittag in seinem Büro von Polizeichef Gates und Präsident Goodspeed (einem ungleichen und recht seltsamen Paar) mit den gegen ihn erhobenen Vorwürfen konfrontiert. Man hat mir erzählt, Asher habe gelacht, als er von den Anschuldigungen hörte. Er glaubte wohl, sie wären reine Erfindung eines geschlagenen und verbitterten Rivalen und ließen sich leicht widerlegen. Aber als man ihm mitteilte, daß nicht ich, sondern Clara die Beschuldigungen erhoben habe, wurde er leichenblaß, und das überzeugte zumindest Goodspeed von seiner Schuld.
Asher schrieb Etna unverzüglich einen Brief, in dem er erklärte, die Bezichtigungen beruhten nicht auf Wahrheit, Clara habe vielleicht eine ganz harmlose Geste mißverstanden, er könne sich allerdings nicht erinnern, ihr je so nahe gekommen zu sein. Niemals hätte er so etwas getan. Niemals. Ob er Etna besuchen dürfe? Mit ihr sprechen dürfe? Ich fing den Brief natürlich ab, wie das jeder fürsorgliche Ehemann getan hätte, gestattete aber Etna großzügig, ihn zu lesen. Sie legte ihn zur Seite. Wem sollte eine Mutter glauben: ihrem Kind oder ihrem Liebhaber in spe?
(Denn ich zweifle nicht, daß Asher und Etna schon bald eine Liebesbeziehung begonnen hätten. Anders war der Blick reinen Glücks in Etnas Gesicht unter dem weißen Leuchter nicht zu deuten. Und wenn mich später die Bilder plagten, die manchmal einen Schuldigen bedrängen, schöpfte ich Trost daraus, daß ich wenigstens eine solche Affäre verhindert hatte.)
Asher wurde dahin gehend belehrt, daß er auf einer schriftlichen Anzeige Claras bestehen könne. Er könne die Sache vor Gericht bringen, wenn er wolle. Aber ich hatte darauf gesetzt, daß Asher ein Ehrenmann war, der es einem Kind nicht zumuten würde, vor einem öffentlichen Gericht auszusagen, und der Frau, vor der er ungeheure Achtung hatte – und die er vielleicht liebte –, niemals eine solche Demütigung, die zweite von seiten seiner Familie, zufügen würde. Nachdem Asher immer wieder vergeblich versucht hatte, mit Etna per Telephon und per Post, ja, sogar persönlich (ich ließ ihn von Abigail wegschicken), Verbindung aufzunehmen, trat er noch vor Ablauf der Woche von seinem Amt am College zurück und räumte das Haus in der Gill Street. Es gab in Thrupp für den Mann aus Yale keine Zukunft mehr, da er die gegen ihn vorgebrachten Beschuldigungen ohne ein ordentliches Gerichtsverfahren niemals würde widerlegen können.
Ende Juni waren zu meinem Erstaunen und zu meiner Freude alle Spuren von Ashers Anwesenheit in Thrupp auf wunderbare Weise so gründlich beseitigt – sein Name wurde öffentlich nirgends mehr genannt –, daß man hätte glauben können, er habe nie existiert. Schon der Hauch eines Skandals ist eine Katastrophe für ein College, das dringend auf Spenden seiner ehemaligen Studenten angewiesen ist.
Von Scheidung war natürlich keine Rede mehr. (»Ich wünsche eine freundschaftliche und reibungslose Beendigung des Rechtsverfahrens«, verfügte ich.) Das Häuschen in Drury schrieb ich zum Verkauf aus, zu einem hohen Preis, um vielleicht als Entschädigung dafür, daß beinahe meine Familie zerbrochen wäre, einen kleinen Gewinn einzustreichen.
Eine Woche nachdem Asher mit unbekanntem Ziel abgereist war, wurde ich ins College zitiert, nicht von Ferald, dessen Pferd disqualifiziert worden war, sondern von Frank Goodspeed, dem Präsidenten, demselben Mann, der Asher die fatale Nachricht überbracht hatte. Er fragte mich, ob ich bereit wäre, das Amt des Collegevorstands zu übernehmen. Unausgesprochen blieb die unbestreitbare Tatsache, daß ich nur zweite Wahl war und in Ermangelung eines Besseren auf den Posten berufen wurde. Klar war auch, daß niemand Lust hatte, eine neuerliche Suche einzuleiten.
Ja, antwortete ich mit der Würde, die der Moment meiner Ansicht nach verlangte. Ja, ich wäre gern bereit, in die Bresche zu springen.
»Ich danke Ihnen«, sagte Goodspeed mit offenkundiger Erleichterung. »Ich werde es in aller Stille bekanntgeben.«
Keine Fanfarenstöße für Nicholas Van Tassel.
»Wie geht es Ihrer Gattin?« erkundigte sich Goodspeed etwas verspätet.
»Den Umständen entsprechend«, sagte ich.
»Wir haben uns bemüht, die Sache zu vertuschen«, fügte Goodspeed hinzu, »aber für Sie alle war es gewiß sehr schwer.«
»Ja«, bestätigte ich.
»Und das junge Mädchen? Ihre Tochter?«
»Sie versucht, es zu vergessen«, sagte ich.
»Die Jugend ist ja so widerstandsfähig«, sagte Goodspeed.
Aber Clara war nicht so widerstandsfähig, wie ich gehofft hatte. In den Tagen nach Etnas Heimkehr war meine Tochter entweder künstlich aufgedreht oder schlecht gelaunt, als hätte sie, nachdem sie nahe daran gewesen war herauszufinden, was für ein Mensch sie war, zu ihrer Bestürzung entdeckt, daß sie dieser Mensch doch nicht war. Wir sprachen nie über das Theaterstück, das wir inszeniert und aufgeführt hatten; sie schien die Geschichte ebensogern vergessen zu wollen wie ihr Vater. Aber mir fiel auf, daß Clara nicht mehr so unbeschwert war und allen Bemühungen, sie aufzumuntern, widerstand. Hatte sie einem vorher ständig damit in den Ohren gelegen, daß sie diese oder jene Freundin besuchen wolle, so verließ sie das Haus jetzt nur noch, um zur Schule zu gehen. Sie schloß das Jahr mit einem schlechten Zeugnis ab, nachdem ihre Noten im letzten Monat des Semesters drastisch abgesackt waren. Ich wußte, daß das eine Folge der dramatischen Ereignisse im Mai war, und hoffte, daß sie sich im Herbst wieder fangen würde.
