ICH STAND AM FUSS DER TREPPE, als Etna herunterkam, und mußte von neuem denken, wie schön sie mit den Jahren geworden war. Sie wirkte nicht mehr so groß wie damals, als ich ihr zuerst begegnet war. (Das war natürlich nur ein subjektiver Eindruck, der darauf beruhte, daß sie mir nicht mehr solche Ehrfurcht einflößte.) Sie trug an diesem Abend ein hochgeschlossenes Kleid aus kupferfarbenem Satin, das gewagt viel Bein zeigte (das heißt, es endete etwa drei Zoll oberhalb ihrer Abendschuhe, war also bei weitem nicht so herausfordernd kurz wie die Kleider der heutigen Mode, die ich oft als schamlos empfinde, auch wenn ich gegen weibliche Reize nie immun war). Ihre Seidenstrümpfe waren farblich auf das Kleid abgestimmt, und ich hatte keinen Zweifel daran, daß jeder Mann auf der Abendgesellschaft ihre kräftigen kupferfarbenen Fesseln bewundern würde. Zu diesem Ensemble trug sie ihren extravaganten Autohut, eine Kreation in Schwarz und Braun mit zwei breiten Bändern, die unter dem Kinn zur Schleife gebunden wurden. Ich fand den Hut hinreißend und hatte daraus nie ein Hehl gemacht; er war mittlerweile ein vertrauter Anblick in unserem Familienkreis.
Ich half ihr in den Mantel. »Soll ich fahren?«
»Um Himmels willen!« rief sie. »Du bist doch beim Fahren das reinste Nervenbündel, Nicholas. Laß lieber mich fahren, oder hast du etwas dagegen?«
Sie hatte völlig recht. Ich war ein unmöglicher Autofahrer; tief gekrümmt pflegte ich über dem Lenkrad zu kauern und dieses so fest umklammert zu halten, daß meine Finger noch Minuten nach der Ankunft am Ziel stocksteif waren. Ich kam mit dem Autofahren einfach nicht zurecht und war immer verkrampft dabei. »Ich habe überhaupt nichts dagegen«, sagte ich nur.
Ich folgte Etna durch die Seitentür hinaus und ging hinter ihr her den Gartenweg hinunter, der zur Remise führte. Eine halbe Stunde zuvor hatte es ein gewaltiges Gewitter gegeben, jetzt aber stand in einem klaren Himmelsstreifen am unteren Rand einer Wolkendecke die untergehende Sonne. Das Licht war größtenteils geschwunden, aber man konnte noch den Garten erkennen beziehungsweise das, was im Herbst von seiner Pracht geblieben war. Der Phlox stand zum Teil noch in Blüte. (Wie habe ich seinen Duft geliebt! Ich spiele immer wieder mit dem Gedanken, den Garten herzurichten, nur um wieder Phlox zu haben, aber da ich der einzige wäre, der sich daran freut, und sein Anblick gewiß Melancholie in mir wecken würde, halte ich es nicht für klug.) Der Garten war Etnas Werk, und es machte ihr Freude, mitunter morgens Gartenarbeit zu verrichten. In robuster Gärtnerschürze, Strohhut und Gummistiefeln sah sie auf eine liebenswerte Art komisch aus. Sie hatte eine geschickte Hand für die Rosen, die immer noch blühten und weiterblühen würden bis zum ersten tödlichen Frost. Wir hatten bis Mitte Oktober eigentlich immer dicke Rosensträuße auf dem Tisch im Vestibül stehen.
»Wenn ich zum Vorstand gewählt werde«, sagte ich zu Etnas kerzengeradem Rücken, »gebe ich jedes Jahr zwei Feste: eines im Herbst für die Dozenten – so eine Art Männergesellschaft mit Zigarren und Brandy und dergleichen – und dann im Frühling ein großes Gartenfest für die Familien. Im Mai, denke ich. Ich möchte den Garten voller Kinder sehen.«
»Das ist eine wunderschöne Idee«, sagte Etna.
Wie sie das manchmal in einem letzten Aufflackern zu tun pflegt, ließ die Sonne genau in diesem Augenblick die Rosen und den Phlox und den Lattenzaun, den Etna unbedingt hatte haben wollen, den Rasen und die Obstbäume und selbst meine geliebte Frau in ihrem verrückten Hut in einem so herrlichen Licht erstrahlen, daß es mir vor ehrfürchtigem Staunen den Atem raubte (und ich mich selbst heute noch an diesen Moment erinnere). In dieser einen Minute lag rosiges Schimmern über der Welt. Und vor der zurückweichenden dunklen Wolke stieg vom Nachbarfeld ein Regenbogen steil in die Höhe.
»Oh, Etna, schau!« rief ich.
Meine Frau blieb stehen, und während wir gemeinsam die Naturerscheinung betrachteten, ging mir der Gedanke durch den Sinn, daß meinem Leben und all meinen Besitztümern in diesem Moment ein heidnischer Segen erteilt wurde. Das Glück war mit mir, oder etwa nicht? Abgesehen von den nächtlichen Qualen der Unruhe, die ich in diesem rosigen Licht nur allzugern zu vergessen bereit war, führten Etna und ich eine gute Ehe, eine bessere als die meisten unserer Bekannten. Wir hatten nie Streit und behandelten einander nicht mit der wegwerfenden Geringschätzung, die ich so oft bei anderen Paaren erlebt hatte. Was habe ich für ein Glück! dachte ich, wie gebannt auf dem Gartenweg stehend. Das Glück, das sich mir mein Leben lang entzogen hatte, schien so fest in meiner Hand, daß ich es als solches zu benennen wagte. »Ich bin so glücklich«, sagte ich.
»Ach, mein Lieber«, sagte Etna.
»Ich werde den heutigen Abend sehr genießen«, fügte ich hinzu.
»Natürlich«, sagte Etna.
Feralds Haus war ein protziger Bau, der nicht in die Bescheidenheit der Yankeelandschaft paßte. Es war im georgianischen Stil aus englischem Kalkstein erbaut, den man eigens zu diesem Zweck importiert hatte. (Die Kosten müssen exorbitant gewesen sein – dabei liegt der Granit New Hampshires praktisch vor der Tür!) Es hatte einen prunkvollen Portikus, dessen Säulen über zwei Stockwerke in die Höhe ragten. Die schmucklosen Fenster waren groß, und ich denke, wenn man bereit war, die Maßlosigkeit zu vergeben, hätte man das Haus als stattlich bezeichnen können, ein Kommentar, der übrigens an diesem Abend von einer Reihe von Leuten gemacht wurde, denen daran lag, sich bei Ferald lieb Kind zu machen. (Das besagte Haus ist heute, wie ich mich freue berichten zu können, eine Blindenschule.)