In den ersten Wochen dieses ungewöhnlich heißen Sommers blieb Etna zu Hause, eine geisterhafte Erscheinung, die ihren Pflichten wie aus weiter Distanz nachkam. An manchen Tagen verließ sie ihr Zimmer überhaupt nicht, und Tabletts voller Speisen, die sie kaum angerührt hatte, wurden in die Küche zurückgesandt. Wenn sie doch herunterkam, nähte sie wie gejagt, als wäre ihr von einem Aufseher in einer Fabrik ein Termin gesetzt worden. Sie pflegte im vorderen Zimmer zu sitzen, in ihrem alten Sessel, stichelte dort mit fliegenden Fingern, biß ungeduldig den Faden ab, schüttelte heftig die Seide oder das Leinen auf ihrem Schoß aus. Sie nähte Tischläufer und Kissenbezüge, Kinderkleider und Unterröcke. Sie fertigte Tischdecken und dann Vorhänge für ein nicht existierendes Zimmer. Sie stickte Monogramme und Kränze mit winzigen gelben Knoten. Sie machte ein Cape für Clara und ein Kleid mit tiefgesetzter Taille, vermutlich für sich selbst, aber sie trug es nie. Ich kenne den ganzen Bestand, weil er heute noch in einer Zedernholztruhe am Fußende von Etnas Bett liegt, da der Herr des Hauses es nicht über sich bringt, ihn an eine Wohlfahrtseinrichtung zu geben, wohin diese Aussteuer eigentlich gehört.
Zweifellos haben die Worte Etnas Bett den Leser neugierig gemacht. In aller Stille und ohne großes Aufhebens zog Etna ins Gästezimmer und entfernte mit großer Geschwindigkeit alle ihre persönlichen Dinge aus unserem gemeinsamen Schlafzimmer. Sie schlief in einem schmalen, hohen weißen Bett, das in seiner Schmucklosigkeit beinahe klösterlich anmutete. Die bunte Quiltdecke vertauschte sie sofort gegen einen weißen Chenilleüberwurf. In heißen Nächten ließ sie manchmal ihre Zimmertür einen Spalt offen, um Luft zu bekommen. Dann sah ich sie, wenn ich auf meinem Weg zum Badezimmer dort vorüberkam, im Schlaf liegen, das Haar wirr auf dem Kopfkissen, die Arme auf eine für sie untypische unweibliche Art über den Kopf geworfen. Gebannt von dem Anblick, pflegte ich vor der Tür stehenzubleiben, denn dieses Zimmer war mir ebenso verboten wie das Bett meiner Frau. Es war für mich die einzige Gelegenheit, Etna Bliss Van Tassel in Frieden zu sehen. So begierig wie in den Tagen, als ich sie durch das Glas einer Fensterscheibe beobachtet hatte, sah ich jetzt, wie sich ihre Brust unter dem dünnen Leintuch hob und senkte, wie sich ihr Hals mit den zarten Falten über den Rand des Kopfkissens wölbte, wie ihre Lider im Traum flatterten. (Wovon träumte sie? Von wem? Von Phillip Asher? Von Samuel?) Manchmal packte mich ein heftiges Verlangen, und ich mußte meine ganze Willenskraft aufbieten, um nicht ins Zimmer zu gehen und mich neben meiner schlafenden Frau auf das Bett zu legen. Ich tat es nie. Ein solches Verhalten war unter den gegebenen Umständen undenkbar. Das Begehren des Ehemanns hatte keinen Platz in diesem Haus. Ich betete, soweit ich zu beten imstande war (unsere Sünden stehen ja wie Mauern zwischen uns und Gott), daß dieser Abscheu mit der Zeit vorbeigehen und wir eines Tages wieder Mann und Frau sein würden.
Dieser Zustand hielt mehr als acht Wochen an.
Im August legte es sich wie ein Giftschleier über das Haus, ja, über den ganzen Ort, wo in den Sommermonaten, wenn keine Studenten da waren, stets eine gespenstische, aber durchaus angenehme Leere herrschte. Tag für Tag erwachten wir unter einem drückenden grauen Himmel, der keinen Regen brachte. Unser Garten seitlich vom Haus verdorrte, weil ihm Wasser und liebevolle Pflege fehlten. Unser Gärtner wollte oder konnte offenbar ohne die Anweisungen seiner Herrin die wunderliche Schönheit nicht wiedererschaffen.
Einzig Nicky schien unberührt von der Atmosphäre von Zurückweisung und Resignation im Haus. Wie ein Hund selbst bei einem teilnahmslosen Herrn Zuwendung sucht und ihm so lange das Bein stupst oder die unwillige Hand leckt, bis er zerstreut gekrault wird, lockte Nicky hin und wieder etwas aus uns heraus, das Liebe sehr ähnlich war. Nur Clara, hinter einem Buch verschanzt, schlug nach ihm, wenn er ihr zu nahe kam. Sie wurde wegen dieser häßlichen Ausbrüche streng getadelt, worauf sie sich noch weiter aus der Familie zurückzog. Ich saß stundenlang in meinem Arbeitszimmer, nur gelegentlich durch meine neuen Pflichten abgelenkt. Im September wollte ich vor dem Kollegium meine Antrittsrede halten, die ich in diesen Wochen bestimmt ein dutzendmal umschrieb.
Und Etna? Wo war Etna? Wohin war die Frau verschwunden, die fünfzehn Jahre lang meine Ehefrau gewesen war? Anfang August schlug ich einen Aufenthalt im Highland Hotel vor, einen Urlaub am Meer, der Familie zuliebe. Etna wollte nichts davon hören. (Habe ich erwähnt, daß wir kaum ein Wort wechselten?) Sie wurde beunruhigend dünn, wahrscheinlich als Folge ihres geringen Appetits und einer eher hektischen häuslichen Betriebsamkeit. Es war, als müßte sie in Bewegung bleiben, um die Bilder abzuwehren, die ihre Tochter in ihrer Phantasie heraufbeschworen hatte – Etna, eine Frau, deren Wesen sich einst durch stille Ruhe ausgezeichnet hatte.
Träumte sie von ihrem Häuschen? Fragte sie sich, wo Phillip Asher war? Machte sie sich Vorwürfe, den Mann in ihr Haus gelassen zu haben? Ich weiß es nicht. Ich begann immer mehr zu trinken – schon morgens fing ich an –, um den Schmerz über Etnas kaltes Schweigen zu betäuben. Aber es half immer weniger.
Eines Nachmittags Ende August, als ich beinahe eine halbe Flasche Süßwein getrunken hatte und Kopfschmerzen mich quälten, die sich mit Tropfen nicht lindern ließen (die Luft in diesem Unglückshaus war so still und schwül, daß ich kaum richtig atmen konnte), sah ich Etna in einem Korbstuhl auf einer Seitenveranda sitzen. Sie hatte kein Nähzeug bei sich, und ich nahm das als ein Zeichen der Gesundung. Bevor ich zu ihr ging (unaufgefordert), beobachtete ich sie kurze Zeit in diesem Zustand der Ruhe. Körper und Gesicht im Profil zu mir, schien sie irgend etwas anzustarren, was sich jenseits des Fliegengitters befand. Sie trug eine ärmellose Bluse und einen Leinenrock, ihre Schultern und ihre langen Arme waren weiß und nackt, für mich ein seltener Anblick in diesen Tagen. Sie kratzte sich am Schlüsselbein, als hätte sie dort ein Insekt gestochen. Ihre Arme waren außerordentlich dünn, und ihr robuster Körper war wie geschrumpft, sie schien seit dem Frühjahr stark gealtert zu sein.
Ich trat auf die Veranda, setzte mich in den Schaukelstuhl und bewegte mich vor und zurück, um ein Lüftchen zu spüren. Etna sah ohne ein Wort der Begrüßung zu mir herüber. Ich sehnte mich nach den kühleren Herbsttagen, versprach ich mir doch rasche Heilung von dem Fieber, das uns alle befallen hatte.
»Vielleicht«, sagte ich zu Etna, »sollten wir mit den Kindern in die Berge fahren. Dort wäre es kühler. Ich könnte sicher eine Unterkunft in einem Hotel für uns auftreiben.«
»In welche Berge?« fragte sie beinahe schroff. In den Wochen seit ihrer Heimkehr hatte sie höfliche Konversation offenbar verlernt, oder sie war ihr unwichtig geworden.
»Na ja, in die White Mountains«, antwortete ich, da mir kein anderes Gebirge einfallen wollte. Aber kaum hatte ich den Namen ausgesprochen, da bedauerte ich schon diesen Verweis auf die Gegend, in der wir unsere Hochzeitsreise verbracht hatten.
»Das würde mir wenig Freude machen«, sagte sie.
»Gibt es überhaupt etwas, was dir Freude machen würde?« fragte ich.
»Fahr du«, sagte sie, »und nimm die Kinder mit.«
»Ich möchte dich nicht allein lassen«, versetzte ich, ziemlich verärgert über ihre negative Einstellung allem und jedem gegenüber. Sollten wir nicht um der Kinder willen versuchen, ein normales Leben zu führen?
Etna starrte durch das Fliegengitter auf den wuchernden Wiesenkerbel, der sich im vernachlässigten Garten breitgemacht hatte. Wie das manchmal vorkommt, wenn man zu früh am Tag unter dem Einfluß von Alkohol und Kopfschmerzen leidet, packte mich plötzlich Groll.
»Asher ist in den Argonnen«, sagte ich, die tödlichste Gegend auf unserem Planeten nennend.
Etna drehte langsam den Kopf. Endlich hatte ich es geschafft, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen.
»Phillip ist in Frankreich?« fragte sie.
Phillip.
»Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, daß Professor Asher sich beim Britischen Roten Kreuz gemeldet hat«, berichtete ich.
»Das ist ausgeschlossen«, sagte sie.
»Die nehmen da Leute in jedem Alter«, erklärte ich. »Das ist selbstverständlich eine sehr mutige Geste von ihm. Ich könnte mir denken, er versucht damit auf eine etwas merkwürdige Weise, sein Vergehen wiedergutzumachen. Bei den Sanitätern beträgt die Rate der Todesfälle nahezu siebzig Prozent. Wußtest du, daß Asher Pazifist ist?«
Etnas Augen hatten rote Ränder. Nicht vom Weinen, vermutete ich (sie schien ja wie ausgetrocknet), sondern infolge von Unterernährung. Sie war beinahe nur noch ein Skelett unter ihren selbstgenähten Kleidern.
»Phillip ist in Frankreich«, wiederholte Etna.
»In den Argonnen.«
»Heißt das, daß er für immer fort ist?«
Ich zuckte zusammen und drehte mich herum. Hinter mir an der Tür stand Clara.
»Heißt das, daß er für immer fort ist?« fragte sie noch einmal.
Mit einer silbernen Haarbürste in der Hand kam sie heraus. Ihr Haar war ungewaschen, und ihre weißen Strümpfe waren schmutzig. Sie blickte von mir zu ihrer Mutter, dann wieder zu mir. »Professor Asher ist fort?« fragte sie zum drittenmal.
Ich witterte Gefahr und stand auf. »Clara, deine Mutter und ich unterhalten sich unter vier Augen«, sagte ich. »Du mußt endlich lernen, nicht immer dazwischenzureden.«
»Ist er weit weg?« fragte Clara, als hätte sie meine Zurechtweisung nicht gehört.
»Ja, sehr weit weg«, antwortete ich. »Komm, wir wollen mal nach deinem Bruder sehen«, fügte ich hinzu und näherte mich ihr.
»Dann kann ich’s jetzt sagen?« fragte Clara.
Ich hielt den Atem an, während ich wartete und hoffte, der Moment möge ohne Zwischenfall vorübergehen. Clara sah mir mit ihren hellblauen Augen direkt ins Gesicht, und in dem Moment wurde mir klar, daß ihre Frage nicht in Unschuld gestellt war. War es Bosheit, die langen Stunden des Nichtstuns entsprungen war? Ein Mittel, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen? Wollte sie ein schlechtes Gewissen beruhigen? Oder, schlimmer, war diese Hinterlist gegen mich gerichtet?
»Ob du was sagen kannst?« fragte Etna.
»Halt den Mund!« zischte ich Clara an und gab meinem kaum vernehmbaren Befehl einen unmißverständlichen Unterton der Drohung mit.
»Ob du was sagen kannst?« fragte Etna wieder. Sie stand aus dem grünen Korbsessel auf. »Nicholas, was hat das alles zu bedeuten?«
»Nichts.« Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Gar nichts. Clara, komm jetzt mit.«
Ich wollte den Arm meiner Tochter fassen und hätte sie einfach weggezerrt, aber sie wich mir aus und ging zu ihrer Mutter.
Ein seltsamer Ausdruck stand in Etnas Augen. Sie sah weder ihren Mann noch ihre Tochter, sie sah vielmehr eine Szene, die sie vier Monate zuvor im Salon erlebt hatte, als Clara mit ihren Fingern über ihre Brust gestrichen hatte.
Etna schüttelte ungläubig den Kopf.
Clara umschlang ihre Mutter, die jedoch ihre langen weißen Arme nicht um ihre Tochter legen wollte. Sie schien von einer Lähmung befallen.
»Ich wollte es nicht«, versicherte Clara, deren nervöse Stimme zu einem dünnen Jammerlaut anstieg. »Mutter, ich dachte doch, ich könnte dich damit zurückholen.«
Ich ahnte, daß Etna die frühere Szene im Geist vor sich ablaufen ließ. Ihre Augen richteten sich auf mich, und ich erkannte darin die Leere der Betäubung, dann das scharfe Aufblitzen des Erwachens.
»Das konntest du tun?« sagte sie über Claras Kopf hinweg zu mir.
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, gab ich zurück.
»Du weißt es«, sagte Etna. »Ich sehe es dir an.«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte ich.
»Clara, sag mir die Wahrheit«, forderte Etna und hielt ihre Tochter auf Armeslänge von sich ab. »Die volle Wahrheit.«
Ich wandte mich ab, bevor die Wahrheit gebeichtet wurde. Ich ging ins Haus und begab mich in mein Arbeitszimmer.
Was spielt es jetzt noch für eine Rolle? dachte ich, als ich die Tür hinter mir schloß. Die Mutter würde die Familie niemals verlassen. Sie würde sich dem Glück ihrer Kinder opfern.
Ich hatte gesiegt. Ich hatte Etna. Ich hatte die Kinder. Ich war Vorstand am Thrupp College.
Warum hatte ich dann solche Angst?