»Du meine Güte«, sagte Etna, als wir die geschwungene Auffahrt hinaufgefahren waren.
»Tja, wer angibt, hat mehr vom Leben.«
»Trotzdem – es ist schon außergewöhnlich.«
»Manche Leute scheuen eben vor keiner Geschmacklosigkeit zurück, um ihren Reichtum zu demonstrieren.«
»Du magst ihn nicht besonders, hm?« sagte sie.
»Ich bemühe mich, ihm gegenüber die Form zu wahren«, gab ich zurück.
»Hältst du es für klug, lediglich die Form zu wahren? Unter den gegebenen Umständen?«
»Er hat nur eine Stimme von sieben. Und mindestens drei der übrigen sind mir sicher. Zu meinem Glück ist der Verwaltungsrat demokratisch eingestellt.«
Ferald begrüßte uns mit einem dünnen Lächeln, als wir ins Haus traten. »Professor Van Tassel, darf ich Sie mit meiner Frau Millicent bekannt machen.«
Da ich noch nie bei Ferald eingeladen gewesen war, kannte ich auch die Frau nicht, die er vor knapp einem Jahr geheiratet hatte, ein Luxusweibchen in Spitze und funkelnder Tiara. Sie war schlank und zierlich, ihr Haar beinahe so hell wie ihre Haut. Doch sie wirkte irgendwie verwirrt, wie jemand, der von einer Überraschung in die nächste fällt. Das ließ vermuten, daß Millicent Ferald ihrem raffinierten Ehemann nicht gewachsen war, und man bekam augenblicklich Mitleid mit ihr.
»Guten Abend«, sagte ich und gab ihr die Hand. »Das ist meine Frau Etna.«
(Wie sehr wir Männer doch unsere Possessivpronomen genießen.)
Etna lächelte der jüngeren Frau zu. Die übrigens noch sehr jung war; Millicent Ferald konnte höchstens zwanzig sein. »Sie haben ein wunderschönes Haus«, sagte Etna.
»Oh, finden Sie?«
»Ja, es ist sehr beeindruckend.«
»Sie finden es nicht zu groß?«
»Aber nein, gar nicht. Sie haben doch gewiß häufig Gäste.«
»Genau das macht mich ja so nervös«, bekannte Millicent Ferald. »Ständig diese vielen Gäste.«
Ferald, der kaum seinen Unmut über diesen offenherzigen Austausch beherrschen konnte, neigte sich, Etna demonstrativ ignorierend, dem Mann zu, der hinter ihr stand, um ihm die Hand zu geben. Es war eine Beleidigung, die ich Etna nicht spüren lassen wollte, und ich führte sie vom Eingangsportal weg.
Zum Glück eilte uns Moxon entgegen, der nur aus Armen und Beinen zu bestehen schien in seinem schlechtsitzenden Anzug mit zu kurzer Hose. Ich fragte mich, wie er je auf den Gedanken gekommen war, sich um den Posten des Collegevorstands zu bewerben. Außer dem Erfolg seiner populärwissenschaftlichen Byron-Biographie hatte er nichts vorzuweisen. Er war ein weitschweifiger Redner, der es nicht verstand, seine Zuhörer zu fesseln, und kleidete sich trotz eines ordentlichen Einkommens wie ein Handlungsreisender. An diesem Abend prunkte er in einer rotgestreiften Weste, die an jedem anderen vulgär ausgesehen hätte, bei Moxon jedoch nur skurril wirkte.
»Hallo, hallo!« rief er allzu laut. Seine Freude darüber, einen Freund zu sehen (sofern Moxon und ich überhaupt Freunde hatten), äußerte sich in seinem Ton und dem breiten Lächeln. »Ach, und Etna! Sie sehen fabelhaft aus.«
Moxon, der vom Pech Verfolgte, war mit der Tochter eines ortsansässigen Methodistengeistlichen verlobt gewesen, die ihn praktisch vor dem Altar hatte stehenlassen, als sie zur Vernunft gekommen und nach Boston aufgebrochen war, um dort am Simmons College zu studieren. Die junge Frau, die Moxons Byron-Biographie gelesen und sich danach eingebildet hatte, Moxon und Byron wären ein und dieselbe Person, war eine Zeitlang romantisch berauscht gewesen. Ich wußte, daß Moxon die Zurückweisung tief getroffen hatte, auch wenn er gute Miene zum bösen Spiel machte. Der Abend würde schwierig für ihn werden, fast alle älteren Kollegen waren verheiratet – bis auf den mönchischen Erling Morse, einen vertrockneten, vorzeitig gealterten Mann, der Alte Geschichte unterrichtete.
»Danke«, sagte Etna, als sie seinen Kuß entgegennahm. »Was für eine aparte Weste.«
»Scheußlich«, erklärte Moxon in heiter-wegwerfendem Ton. »Ich muß mir einen Schneider besorgen. Wie oft habe ich das schon gesagt! Nicholas hat einen ausgezeichneten Schneider. Nicht wahr, Nicholas? Feudal hier, wie?«
Etna blickte zu der von einer ziselierten Goldleiste umkränzten Kassettendecke hinauf.
»Wer denkt sich nur solches Geschnörkel aus?« wunderte ich mich laut, den Blick auf die seidenbespannten Wände gerichtet.
»Es gehört sogar ein Schwimmbad zum Haus«, bemerkte Moxon.
»Ferald als Sportsmann, das kann ich mir nicht vorstellen«, meinte ich.
»Ein Schwimmbad!« rief Etna. »Das ist ja toll.«
Ich war so abgelenkt von der Vorstellung, wie Etna im Schwimmkostüm ins Wasser eines Hallenbeckens glitt (aus irgendeinem Grund kamen mir eine Toga und Weintrauben in den Sinn), daß es einen Moment dauerte, ehe mir bewußt wurde, daß wir in den Salon weitergewandert waren, wo die meisten Gäste Champagner tranken (eine unnötige Extravaganz, fand ich, typisch für Ferald; unser Auftrag war es schließlich, für Bildung zu sorgen, nicht für gute Unterhaltung). Das Getränk rief merkliche Ausgelassenheit unter den Gästen hervor, seine sprudelnde Leichtigkeit verlieh den Stimmen allenthalben einen melodischen Klang. Es wurde viel gelacht, was nicht unwillkommen war. Ja, so mancher meinte später, Feralds Fest sei eines der lebendigsten in der jüngeren Collegegeschichte gewesen.
Kanapees wurden gereicht. Und noch mehr Champagner. Moxon ging im Gedränge verloren. Ich legte Etna meine Hand auf den Rücken, aber so, wie manchmal ein Ruderboot sich aus seiner Vertäuung löst und davontreibt, so wurde sie im Lauf des Abends durch verschiedene Begegnungen und Begrüßungen von mir getrennt. Ich unterhielt mich gerade mit Arthur Hallock über William Bliss’ Befinden (nicht gut), als ich nicht weit entfernt Eliphalet Stone stehen sah, einen Angehörigen des Verwaltungsrats. Da ich hier eine günstige Gelegenheit witterte, etwas für meine Kandidatur zu tun, wenn auch nur, indem ich ein Gespräch mit dem Mann anknüpfte, schob ich mich in seine Richtung.
»Es soll heute abend Hummer geben«, bemerkte ich, als ich ihn erreicht hatte.
Stone, der mindestens achtzig Jahre auf dem Buckel hatte, war kaum anderthalb Meter groß, und ich mußte mich zu ihm hinunterbeugen, um mich bei dem allgemeinen Lärm verständlich zu machen.
»Was sagten Sie?« Er hielt eine Hand hinter sein Ohr.
»Hummer!« Ich schrie fast.
»Oh, Hummer«, sagte er mit sichtlichem Ekel. »Kann ich nicht ausstehen.«
»Ach so«, sagte ich. »Hm, ja, vielleicht haben Sie recht.«
»Ich hab mich vorhin mal mit dem Burschen aus Bates unterhalten«, sagte Stone, ohne Umschweife zur Sache kommend. »Der, der es auf Ihren Posten abgesehen hat.«
»Sie meinen Fisher Talcott Ames.«
»Ziemlich langweiliger Kerl«, erklärte Stone. Das war ein recht interessanter Kommentar aus dem Mund eines Mannes, der weder für seine geistreiche Unterhaltung noch für seinen Witz bekannt war. »Ich bin für Sie«, fügte Stone hinzu. »Ich hasse Veränderungen.«
»Ja«, meinte ich zustimmend. »Das geht den meisten von uns so.«
»Wo ist denn Ihre schöne Frau?« erkundigte sich Stone.
Ich blickte umher, um meine schöne Frau zu präsentieren, und merkte erst da, daß sie mir abhanden gekommen war.
»Entschuldigen Sie mich einen Moment«, sagte ich zu Stone. Etna machte immer einen vorteilhaften Eindruck auf die Leute, ich sollte daher eine Gelegenheit zu einem Gespräch zwischen ihr und Stone nicht ungenutzt lassen. »Ich will gleich einmal sehen, ob ich sie finden kann.«
Aber wo war meine Frau? Nicht im Salon und nicht im Speisesaal. Ich begann unruhig zu werden. War ihr nicht wohl, war sie krank geworden?
Ich stahl mich davon und ging durch einen Korridor, in dem ziemlich gute Bilder hingen (darunter auch einige von der Hand eines niederländischen Meisters, wie ich mit Genugtuung feststellte). Das heitere Lärmen der Gäste verebbte, während ich weiter voranschritt. Der Flur war gefliest und führte, wie ich bald entdeckte, zur Schwimmhalle. Ich trat in einen blaugekachelten feuchtwarmen Raum. Das Becken war nicht so beeindruckend, wie ich es mir vorgestellt hatte; es schien kaum einem einzelnen ungestümen Schwimmer Platz zu bieten.
»Wozu ist es da, was meinst du?«
Ich schreckte zusammen. Etna hatte unmittelbar rechts neben der Tür gestanden, als ich eingetreten war, und ich hatte sie nicht bemerkt.
»Etna«, sagte ich erstaunt. »Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht.«
»Ich wollte das Schwimmbad sehen.«
»Du hättest mir Bescheid sagen sollen.«
»Du hast dich mit Mr. Stone unterhalten. Ich wollte euch nicht stören.«
»Wir haben hier nichts zu suchen«, sagte ich. »Das ist eine Übertretung des Gastrechts.«
Sie lächelte – ein entzückend spitzbübisches Lächeln. »Meinst du, man wird uns bestrafen? Vielleicht ohne Abendessen nach Hause schicken?«
Wäre es nicht gerade Feralds Haus gewesen, so hätte ich darauf bestanden, unverzüglich zur Gesellschaft zurückzukehren. Aber ich hatte bereits zwei Gläser Champagner getrunken, und die Vorstellung, Ferald zu nahe zu treten, reizte mich plötzlich. »Ich vermute, Ferald und seine Frau gehen hier schwimmen«, sagte ich.
Flüchtig sah ich Ferald vor mir, wie er in einem der Liegestühle am Beckenrand saß und seiner Frau Millicent zusah, die ausschließlich zu seinem Vergnügen nackt im Wasser herumpaddelte. Ich versuchte sofort, das Bild zu verscheuchen, nicht nur seiner Obszönität wegen, sondern weil es auch das weit beglückendere Bild von Etna mit der Toga und den Trauben verdrängt hatte. Ferald hatte tatsächlich etwas Verderbtes an sich – etwas Schlüpfriges, Sittenloses, hätte man vielleicht sagen können –, und während ich jetzt versuche, mir diesen Abend ins Gedächtnis zu rufen und eine Erinnerung zu Papier zu bringen, merke ich, daß sich immer wieder das Abbild dieses Gesichts in den Vordergrund schiebt.
Etna bückte sich, um das Wasser zu berühren, das im Schein der elektrischen Lichter funkelte. Sie ließ ihre Finger spielerisch über die Oberfläche gleiten und verlor sich einen Moment in Gedanken. Vielleicht erinnerte sie sich an einen unserer gelungenen Ausflüge ans Meer.
Zufrieden ließ ich meinen Blick auf ihr ruhen. »Erinnerst du dich an etwas Schönes?« fragte ich nach einer Weile.
Sie sah zu mir hinauf.
»Du«, sagte ich. »Jetzt eben. Es sah aus, als hättest du eine schöne Erinnerung.«
»Ich habe viele schöne Erinnerungen, Nicholas«, erwiderte sie.
»Ich hoffe, es sind einige dabei, in denen ich vorkomme«, sagte ich.