Etna stürmte ins Gästezimmer und knallte die Tür so heftig zu, daß die Wände zitterten. Im Laufe des Nachmittags vernahmen wir von Zeit zu Zeit plötzliche Ausbrüche der Ungläubigkeit – schrill und atemlos, als hörte sie die Wahrheit immer wieder von neuem. Clara hatte sich in ihr Zimmer verkrochen, und Nicky wich Abigail nicht von der Seite. Einmal sah ich ihn vorbeigehen, er hielt sich die Ohren zu, um nicht die gewaltsamen Eruptionen hinter der Tür des Gästezimmers hören zu müssen. Ich selbst blieb in meinem Arbeitszimmer, wo ich mich mit Sherry und Brandy aufrecht hielt. Ich trank, ich setzte mich, ich stand wieder auf, ich lief umher, ich setzte mich wieder, ich trank, und manchmal machten mir die periodischen Schreie von oben genausosehr angst wie Nicky.
Es war nur ein Gewitter, das vorbeiziehen würde, sagte ich mir. Kein Mensch konnte auf die Dauer derart heftige Anfälle aushalten. Abigail kam, aber ich schickte sie mit herrischer Geste wieder weg. Ich weiß nicht, ob ihre Fürsorge mir galt, der ich mittlerweile stark angetrunken war, oder ihrer Herrin, deren Leiden ich mir nur vorstellen konnte. Quälte Etna sich mit Gedanken daran, welch schweres Unrecht ihre Familie Phillip Asher angetan hatte (wie zum Ausgleich für früheres Unrecht, könnte man fast meinen); daß sie es abgelehnt hatte, den Mann auch nur anzuhören; daß er in Schimpf und Schande fortgegangen und nun in Europa in Lebensgefahr war? Fürchtete sie, die Intrigen ihres Mannes und ihrer Tochter könnten zum Tod dieses sanftmütigen Gelehrten führen, der mindestens ihr Freund war? Den sie eines Tages vielleicht geliebt hätte? Wem gab Etna die Schuld? Mir, weil ich den Plan entworfen hatte? Ihrer lügnerischen Tochter, die sich vielleicht nie davon erholen würde, so jung noch einem anderen so schweren Schaden zugefügt zu haben (und wenn es den Mann nur seine berufliche Stellung gekostet hätte!)? Oder sich selbst, weil sie mit ihrem unnatürlichen Freiheitsdrang mich zu unnatürlichem Verhalten verleitet hatte?
Oder sah Etna ihre Schuld noch viel tiefer in der Vergangenheit, führte sie vielleicht auf den Tag zurück, an dem sie in Exeter im Staat New Hampshire in einem Raum mit ungetünchten Wänden gestanden und dem Mitleid die Oberhand über die Einsicht gelassen hatte? Oder dachte meine Frau, wie ich das von Zeit zu Zeit getan hatte, über die geheimnisvolle Verbindung zwischen äußeren Umständen und Schicksal nach? Was, wenn sie am Abend des Hotelbrands mein Hilfsangebot ausgeschlagen hätte? Was, wenn sie und ihre Tante an dem Abend nicht beschlossen hätten, im Hotel zu speisen, sondern zu Hause geblieben wären? Man konnte auf diese Weise ein ganzes Leben aufdröseln bis zum ersten bewußten Gedanken.
Der düstere Nachmittag wich einem bedrückenden Abend. Die Schmerzausbrüche ließen nach, und Nicky nahm die Hände von den Ohren. Clara kam aus ihrem Zimmer, weil sie hungrig war. Ich fand meine Kinder in der Küche, wo sie am weißen Emailtisch saßen und Pastete aßen. Clara stand mit vollem Mund auf und ging wortlos hinaus, bevor ich dazu kam, etwas zu sagen. Aber ich hatte sowieso keine langen Reden führen wollen. Abigail kam, von mir gerufen, und nahm den schläfrigen Nicky hoch, um ihn zu Bett zu bringen. Ich blieb in der Küche zurück, suchte nach Brandy und ging, als ich keinen fand, zur Hintertür in den Garten hinaus.
Ich legte mein Jackett ab und blickte, in Hemdsärmeln und Hosenträgern dastehend, zum Himmel hinauf, der an diesem Abend so bewölkt war, daß man keine Sterne sah. Rundherum stimmten zirpend und raspelnd die Insekten ihre Instrumente zum Abendkonzert. Das Hemd klebte mir am Körper, und die Abendluft brachte keine Abkühlung. Wir hatten eine Hitzewelle von außergewöhnlichen Temperaturen; ich konnte mich nicht erinnern, wann das Thermometer das letztemal unter zweiunddreißig Grad Celsius gefallen wäre.
Ich ging zum hintersten Ende des Gartens und schaute von dort aus zum Haus zurück, in dem die heillos zerrüttete Familie Van Tassel lebte. Ich sah in Nickys Zimmer das Licht ausgehen, dann in Claras. Gleich darauf sah ich im zweiten Stock eine Lampe angehen. (An die Hitze in den Personalzimmern wollte man lieber nicht denken.) Auch dieses Licht erlosch bald wieder. Schließlich brannten nur noch die Lampen in meinem Arbeitszimmer, die ich versehentlich angelassen hatte, und die im Gästezimmer.
Ich hielt nach einem Zeichen von Etna Ausschau, einem Schatten, der sich hinter dem Spitzenvorhang bewegte, aber ich sah nichts. Ich kletterte auf eine Steinmauer, um besser zu sehen, konnte aber nur die weiße Kommode mit ihrem Spiegel ausmachen. Vielleicht, dachte ich, schreibt sie gerade an Phillip Asher. Der Gedanke quälte mich, und ich schob ihn weg. Vielleicht war Etna bei Licht eingeschlafen, dann könnte ich leise zur ihr ins Zimmer gehen und es ausmachen – ganz der fürsorgliche Ehemann. Ich würde sie ja nicht wecken; ich würde sie nur kurz betrachten, während sie schlief. Vielleicht würde ich mich an den Schreibtisch in ihrem Zimmer setzen und selbst einen Brief schreiben – eine ganz neue Idee! –, versuchen, ihr die Ereignisse der vergangenen Monate zu erklären. Ich würde sie von meiner Liebe überzeugen. Ich würde sie um Verzeihung bitten.
Je länger ich diese absurden Gedankengänge verfolgte (oder, genauer gesagt, je mehr der Alkohol meine Organe durchtränkte), desto dringender wurde die Vorstellung, ich müsse augenblicklich zu Etna hinaufgehen. Ich mußte sie davon überzeugen, daß unsere kleine Familie wieder heil werden würde. Ich mußte ihr klarmachen, daß man den Zwischenfall vergessen konnte. Ich würde zu ihr gehen und sie in meine Arme schließen. Ich würde sie weinen lassen und sie trösten wie ein Kind, indem ich ihr versicherte, daß alles wieder gut würde. Und morgen früh würden wir Clara wecken und unserer Tochter aus dem emotionalen und moralischen Chaos heraushelfen, in das ich sie gestürzt hatte. Wir würden wegfahren, in die Berge, wo es kühl war, und die traurigen Erinnerungen, die wir mit dieser Landschaft verbanden, austreiben. Und wenn wir nach Hause kämen, würde es Herbst sein, und wir konnten alle unser Leben so wiederaufnehmen, wie es vor dem letzten Winter gewesen war. Wir seien krank gewesen, wollte ich meiner Frau erklären, aber nun würden wir wieder gesunden, an Leib und Seele, und uns von neuem dem täglichen Leben zuwenden.