Sie richtete sich auf und schüttelte das Wasser von ihren Fingern. »Natürlich habe ich schöne Familienerinnerungen«, sagte sie mit Bedacht.
Sie ging über die Fliesen am Beckenrand zu einem Korbstuhl, der nah am Wasser stand, und setzte sich. Ihr Rock rutschte ein wenig in die Höhe. Vom Anblick der kupferfarbenen Fesseln angelockt, setzte ich mich in den Stuhl neben ihr. An der Wand gegenüber standen viele Pflanzen, die in der feuchten Wärme der Halle prächtig gediehen. Etnas Haar ringelte sich an den Schläfen. Ich neigte mich zu ihr und ergriff ihre Hand.
»Ist es dir denn so wahnsinnig wichtig?« fragte sie.
»Dein Glück, meinst du?«
»Nein, ich meinte die Stellung. Als Vorstand des College.«
»Ja. Ja, ich denke schon«, antwortete ich. »Ich bin ein ehrgeiziger Mensch.«
»Aber doch nicht übermäßig.«
»Ich habe diesen Posten schon seit einigen Jahren im Auge.«
»Du wirst mehr arbeiten müssen.«
»Ich betrachte es als eine Herausforderung.«
»Ja, natürlich«, sagte sie mit einem Lächeln.
»Was ist so erheiternd?«
»Ich habe mich gerade erinnert, wie wir zum erstenmal in der Kimball Street zusammen Tee getrunken haben. Damals sagtest du, du wärst bereit, Jahre auf Noah Fitchs Posten zu warten. Ich war beeindruckt von deiner Geduld.«
»Das scheint so lange her zu sein«, sagte ich, in Gedanken bei jenem schönen Nachmittag. »Ich weiß noch, daß du von Newman gesprochen hast.«
»Ja, und du warst erstaunt, daß ich von dem Mann überhaupt gehört hatte«, gab Etna zurück.
»Das stimmt, ja. Ich weiß, ich hätte es nicht sein sollen. Das ist mir heute klar. Du hast von Freiheit gesprochen.«
»Ja?« Sie entzog mir ihre Hand. »Vielleicht sollten wir jetzt lieber zurückgehen. Man wird uns vermissen.«
»Bleib noch einen Moment«, sagte ich, noch nicht bereit, sie den anderen zu überlassen.
Ich wollte meiner Frau etwas sagen. Jetzt, nach all den Jahren. Das gekräuselte Wasser in Verbindung mit einem gewissen Element der Gefahr machte mich waghalsig. Und obwohl ich mir einer strengeren, vernünftigeren Stimme in mir bewußt war, die nein rief, zog es mich unwiderstehlich in die Gefahr. »Ich wünschte …«, begann ich.
Etna wandte sich mir zu. Sie wartete. »Was wünschtest du, Nicholas?« fragte sie schließlich.
Ich versuchte, die Worte zu der Frage zu finden, auf die ich unbedingt von meiner Frau eine Antwort haben wollte. Ich öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Wie sollte ich es nur ausdrücken? Wie es am taktvollsten formulieren? Sollte ich mit einer Bitte um Verzeihung beginnen? Sollte ich zur Einleitung sagen, daß mir klar sei, wie beleidigend so eine Frage sein könnte, daß ich aber nun schon so lange auf eine Antwort gewartet hätte? Ich hatte ja wirklich Geduld gezeigt. Und das war doch eine Antwort, auf die ein Ehemann ein Recht hatte?
Wieder öffnete ich den Mund. Kann sein, daß ich mich vorbeugte. Vielleicht beugte sich auch Etna vor. Ein langes Schweigen schien sich zwischen uns zu drängen.
»Ich wünschte, ich könnte unsere Hochzeitsreise vergessen«, platzte ich heraus.
Etna fuhr ein wenig zurück – erschrocken, vermute ich, von der Heftigkeit meiner Worte. Sie verharrte in einer Haltung absoluter Reglosigkeit, wie ich das in Augenblicken der Furcht oder der Verwirrung stets bei ihr erlebt hatte. Wir hatten nie zuvor über die Ereignisse während unserer Hochzeitsreise gesprochen, und ich war jetzt entsetzt darüber, daß ich meine Zunge nicht im Zaum gehalten hatte.
»Es ist ja nur …«, sagte ich in dem Bemühen, abzumildern und zu erklären. »Es scheint doch …« Ich merkte, daß ich den quälenden Verdacht jener Nacht nicht in Worte fassen konnte. Ich konnte sie nicht fragen, ob sie vor mir andere Liebhaber gehabt hatte. Die Vernunft hatte über blinden Mut gesiegt. »Ich kann es wirklich nicht sagen«, meinte ich hilflos.
Etna schüttelte den Kopf. »Was ist denn nur los, Nicholas?« fragte sie. »Du benimmst dich heute abend wirklich sehr merkwürdig.«
»Es ist nichts«, versicherte ich. »Es ist nur …« Ich konnte nicht fortfahren. Aber ich bin sicher, daß sie verstand. Sie legte mit so zärtlicher Geste und so liebevoll ihre Hand auf die meine, daß es mir noch heute bei der Erinnerung den Atem raubt.
»Nicholas, manchmal bringst du mich wirklich zum Lachen. Du bist so ernst und so heftig bemüht.«
»Wir alle sind bemüht, jeder auf seine Weise«, entgegnete ich.
»Man hat mir erzählt, daß es hier auch einen Wintergarten gibt«, sagte sie und stand auf.
»Einen Wintergarten«, wiederholte ich, ebenfalls aufstehend. »Noch so eine englische Affektiertheit. Wenn Ferald England so großartig findet, sollte er vielleicht einfach dorthin übersiedeln.«
»Würde dich das glücklich machen?« erkundigte sich Etna.
Ich zog meine Weste herunter, die über meinem runden Bauch in die Höhe gerutscht war. »Ich bin schon glücklich«, behauptete ich.
Wir verließen die Schwimmhalle. Während wir von Raum zu Raum gingen, konnte ich das Stimmengemurmel aus den Gesellschaftsräumen des Hauses hören. Nach einiger Zeit fanden wir den Wintergarten, durch dessen Glasdach man die Sterne betrachten konnte. Weiter entdeckten wir eine sehr moderne Küche, die mit den neuesten Geräten ausgestattet war: einem Toaströster, einem Eisschrank, einer elektrischen Heizplatte. Wir unternahmen eine hastige Besichtigungstour durch eine Speisekammer, die beinahe so lang zu sein schien wie die Südseite unseres gewiß nicht kleinen Hauses. Wie Kinder, die meinen, sich einen tollen Streich geleistet zu haben, ohne ertappt worden zu sein, kehrten wir schließlich ins gesellschaftliche Treiben zurück.