Ach, du Tor! Du Tor!
Manchmal glaube ich, daß der Zwischenfall, von dem ich gleich erzählen werde, gar nicht geschehen ist; daß ich vielmehr Etnas Tür verschlossen fand und sie sich weigerte, mir zu öffnen; daß alles nur ein Traum war, von dieser Fiebernacht erzeugt.
In diesem Traum gehe ich ohne Heimlichkeit die Treppe hinauf und kündige mit festem Schritt meine Absicht an. Ich gehe durch den Flur zum Gästezimmer und bleibe draußen stehen. Ich erwäge zu klopfen, sage mir aber, daß dies Etna die Last der Entscheidung aufbürden würde: ob sie öffnen soll oder nicht, mich einlassen soll oder nicht. Nach kurzer Überlegung drehe ich selbst den Knauf.
Meine Frau sitzt auf dem Bettrand. Mit einem Ruck hebt sie bei meinem Eintreten den Kopf. Ihr Gesicht ist tränenverschmiert, ihre Bluse steht ein Stück offen. Ich werfe einen Blick zum Schreibtisch und sehe, wie ich befürchtet hatte, einen Brief darauf liegen. Lavendelblaue Tinte auf einem lavendelblauen Kuvert. Ein Name, aber keine Adresse. Adresse unbekannt. Im Schützengraben vielleicht. Wo ein ganz anderes Konzert gegeben wird.
Etnas Gesicht ist kalt und hart. Ihr Haar fällt ihr in einem häßlichen geknoteten Strick den Rücken hinab. Wieder gleitet mein Blick über die halboffene Bluse, den Brief auf dem Schreibtisch, die Vorhänge, die reglos in der Nachtluft hängen.
»Du bist ein Ungeheuer«, sagt Etna ruhig, als ich mich dem Bett nähere.
Ich gehe direkt zu ihr, und ehe sie zurückweichen kann, ziehe ich ihr Gesicht in die nicht unbeträchtlichen Massen meines Bauchs. Sie versucht, den Kopf zu drehen, aber es gelingt ihr nicht.
»Ich bin kein Ungeheuer«, sage ich.
Ich drücke sie rückwärts aufs Bett. »Ich bin dein Mann«, sage ich.
»Ich bin nicht deine Frau«, sagt Etna.
Ich halte ihr den Mund zu. Sie reißt weit die Augen auf. »Sprich nicht«, sage ich.
In diesem Traum oder Wahn (der, wie gesagt, Wirklichkeit sein kann oder auch nicht) ziehe ich die Hand von ihren Lippen und küsse sie. Etna wird still, ja, gefügig, als fürchtete sie, die Kinder könnten erwachen und ins Zimmer gelaufen kommen, um zu sehen, warum ihre Mutter schreit. Zart und behutsam rolle ich einen Strumpf über ihr Knie abwärts und fühle das flaumige Haar auf ihrem Schienbein. Ich schiebe ihren Rock hinauf und finde die Öffnung in ihrem Hemdhöschen. Sie trägt an diesem heißen Tag kein Korsett, ein Glück für meine forschenden Finger. Ich öffne die restlichen Knöpfe ihrer Bluse. Ich berühre den Körper meiner Frau an jeder Stelle, wie es das natürliche und gottgegebene Recht eines Ehemanns ist. Nach einer Weile drehe ich Etna so, daß sie rücklings auf meinem Bauch liegt und wir beide zur Zimmerdecke blicken. Wenn sie so liegt, ist es, als wäre sie ein Teil von mir, als wären wir ein Fleisch. Wenn sie so liegt, kann ich ihr Gesicht nicht sehen, aber der Anblick würde mir vielleicht sowieso das Herz brechen. Etna stößt einen Laut aus und versucht aufzustehen, aber ich halte ihr von neuem den Mund zu und presse sie an mich. Ich spiele auf ihr wie auf einem Instrument, einem Cello vielleicht, bis die Schändung vollkommen ist.
Als ich fertig bin, falle ich in ein tiefes Loch, stürze Hals über Kopf wie in einem Traum im Traum. Ich falle und falle, bis ich glaube, daß es nicht mehr tiefer geht, und falle weiter.
Kurz vor Morgengrauen weckte mich flüchtig ein Geräusch. Hätte ich am Tag zuvor nicht so viel getrunken, wäre ich vielleicht aufgestanden. Eine Tür wurde geschlossen. Schritte waren zu hören. Dann wurde noch eine Tür geschlossen. Oder bilde ich mir das vielleicht nur in der Rückschau ein? Ich döste, halb betäubt, und wußte die ganze Zeit, daß ich versuchen mußte, zu Bewußtsein zu kommen; daß ich versuchen mußte, wach zu werden. Als das endlich geschah, setzte ich mich mit einem Ruck auf. Die Sonne meldete sich schon mit zitternden Lichtreflexen auf dem Boden. Ich rieb mir die Augen und dann die Schläfen; ich litt an dem dumpfen, gnadenlosen Kopfschmerz des Wüstlings.
Allmählich nahmen die Gegenstände im Raum Gestalt an. Wo war ich? In meinem eigenen Bett natürlich, aber wo war Etna? Sie schlief im Gästezimmer. Mit grausamer Klarheit fiel mir plötzlich wieder ein, was am vergangenen Abend geschehen war. Ich erinnerte mich der Geräusche, die mich früher am Morgen geweckt hatten. Ich stand auf und ging ans Fenster. Ich schaute zur Remise hinüber. Das Tor war offen, der Landaulet war weg.
Ohne Hut oder Jackett, in den Sachen, in denen ich geschlafen hatte, trat ich aus dem Haus. Ein innerer Drang zur Eile trieb mich vorwärts. Ich startete den Ford, das Motorengeräusch fuhr mir in der Stille des Morgens durch Mark und Bein. Da ich den Kopf nur unter starken Schmerzen drehen konnte, verließ ich mich auf mein Glück, als ich den Wagen rückwärts aus der Auffahrt manövrierte. Dann bog ich auf die Straße ab und fuhr in Richtung zum Ort.
Zu schnell fuhr ich durch die Wheelock Street, am Haus der Witwe Bliss vorüber. Ich brauste am Hotel Thrupp vorbei und bog am Collegekarree ab, wo die Blätter der Platanen braun und welk in der Augusthitze hingen. Frühmorgendliche Dämpfe schienen aus dem verbrannten Gras aufzusteigen, und man hatte den Eindruck, beinahe die schwachen Spuren der Wege erkennen zu können, die frühere Studenten ausgetreten hatten. Ich lenkte den Ford am architektonischen Potpourri der Collegegebäude vorbei, passierte Moxons viktorianische Villa, die Auffahrt zu Feralds Kalksteinpalast und nahm die Straße nach Drury. Es war, als führe ich in Traumzeit, schleppend und viel zu langsam. Während der Fahrt stellte ich mir im Detail vor, was ich finden würde.
Der Leichnam würde teils auf dem Perserteppich liegen, teils auf dem Linoleum, als hätte sie in den letzten Momenten ihres Lebens noch nach etwas greifen wollen, was sich in der Nähe des Spülbeckens befand. Ein roter Fleck wie eine häßliche, eine kranke Rose würde an ihrem Hals leuchten, der kühnste Farbfleck in diesem Zimmer der weißen Leuchter und getrockneten Hortensien. Ich würde einen Schrei ausstoßen und mich abwenden, aber nicht bevor mir die unnatürliche Stellung des Leichnams aufgefallen wäre und die Scherbe einer zerbrochenen Glühbirne des Leuchters, die an einen Stuhl geschleudert worden war.
Ich würde zum Spülbecken torkeln, den Hahn aufdrehen und Wasser über mein Gesicht laufen lassen. Dann würde ich mich aufrichten und den Kopf schütteln wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt. Benommen würde ich mich nach etwas umsehen, was mir Halt geben würde, und dabei die ganze Zeit gegen ein deutliches Gefühl der Übelkeit kämpfen.
Und noch einmal würde ich meine Frau betrachten.
Ihr Gesicht würde grotesk aussehen in seiner Entstellung, von Blut bedeckt, das aus Mund und Nase gequollen war. (Ich glaube, medizinisch ausgedrückt würde man sagen, sie sei ertrunken.) Ich würde meinen Kopf zu ihrer Kasackbluse aus Leinen hinunterneigen. Ich würde mit den Fingern über ihren dünnen weißen Arm streichen. Ich würde ihren Wangenknochen berühren und ihr nußbraunes Haar …
Nein, nein, sagte ich mir mit heftigem Kopfschütteln. Das war zu melodramatisch. So würde es nicht sein.
Ich bog nach links in die Einfahrt ab und hielt den Wagen vor dem Häuschen an. Der Landaulet war nirgends zu sehen, doch die Haustür war offen.
Ich stieg aus dem Ford und ging bis zur Türschwelle. Zaghaft spähte ich ins Innere des Hauses. Ich rief Etnas Namen. Stille antwortete mir. Mein Blick flog über den Fußboden, ein paar Staubflusen, sonst nichts. Ich sah zum Leuchter hinauf, diesem Ungetüm aus weißem Eisen, seine Birnen waren alle unversehrt. Ich trat ins Haus. Abgesehen von der abgestandenen Luft, die sich trotz der offenen Tür nicht verflüchtigt hatte, und einer Düsternis, verursacht durch die zugezogenen Vorhänge, war im Haus alles so wie damals, als ich es gegen Ende des Frühjahrs abgesperrt hatte. (Ich war nicht auf den Gedanken gekommen, daß Etna einen Zweitschlüssel behalten hätte.)
Ich zog die Vorhänge auf und öffnete die Läden, damit Licht und Luft in den muffigen Raum strömen konnten. Ich sah mich überall um, weil ich sichergehen wollte, daß Etna nicht vielleicht doch hier war und sich nur nicht zeigen wollte. Ich ging auch nach oben, um im Mansardenzimmer nachzusehen, aber ich mußte sofort wieder hinunter, dort oben bekam man kaum Luft.
»Etna!« rief ich noch einmal.
Ich prüfte das Inventar des Häuschens, aber abgesehen von Etnas Schreibzeug schien nichts zu fehlen. Meine Kopfschmerzen machten sich wieder heftig bemerkbar, und ich stützte mich an den Apothekerschrank. Meine Hand fegte über die Vorderseite der blechernen Kuchendose. Das Türchen sprang auf, und dahinter schoß ein Stapel blauer, weißer und lavendelfarbener Briefumschläge hervor, die zu Boden fielen. Ich hob sie auf und sah mir die Adressen an.
Mrs. Etna Van Tassel, Holyoke Street, Thrupp, New Hampshire
Mr. Phillip Asher, Hotel Thrupp
Mrs. Etna Van Tassel, Exeter, New Hampshire
Mr. Phillip Asher, 14 Gill Street
Ich sank auf den harten Stuhl mit der steifen Lehne. Nach einer Weile legte ich die Briefe auf den Tisch und ordnete sie chronologisch. (Nicholas Van Tassel muß Briefe selbstverständlich in der richtigen Reihenfolge lesen.) Ich las sie alle einmal durch und dann noch einmal. Ich legte sie zu einem ordentlichen Stapel aufeinander.
Etna und Phillip Asher, meine Frau und der Mann aus Yale, hatten ihre Briefe miteinander vereint – eine Vereinigung, die, so schien es, dauerhafter war als meine Ehe.
Ich warf den Kopf zurück und heulte auf. Es war ein heiserer, unheimlicher Schrei, der jeden vernünftigen Menschen erschreckt hätte.
Meine Frau war hier gewesen und wieder gegangen. Ich begriff, daß sie nicht zurückkommen würde. Sie hatte den Riegel ihres Käfigs geöffnet und sich befreit.
Sie hatte sich von mir befreit.
Was in Feuer begonnen hatte, sollte auch in Feuer enden, beschloß ich. War es ein Versuch der Katharsis oder lediglich das Resultat lebenslanger Beschäftigung mit Metaphorik? Ich weiß es nicht. Aber eines weiß ich: Ein Feuer zu legen ist schwieriger, als man denkt. Nachdem ich im Herd Feuer gemacht hatte, hielt ich, da es mir an Einfallsreichtum mangelte, einfach ein Geschirrtuch darüber und hoffte, es werde Feuer fangen. Aber jedesmal, wenn eine Flamme sich entzündete, starb sie gleich wieder, erstickte in dem von der hohen Luftfeuchtigkeit klammen Tuch. Aber schließlich gelang es mir mit viel Wedeln und Pusten, eine anständige Flamme anzufachen, und ich legte das Tuch unter einem Vorhang nieder.
Ich nahm die Kuchendose samt Inhalt an mich, dann noch, aus einem unklaren Impuls heraus, die Schneiderbüste. Ich hatte keine Verwendung für sie, aber nach Etnas Körpermaßen geformt, war sie so etwas wie ein Geist meiner Frau. Ich packte die Sachen in den Wagen. Dann stieg ich ein, nun schon in Eile, legte den Rückwärtsgang ein und lenkte den Ford die Auffahrt hinaus zur Straße. Ich wagte kaum hinzusehen, wie zuerst ein Vorhang und dann ein Stück Mauer sich orangerot färbten. Als ich zum Ende der Auffahrt kam und nach Thrupp abbiegen wollte, sah ich, wie eine Feuerzunge durch die offene Tür hinausschnellte, dann folgte ein ungeheurer Knall, und das ganze Haus ging in Flammen auf. Es war ein unerhörter Anblick. So ein Feuer ist eine Pracht.
Der Brand wütete, die Hitze war selbst am Ende der Auffahrt noch beeindruckend. Und während ich die Feuersbrunst beobachtete, kam mir ein ganz neuer Gedanke, der mich zutiefst faszinierte: Wenn Etna Bliss sich von mir befreit hatte, war dann nicht auch ich frei?