Ein Bediensteter präsentierte ein Tablett mit Champagnerkelchen. Etna und ich nahmen jeder einen und stießen miteinander an. Das schneidende Klirren eines silbernen Messers an einem Weinglas durchbrach unsere Verschwörerstimmung. Alle drehten die Köpfe, um zu sehen, woher der Aufruf kam.
Als Edward Ferald aller Aufmerksamkeit auf sich versammelt sah, stellte er das Glas nieder und legte das Messer zur Seite. »Freunde und Kollegen, ich heiße Sie und Ihre charmanten Gemahlinnen willkommen«, begann er.
Das Kompliment wurde mit höflichem Gelächter quittiert. Man konnte allerdings nicht umhin zu vermerken, daß an Feralds Seite nicht seine charmante Gemahlin stand, sondern Phillip Asher, Professor der Yale-Universität.
»Ich danke Ihnen allen, daß Sie an diesem schönen Oktoberabend meiner Einladung gefolgt sind«, fuhr Ferald fort. »Ich will Sie nicht lange vom Abendessen abhalten, aber ich möchte doch denjenigen unter Ihnen, die ihn noch nicht kennengelernt haben, meinen besonderen Gast vorstellen, Phillip Asher, Professor der Philosophie an der Yale-Universität. Professor Asher hat sich freundlicherweise bereit erklärt, die Kitchner-Vorlesungen an unserem College zu halten.«
An dieser Stelle gab es einiges Gemurmel, sogar etwas Applaus.
»Professor Asher, der an der Harvard-Universität promoviert hat, ist in London geboren, emigrierte im Alter von sechs Jahren in die Vereinigten Staaten und ist hier, in unserem schönen New Hampshire, aufgewachsen. Er ist nicht nur Ethiker und Dichter, sondern auch Forscher und ist erst kürzlich von einer Expedition nach Neuguinea zurückgekehrt«, verkündete Ferald. »Für das laufende Semester hat Yale ihn beurlaubt, aber vielleicht …« (hier zwinkerte Ferald, ein ausgesprochen schmieriger Anblick, und legte Asher besitzergreifend den Arm um die Schulter) »… können wir Professor Asher überreden, ein wenig länger zu bleiben.«
Auf der Suche nach einem Ort, wohin er seinen verlegenen Blick wenden konnte, sah Asher mich an, und im selben Moment erkannte ich das Offenkundige.
Asher war Kandidat für den Vorstandsposten. Es war nur allzu klar.
Schockiert über diese neue, sichere Erkenntnis, sah ich mir den Mann genauer an. Er war alles, was ich nicht war. Er konnte sich auf englische Vorfahren berufen, ich mich nur auf ein behäbiges niederländisches Erbe. Er war offensichtlich ein brillanter Gelehrter, ich nur ein braver Schulmeister. Er ein Dichter, ich ein kleiner Pedant. Ich ließ im Geist jene Angehörigen des Verwaltungsrats Revue passieren, denen Asher vermutlich zusagen würde, als da waren: der hochwürdige Mr. Frederick Stimson, derzeit Pastor am College (den die Vorstellung von einem Ethiker als Collegevorstand zweifellos faszinieren würde); Howard Yates, ein Bankier aus einer alten Familie Neuenglands; Clark Price, erklärtermaßen anglophil; ganz zu schweigen von dem allgegenwärtigen Ferald, von dem ich wußte, daß er mich verachtete. Konnten pflichtbewußtes bürokratisches Ackern und verbissenes geistiges Bemühen mit vielseitigem Intellekt und musischer Begabung konkurrieren?
Ashers Blick ließ mich nicht los, und ich wußte nur zu gut, was er sah: einen Mann, der dank seiner sitzenden Tätigkeit mit den Jahren korpulent geworden war; bei dem der Haaransatz mit der gleichen Geschwindigkeit zurückging, mit der die Mitte an Umfang gewann. Wußte er, daß auch ich ein Kandidat war? Hatte Ferald ihn davon unterrichtet, oder war er fähig, beim anderen den Ehrgeiz zu wittern?
Als am Abend des Hotelbrands mein Blick zum erstenmal auf Etna Bliss gefallen war, hatte ich heißestes Verlangen verspürt. Dieser Moment hatte mein Leben für immer verändert. Ich hatte es mir längst angewöhnt, es in die Zeit vor Etna und die Zeit nach Etna zu unterteilen. So war die Situation, als ich sehen mußte, wie Ferald Asher unter seine Fittiche nahm. Eifersucht sprang auf und sandte ihre Flamme in die Höhe, und ich erkannte, daß ich diese Leidenschaft noch nie in ihrer ganzen Tiefe ausgelebt hatte, nicht einmal in meinen Phantasien, wenn ich neben Etna in unserem Ehebett lag. Das war, im Vergleich, eine Art kopfgeborenen Neids gewesen, der sich im hellen Licht des Frühstückszimmers schnell wieder verflüchtigte. Aber dies – dies war etwas andres: die Kehrseite der Bewunderung, die dunklere Seite der Liebe.
(Mir kommt jetzt, zwanzig Jahre nach den geschilderten Ereignissen, der Gedanke, daß starke Leidenschaft oder Eifersucht sich vielleicht auf ein Zusammenspiel chemischer Reaktionen reduzieren läßt, die jedesmal von neuem ausgelöst werden, wenn die Erinnerung an das Initialereignis geweckt wird. Wenn das so ist, was für ein chemisches Gewitter muß dann in meinem Gehirn toben, während ich diese Erinnerungen niederschreibe!)
(Ich muß einmal den Chemieprofessor nach den chemischen Abläufen im Gehirn fragen, wenn ich wieder in Thrupp bin.)
In dieser Nacht schlief ich äußerst schlecht, eigentlich fast gar nicht, und spürte an Etna, die neben mir lag, von Zeit zu Zeit eine gespannte Wachheit, die ich sonst nicht an ihr kannte. Ich schrieb ihre Schlaflosigkeit der Tatsache zu, daß sie auf der Abendgesellschaft bei Ferald kurz ungewollt Aufmerksamkeit erregt hatte. Sie hatte sich beim Gastgeber mit der Erklärung entschuldigt, ihr sei das beschlagene Champagnerglas unglücklicherweise ausgerechnet in dem Moment der Stille nach Feralds Einführung des Kollegen Asher aus den Fingern gerutscht und zu Boden gefallen. Mich selbst hielt das Bild von Phillip Asher wach, dessen patrizische Züge ich allzu klar vor mir sah.