Die Vorstellung war umwerfend. Ich begann, sie näher zu betrachten, und verspürte die vorsichtige Erleichterung, die sich meldet, wenn man entdeckt, daß eine Tragödie auch etwas unerwartet Gutes hat. War es möglich, daß ich von der Obsession Etna Bliss Van Tassel befreit war? Von dieser Obsession, die mich seit beinahe sechzehn Jahren getrieben hatte?
Ja, ja, es war möglich.
Wie einer, der auf dem Schlachtfeld bewußtlos geschlagen wurde, beim Erwachen Arme und Beine betastet, um zu sehen, ob sie unversehrt sind, prüfte ich Herz und Kopf – und meine Erleichterung war nicht geringer als die des Soldaten, der entdeckt, daß er noch am Leben ist.
Ich wäre vielleicht den ganzen Vormittag in meinem Auto am Ende der Auffahrt sitzen geblieben und hätte versucht, mich mit dieser Vorstellung der Befreiung vertraut zu machen, hätte ich nicht mit Sorge gesehen, daß das Feuer sich auszubreiten drohte. Ich hatte nie die Absicht, das benachbarte Herrenhaus mit abzubrennen. Ich fuhr sofort los. Vor dem ersten Haus, das am Weg lag, hielt ich an und erklärte dem höchst überraschten Mann, der zur Tür kam, daß es gleich unten an der Straße brenne und er die Feuerwehr rufen solle. Wie mir später berichtet wurde, war Etnas Häuschen beinahe ganz zu Asche verbrannt, als der erste Feuerwehrwagen eintraf, das große Haus jedoch nahm trotz der Hitze und des Zugs kaum Schaden.
»Das Haus hat Ihrer Frau gehört«, sagte ein Polizist, der mich später am Tag zu Hause aufsuchte.
»Ja«, antwortete ich.
»Ein Glück, daß sie nicht drin war«, sagte er.
»Ja, nicht wahr?«
»Kann ich mal mit Ihrer Frau sprechen?«
»Sie schläft gerade.«
»Aha.«
»Es hat sie ziemlich mitgenommen.«
»Natürlich. Wozu hatte sie’s denn überhaupt?«
»Bitte?«
»Das Haus. Was hat sie da gemacht?«
»Genäht«, antwortete ich mit ruhiger Bestimmtheit.
»Genäht?«
»Sie hat den Bedürftigen Unterricht gegeben«, erklärte ich.
»Ach, wirklich?«
»Ja.«
»Ganz schön ungerecht dann, oder?«
»Ungerecht?«
»Daß das Haus abgebrannt ist.«
»Ja«, stimmte ich zu, »sehr ungerecht.«
Wenn ich Vorahnungen von Freiheit hatte, als ich das Häuschen brennen sah, so mußte ich sie erst einmal beiseite lassen, als ich nach Hause kam. Denn dort warteten meine Kinder, Clara und Nicodemus, denen ich erklären mußte, daß ihre Mutter verreist war, weil sie Ruhe brauche. Nicky weinte, und Clara glaubte mir nicht.
»Du hast sie weggeschickt«, beschuldigte sie mich, und der Vorwurf war nicht leicht zu widerlegen.
Anfang November mußte ich Meritable bitten zu kommen, weil ich nicht mehr wußte, wie ich mit einer Tochter zurechtkommen sollte, die nicht davor zurückschreckte, immer wieder lauthals zu verkünden, daß sie ihren Vater hasse.
»Vater hat unsere Mutter getötet«, hörte ich Clara zu dem entsetzten Nicky sagen, als ich keine Woche nach dem Brand am Zimmer meines Sohnes vorüberkam.
»Ist gar nicht wahr!« protestierte Nicky, den einzigen Elternteil in Schutz nehmend, den er noch hatte. »Mutter ruht sich aus.«
»Ja, im Grab wahrscheinlich«, murmelte Clara. »Vater ist ein Mörder«, behauptete sie, wobei sie das Wort mit unverkennbarem Genuß in die Länge zog.
»Clara, geh auf dein Zimmer«, brüllte ich sie an.
Meritable, von der ich geglaubt hatte, sie sei durch die Widerspenstigkeit eines jungen Mädchens nicht zu erschüttern, zeigte sich beeindruckt von Claras Kompromißlosigkeit. Vorsichtig sagte sie, es wäre vielleicht besser, wenn Clara eine Zeitlang mit zu ihr käme, »nur bis sie wieder normal geworden ist«. So kam es, daß Weihnachten Nicky und ich allein waren in dem großen Haus, und so blieb es, bis er mit siebzehn ans Bowdoin College ging.
Ich glaube, daß ich Nicodemus ein guter Vater war, aufmerksamer als die meisten Väter, und ich glaube nicht, daß er unter übermäßiger Zuwendung litt. Ich bemühte mich, wie der Leser sich gewiß vorstellen kann, ihm die Mutter und die Schwester zu ersetzen, und obwohl ich meinem Sohn sicher nicht alles sein konnte, hatten wir gute Zeiten miteinander, mein Junge und ich.
Im Herbst engagierte ich einen Detektiv, der mir (bei einem absolut grauenvollen Gespräch in meinem Arbeitszimmer) mitteilte, daß Etna nach London übersiedelt war.
»Tja, Sir«, begann der Mann, ein rotgesichtiger kleiner Bursche aus Boston, »ich habe leider keine guten Nachrichten.«
»Natürlich nicht«, sagte ich ungeduldig. »Reden Sie schon.«
»Etna Van Tassel, Ihre Frau, lebt jetzt in London.«
»In London?«
»Sie hat ihren Wohnsitz an dieser Adresse.« Er reichte mir einen Zettel über den Schreibtisch. Darauf standen nur ein Straßenname und eine Hausnummer. »Das Haus gehört einem Herrn, Sir«, fügte er hinzu.
»Was für einem Herrn?« fragte ich und machte mich auf den Namen Phillip Asher gefaßt.
»Einem Herrn namens Samuel Asher«, sagte der Detektiv.
Ich war sprachlos vor Überraschung, was der Bursche aus Boston erwartet zu haben schien. (Privatdetektive sind wie Polizisten, nicht wahr, sie bringen immer nur Hiobsbotschaften. Machen sie sich hart? Oder sind sie nur lüsterne Zeugen extremen menschlichen Verhaltens?)
»Sie lebt dort?« fragte ich.
»Zu allem Unglück, ja«, sagte er.
»Meine Frau ist unglücklich?« fragte ich.
»Nein, nein, ich bin unglücklich, Ihnen das sagen zu müssen.«
»Das sollten Sie auch sein«, sagte ich.
(Wie kam es zu der Begegnung zwischen Samuel und Etna? Hat Etna all ihr Schamgefühl in New Hampshire zurückgelassen und sich direkt zu seinem Stadthaus begeben? Verspürte Samuel bei Etnas Anblick die ganze Macht der Liebe, die er einmal gekannt und dann aufgegeben hatte? Genossen sie das Glück dieser zweiten Chance? Erzählte er ihr von seiner wenig glücklichen Ehe? Nahmen sie ihre erfüllende und einigermaßen erstaunliche sexuelle Beziehung sofort wieder auf? Dachten sie je darüber nach, was sie sechs Kindern antaten?)