So trieben Etna und ich auf den stürmischen Wogen der Schlaflosigkeit dahin – zwei kleine Boote, von denen das eine bald sichtbar, bald verloren war und das andere aus einem Wellental aufstieg, um im nächsten zu versinken –, bis wir morgens von unserem Mädchen Abigail geweckt wurden. Als hätte sie das Klopfen seit Stunden erwartet, sprang Etna so schnell aus dem Bett, daß ich nicht einmal ein kurzes Wort an sie richten konnte.
Wir trafen wie immer nach der Morgentoilette im Frühstückszimmer zusammen. Aber das gewohnte Aufatmen nach der Befreiung aus den nächtlichen Spannungen zwischen uns blieb an diesem Morgen aus. Wir begrüßten einander nicht wie gute Freunde (kein Kuß an diesem Morgen, soweit ich mich erinnere), sondern eher wie geistig erschöpfte oder zerstreute Kollegen, die jeder in stummem Dialog mit anderen Personen stehen. Über Etnas Gedanken kann ich natürlich nichts sagen (ich glaubte damals, sie sei damit beschäftigt, sich eine weitere Entschuldigung für Millicent Ferald zu überlegen), ich kann nur von meinen eigenen berichten, die von ängstlicher Besorgnis und taktischen Überlegungen geprägt waren.
Ich ging noch einmal alles durch, was am Vortag gesprochen worden war – sowohl im Korridor der Chandler Hall als auch auf Feralds Empfang –, und formulierte im nachhinein, wie das die meisten von uns gern tun, kluge oder geistreiche Antworten, die in ihrer Schlagfertigkeit der reine Hohn waren, da sie niemals wirklich ausgesprochen werden konnten. Wie sehr wünschte ich, die Zeit ließe sich zurückdrehen, und ich könnte als der selbstbewußte und großzügige Professor auftreten, der bei dem Gedanken an ernsthafte Konkurrenz nicht zitterte und zagte, sondern wie ein echter Sportsmann den Wettstreit willkommen hieß, ja, sogar unterstützte. Aber da ich nie ein Sportsmann gewesen bin und Feralds Bemerkungen mich völlig unvorbereitet getroffen hatten, wirbelte in meinem Kopf ein Strudel wirrer Gedanken, die ich in Etnas Gegenwart lieber nicht in Worte fassen wollte.
Mit dem Seelenfrieden war mir auch der Appetit abhanden gekommen, und ich stocherte wie ein Kind im schleimigen, eklig aussehenden Gelb meines Frühstückseis herum. Ich mußte Asher aufsuchen, sagte ich mir. Ich mußte mit ihm sprechen, um herauszufinden, wie bedrohlich der Mann tatsächlich war. Ich wußte, daß Eliphalet Stone nicht gern einen Kandidaten von außerhalb auf dem Posten des Collegevorstands sehen würde. Er war der Meinung, und das mit Recht, daß nur jemand, der aus den Reihen der am College tätigen Dozenten hervorgegangen war, die besonderen Bedürfnisse Thrupps erfassen könnte. Genauer gesagt, Stone war gegen jede Erweiterung. Er meinte, wenn zu seiner eigenen geistigen Bildung Latein, Rhetorik und Bibelauslegung ausgereicht hatten, dann sei ein solches Curriculum auch für die nachfolgenden Generationen gut genug.
Ich war nicht so konservativ wie er, aber meiner Auffassung nach sollte Geld lieber in die Bibliothek gesteckt werden als in zusätzliche naturwissenschaftliche Fakultäten. Im Geist entschuldigte ich mich bei dem schwerkranken William Bliss, der allerdings an dieser Debatte wahrscheinlich so wenig interessiert war wie Mary, die mit einem Blick der Mißbilligung meinen praktisch unberührten Teller abdeckte.
Aus dem Augenwinkel sah ich Etna nach der Zuckerdose greifen. Das erinnerte mich daran, wie unhöflich ich mich benahm, und ich bemühte mich augenblicklich, meine Nachlässigkeit wiedergutzumachen.
»Das war ein netter Abend gestern«, bemerkte ich, das Schweigen zwischen uns brechend.
»Ja«, sagte sie.
»Du solltest dir wirklich keine Sorgen mehr wegen des zerbrochenen Champagnerglases machen«, sagte ich.
»Pardon?«
»Das Glas, das du hast fallen lassen.«
»Ach so.« Sie nahm zwei Löffel Zucker (sonst nahm sie immer nur einen).
»Du hast dich angemessen entschuldigt«, fuhr ich fort, »du solltest dir weiter keine Gedanken machen.«
Ich sah sie an, und mir fiel auf, daß sie sehr blaß war. »Fühlst du dich nicht wohl?« fragte ich sogleich. »Ich habe gesehen, daß du zwei Löffel Zucker genommen hast.«
»Wirklich?«
Sie nahm sich zusammen und aß einen Bissen Toast. Offenbar half ihr das, denn sie lächelte mich an. »Ich muß heute nachmittag ins Baker-Haus und werde vielleicht nicht vor fünf zurück sein«, sagte sie.
»Ach?« versetzte ich. »Du bist gar nicht dafür gekleidet.«
Tatsächlich trug Etna eine rosarote Seidenbluse, die meiner Meinung nach für die Arbeit bei den Armen überhaupt nicht geeignet war.
»Ich hatte ursprünglich nicht vor, heute hinzufahren, aber jetzt habe ich das Gefühl, ich muß«, erklärte sie.
Diese Erklärung, daß ein Bedürfnis sie treibe, und die Schnelligkeit, mit der sie gegeben wurde, machten mich neugierig. Es kam nicht oft vor, daß ich bei meiner Frau Verlangen in irgendeiner Form bemerkte, und ich begann darüber nachzudenken, daß Wohltätigkeit, wenn auch großherzig, nicht ganz selbstlos ist und nicht nur dem Empfangenden, sondern auch dem Gebenden hilft.
»Aber zum Essen bist du wieder da?« fragte ich.
»Ja, natürlich«, antwortete sie, während sie sich etwas auf dem Block notierte, der neben dem Besteck lag.