Tatsächlich weiß ich nichts von dieser Wiederaufnahme ihrer Liebesbeziehung, und der Leser wird Verständnis haben, wenn ich hier nicht bei Spekulationen verweile. Dennoch frage ich mich oft, ob ich nicht für Etna Bliss eine Art Interregnum war. Natürlich der Vater ihrer Kinder. Vor Recht und Gesetz ihr Ehemann. Ein Mann, den sie nie geliebt hat, so traurig das ist. Vor allem aber war ich, denke ich, der Mann, mit dem sie zwischen der ersten und der zweiten Beziehung mit Samuel Asher lebte. Und wenn ich mich quälen will, was gelegentlich der Fall ist, denke ich an Etnas Worte im Schlafzimmer der Familie Bliss, kurz bevor sie mir auf so berauschende Weise zeigte, welcher Leidenschaft sie fähig war. Sie sagte, es sei ein Geschenk, so tief, so frei lieben zu können.
(Und wenn ich ein Interregnum gewesen bin, was ist dann Phillip Asher gewesen? Ein Interregnum im Interregnum? Nichts als das Echo einer früheren Liebe? Haben Phillip und Samuel je wieder miteinander gesprochen? Ich weiß es nicht.)
Im Juni werde ich aus dem Thrupp College ausscheiden, das leider noch immer viel zu sehr an die Lehranstalt erinnert, die es 1899 und 1915 war. Im Lauf meiner Amtszeit als Collegevorstand habe ich an die dreißig Dozenten eingestellt, habe die Zahl der Immatrikulationen von vierhundert auf sechshundert gesteigert, aus drei Trimestern zwei Semester gemacht und das Studium des zeitgenössischen amerikanischen Romans in den Lehrplan aufgenommen, eine radikale Maßnahme, die alle überraschte.
Vor drei Jahren wurde mir von einem Anwalt mitgeteilt, daß Etna an Influenza gestorben sei. Sie war bei ihrem Tod sechsundfünfzig Jahre alt. Ihre Schwester Miriam nahm merkwürdigerweise die größten Mühen auf sich, um Etnas Leichnam zur Beisetzung im Familiengrab in Exeter aus England überführen zu lassen; vielleicht bereute sie ihr früheres herablassendes Verhalten ihrer Schwester gegenüber. Noch merkwürdiger war, daß man mich zur Beerdigung einlud. Ich trat zaghaft an, weil ich befürchtete, dort entweder Phillip oder Samuel Asher zu begegnen. Ich hätte mich nicht zu sorgen brauchen, es war keiner von beiden da. Samuel hatte sich offenbar aus Gründen, die nur ihm bekannt waren, dagegen entschieden, den Leichnam auf der Überfahrt zu begleiten. Die Beerdigung selbst war eine armselige Angelegenheit, ohne große Beteiligung, wie eigentlich nicht anders zu erwarten. Etna hatte ja fünfzehn Jahre außer Landes gelebt. Der Geistliche, der sie nicht gekannt hatte, nannte sie immer wieder Edna, was das seltsam wohltuende Versinken im Schmerz etwas störte.
Danach habe ich jahrelang getrauert. Und ich trauere immer noch.
Ich versuche, mir nicht mehr ständig vorzustellen, wie sich Etnas Leben mit Samuel in England abgespielt hat. Obwohl die beiden bis zu ihrem Tod zusammenlebten, haben sie nicht geheiratet. War das Etnas Entscheidung? Oder Samuels? Hat sie unter dem Verlust ihrer Kinder gelitten? Ich denke, ja. Ich denke, meine Frau führte ein Leben, das zu gleichen Teilen aus gemeinsam erlebtem Glück und privat erlebtem Schmerz bestand.
Bis heute hat Nicodemus keinen Versuch gemacht, in Erfahrung zu bringen, warum seine Mutter nach London ging und ihn im Alter von sechs Jahren verließ; warum er ohne seine Schwester aufgewachsen ist. Aber jetzt, da er im Begriff ist, selbst Vater zu werden, wird er mir diese Fragen gewiß bald stellen.
Beim Wiederlesen dieser Aufzeichnungen sehe ich, daß ich mehr preisgegeben habe, als ich beabsichtigte, sowohl dem Leser als auch mir selbst, und daß diese Erinnerungen vielleicht nicht das richtige Geschenk für ein Kind sind. Ich finde das Ganze auch reichlich melodramatisch, die Geschichte eines etwas lächerlichen Mannes, die für niemanden von besonderem Interesse ist; andererseits ist, so traurig das sein mag, so vieles im Leben (die Freude, der Schmerz, die Beschuldigungen und Vorwürfe, unsere merkwürdigen Anfälle der Leidenschaft) Melodram, der höheren Weihen der Kunst kaum würdig.
Wir nähern uns dem Bahnhof, ich spüre den erlahmenden Herzschlag dieses überhitzten Zugs, eines müden Tiers, das seinen Tag beschließen und ruhen möchte. Bald werde ich zum Bahnsteig hinuntersteigen und in der Menge vergeblich nach meiner Tochter suchen, die ich seit fast zwei Jahrzehnten nicht gesehen habe. Vielleicht werde ich beim Aussteigen Tränen in den Augen haben, vielleicht werde ich auch nur geblendet sein vom grellen Licht, benommen von der Hitze, ein alter Mann in Florida mit den ersten Anzeichen eines Sonnenstichs.
Aber ich werde durchhalten. Und werde, wenn mein Kopf wieder klar ist, einem Taxi winken und mich zum Haus meiner Schwester fahren lassen. Wo ich meine Geschwister und Cousins und Cousinen begrüßen und auf ein Gespräch mit meiner Tochter hoffen werde. Wenn die Beerdigung vorbei ist, reise ich zurück und lege vielleicht einen kurzen Aufenthalt in Charleston ein, um Betty Hazzard zu besuchen.
Zurück in Thrupp, werde ich die mir noch verbleibenden Tage in einem Arbeitszimmer absitzen, in dem ich ständig meine Bücher umstelle, als brauchte man nur eine Bibliothek zu ordnen, um ein Leben zu ordnen.
Was diesen unordentlichen Lebensbericht angeht, so werde ich ihn, denke ich, neben Drydens Palamon und Arcite stellen, da ich voraussichtlich weder den einen noch den anderen Band in nächster Zeit brauchen werde.
Was war mein Verbrechen? Ich lehrte ein Kind das Lügen, aber meine Sünden waren weit größer.
Ich habe für den Moment mehr als genug geschrieben, ich fühle mich ausgehöhlt und brauche etwas Kaltes zu trinken. Dieses Schriftstück mit seiner bröckelnden Prosa ist das Zeugnis eines einst gelebten Lebens, ein Beweis, daß ich einst hier war und entschlossen, Liebe und Verständnis, Leidenschaft und Vergebung zu gewinnen, wenn nicht um meiner Seele willen, so um des Zustands all der Dinge willen, die zur Natur des Körpers und des Herzens gehören, das immer groß und hungrig und voll Verlangen ist.
Nicholaas Van Tassel
West Palm Beach, Florida
23. September 1933