Ich betrachtete das Profil meiner Frau, während sie sich über das Papier beugte. (Ich war sicher, daß sie kurzsichtig war, aber sie gab es nicht zu – eine kleine Eitelkeit, für die ich bei einer Frau Verständnis hatte; seltsamer Zufall, daß ich seit langem eine Brille trug, obwohl ich – selbst mit fünfundvierzig – keine brauchte.) Das Licht vom Fenster lag auf ihrem Gesicht – den stark ausgeprägten Wangenknochen, den dunkelbraunen Wimpern, die ihre mandelförmigen Augen umkränzten, dem Ansatz ihres Haars an der Schläfe, dem langen Hals, der nur feine Fältchen aufwies. Ihre Schrift war groß und steil, und ich strengte mich an, um ihre Liste zu lesen, aber abgesehen von den Wörtern Lamm und Karbol konnte ich nichts entziffern.
Dann wurde meine Aufmerksamkeit vom Erscheinen unserer Kinder abgelenkt. Clara, die ihre Klassenarbeit in Geometrie erfolgreich hinter sich gebracht hatte, war weit besserer Stimmung als am Vortag und machte sich gleich mit Appetit über ihre Hafergrütze her, während Nicodemus, der kein guter Esser war, seine Schale mit Mißtrauen beäugte.
»Es ist nur Hafergrütze, Nicky«, sagte Etna.
»Ich will braunen Zucker und Rosinen«, erwiderte er, und Etna, die ihm oft nachgab, nickte Mary zu.
Wir hatten nur drei Dienstboten: Mary, unser Hausmädchen Abigail und Warren, den Gärtner. Nicht viele für die damalige Zeit. Nichts im Vergleich zu den dreizehn Hausangestellten Feralds oder den sieben Moxons. (Ich fragte mich oft, was sie den ganzen Tag taten. Moxon war nicht einmal verheiratet. Habe ich erwähnt, daß Moxon unerwarteten Erfolg mit seiner Biographie Lord Byrons hatte, einem populärwissenschaftlichen Werk, das ihm ein kleines Vermögen einbrachte? Ja, möglich. Neidete ich Moxon den Erfolg? Hm, ja, vielleicht.)
»Du siehst richtig gut aus heute«, sagte ich zu Clara. Mir war in den letzten Monaten aufgefallen, daß unsere bisher so spillerige Clara sich hübsch zu runden begann, daß sie größer wurde und ihr Körper so etwas wie weibliche Formen anzunehmen begann. Und ich beobachtete mit Befriedigung, daß sie allmählich einige ihrer burschikosen Angewohnheiten ablegte (mit gespreizten Knien zu sitzen; zu laufen anstatt gesittet zu gehen; herumzuzappeln, wenn sie still sitzen sollte wie zum Beispiel in der Kirche) und deutlich anmutiger in ihren Bewegungen wurde. Aber sie war natürlich immer noch ein Kind, vor allem im Umgang mit ihrem Bruder.
»Nicky hat seinen Namen hinten auf die Tür von seinem Zimmer geschrieben«, verkündete sie jetzt mit unverhohlener Schadenfreude sehr zum Schrecken ihres Bruders.
»Hab ich nicht!« rief er mit tränenerstickter Stimme, die uns das Gegenteil verriet. Er war mit seinen sechs Jahren unfähig zu lügen (und ist es heute immer noch, wie ich mich freue sagen zu können).
»Hast du doch!« beharrte Clara, »N-i-c-o-d-e-m-a-s. Nicht mal richtig geschrieben hat er es.«
»Ist das wahr?« wandte sich Etna an Nicky.
Jetzt begann er so heftig zu weinen, daß ihm die Tränen die Wangen hinunterliefen, und wurde darüber noch zorniger.
»Womit hast du denn deinen Namen geschrieben?« fragte Etna sanft.
»Mit der schwarzen Malkreide aus meinem Zeichenkasten«, rief Clara prompt. »Und er hat die Kreide auch noch zerbrochen.«
Der Kleine konnte einem jetzt nur noch leid tun. Er hatte schließlich nichts Schlimmeres getan, als seine Zimmertür zu kennzeichnen (ich war sicher, die Kreide würde sich mühelos abwischen lassen), wohingegen Clara gepetzt hatte, was weit verwerflicher war. Das sind die kleinen Aufgaben, die einem als Eltern täglich präsentiert werden: die harmlosen von den nicht ganz so harmlosen Vergehen zu sondern.
»Nicky«, sagte Etna ruhig, »wenn du gefrühstückt hast, wischst du deinen Namen von deiner Zimmertür. Und du mußt Clara für die Malkreide bezahlen.«
»Aber womit soll ich das denn machen?« fragte Nicodemus.
»Mit Geld aus deinem Sparglas«, sagte seine Mutter.
»Aber was ist eine Malkreide überhaupt wert?«
»Zehn Cents«, sagte Clara prompt.
Mir war klar, daß diese Debatte, wenn man sie Clara und Nicky überließ, nie zu einem zufriedenstellenden Ende kommen würde, darum verfügte ich ganz willkürlich, daß Nicodemus seiner Schwester einen Penny bezahlen sollte, worüber Clara, nach deren Meinung die Malkreide viel mehr wert war, empört war, Nicky jedoch sehr zufrieden, da die Diskussion damit beendet war.
Die Kinder wandten sich ihrem Frühstück zu, und in der kurzen Stille, die eintrat, fielen sofort wieder die Gedanken an Asher über mich her. Weder hörte ich den Rest der Unterhaltung bei Tisch, wenn es eine solche gab, noch nahm ich ein einziges Wort meiner Zeitungslektüre auf. Ich sah nur die kühlen und selbstsicheren Gesichtszüge des Mannes aus Yale. Würden nicht Ashers hervorragende Referenzen und Feralds Intriganz ausreichen, um den Verwaltungsrat zugunsten Ashers zu beeinflussen? Einen Moment lang erwog ich allen Ernstes die Möglichkeit, nicht gewählt zu werden. Ich muß etwas unternehmen, dachte ich. Aber was?
»Liebes«, sagte ich und stand auf, »ich muß gehen. Ich bin spät dran.« Ich neigte mich zu Etna hinunter und küßte ihren Scheitel.
»Oh?« Sie sah zu mir auf.
»Eine Besprechung«, erklärte ich. »Ich hätte sie beinahe vergessen.«
»Soll ich dich im Auto mitnehmen?«
»Nein, nein, das ist nicht nötig. Ich gehe zu Fuß. Ich brauche die Bewegung.«
Ich wollte mich nicht von Etna fahren lassen, denn ich hatte gar nicht vor, ins College zu gehen. Ich wollte ins Hotel Thrupp. Ich wußte nicht genau, was ich dort tun würde; ich hatte einfach das Gefühl, ich müßte mich jetzt dorthin begeben.
Das Hotel war nach dem Brand im Jahr 1899 wieder aufgebaut und nach Art eines neuenglischen Gasthauses im Kolonialstil des 18. Jahrhunderts ausgestattet worden, was mir sehr gefiel; wie ich vielleicht erwähnte, hatte ich für das üppige Dekor des 19. Jahrhunderts nicht viel übrig. Holzfußböden mit guten Perserteppichen, helle Tapeten mit weißer Sockeltäfelung, schlichte Möbel aus Kirschholz und Mahagoni empfingen den Gast im Foyer des Hotels, wo ich untätig verweilte in der Hoffnung, daß Asher vorbeikommen würde. Ich wollte dann so tun, als wäre die Begegnung rein zufällig, und ein Gespräch beginnen. Mir lag sehr viel daran, mit dem Mann zu sprechen, ohne den scharfen Blicken Feralds und seiner Kumpane ausgesetzt zu sein. Genauer gesagt, ich wollte nicht bei einem Treffen mit Asher im College beobachtet werden. Eine Zufallsbegegnung im Ort jedoch, ein, zwei Worte – daran war nichts auszusetzen.
Ich machte es mir in einem Sessel in der Ecke bequem, nahm die Thrupp Gazette zur Hand und registrierte zum zweitenmal an diesem Tag nicht ein Wort der gedruckten Nachrichten. Ich wartete so lange, wie man etwa braucht, um eine Lokalzeitung durchzublättern, und wollte gerade aufbrechen, um mich in mein Büro im College zu begeben (das ehemalige Büro Noah Fitchs, in dem ich elektrisches Licht hatte installieren lassen), als mir der Gedanke kam, daß Asher vielleicht im Hotel beim Frühstück saß. Ich machte mich auf den Weg in den Speisesaal, und da saß er tatsächlich, an einem Tisch in der Ecke.
Ein Ober fragte mich, ob ich an diesem Morgen im Hotel speisen würde, und ich packte die unerwartete Gelegenheit beim Schopf und bejahte. Als ich zu einem Tisch geführt wurde, kam ich an dem Phillip Ashers vorüber.
»Professor Asher«, sagte ich angemessen überrascht (wie ich hoffte). »Guten Morgen.«
»Van Tassel.« Asher hielt die weiße Serviette auf seinem Schoß fest, als er aufstand. Er schien einen Moment außer Fassung, als fühlte er sich überrumpelt.
»Ich hoffe, Sie haben einen angenehmen Aufenthalt in Thrupp«, sagte ich.
»Absolut.«
»Das war ein recht netter Abend gestern.«
»Ja. Ja, gewiß.« Er wischte sich mit der Serviette etwas Ei vom Schnurrbart.
»Bitte, lassen Sie sich nicht stören«, sagte ich mit einer Handbewegung zu seinem Teller.
Asher schwieg, als erwöge er verschiedene Erwiderungen, und es bereitete mir Genugtuung zu sehen, daß der Mann vielleicht doch nicht so schlagfertig war, wie ich anfangs geglaubt hatte.
»Frühstücken Sie auch hier?« fragte er schließlich.
»Das tue ich regelmäßig – ein-, zweimal die Woche«, log ich und setzte mit Verschwörermiene hinzu: »Unsere Köchin macht manchmal eine grauenvolle Hafergrütze, die ich beim besten Willen nicht hinunterbringe.« Ich warf einen unmißverständlichen Blick auf den freien Stuhl an seinem Tisch.
»Wollen Sie sich nicht zu mir setzen?« fragte Asher.
Ohne ihm zu der Bemerkung Zeit zu lassen, daß er mit seinem Frühstück beinahe fertig sei, nahm ich sein Angebot an, das sicher nicht ganz aufrichtig war. (Wie hätte es das auch sein sollen? Ich hatte mich ihm ja aufgedrängt.)
»Mit Vergnügen«, sagte ich. Dem Kellner, der gewartet hatte, um mich zu meinem Tisch zu bringen, bedeutete ich zu gehen. »Ich würde mich gern mit Ihnen über die Vorlesungsreihe unterhalten, auf die ich schon sehr gespannt bin. Sie beginnt am Donnerstag, nicht wahr?«
Ich setzte mich an den Tisch. Da ich selten im Hotel aß, kannte ich die Frühstückskarte nicht. Ich bestellte Eier, Toast und Orangenmarmelade, als der Kellner wieder kam.
»Das ist richtig«, bestätigte Asher. Er schien den Appetit verloren zu haben. Aber vielleicht war er auch einfach gesättigt. Die Handgelenke an der Tischkante, beugte er sich ein wenig vor und blickte von mir zum Fenster, dann wieder zu mir, bevor er weitersprach. Sein von Natur aus blasses Gesicht schien an diesem Morgen beinahe durchsichtig. »Ich hoffe, die Vorträge geraten mir nicht allzu trocken.«
»Unsinn«, sagte ich. »Aber ich kann mir vorstellen, daß New Haven Ihnen fehlt.«
»Oh, ich freue mich, Neuenglands vielgerühmten Herbst hier oben zu erleben. Die Farben sind ja um so kräftiger, je weiter man nach Norden kommt.«
»Da gibt es eine Grenze«, sagte ich. »In Kanada sollen sie blaß sein, habe ich gehört.«
»Hm, ja«, sagte Asher. »Ich bezog mich auf Neuengland.«
»Aber Thrupp kann doch jemandem, der das hohe wissenschaftliche Niveau Yales gewohnt ist, kaum etwas zu bieten haben«, meinte ich. »Ich beneide Sie.«
»Wirklich?«
»Ich beneide jeden, der Gelegenheit zu lebendiger Auseinandersetzung mit Gleichgesinnten hat, etwa über das Werk Bertrand Russells oder Hilaire Bellocs oder auch Ben Jonsons.«
»Ich fürchte, bei Ben Jonson kann ich nicht mitreden«, sagte Asher. »Das ist nicht mein Gebiet.« Er hielt einen Moment inne, als könnte er sich nicht erinnern, welches sein Gebiet war, und ich bemerkte, daß er mit großer Aufmerksamkeit mein Gesicht musterte – ein Gesicht, das so viel Aufmerksamkeit gewiß nicht wert war.
»Ein Dichter von mäßiger Bedeutung«, sagte ich und unternahm meinerseits eine kleine Musterung.
Ashers Gesicht war markant geschnitten, die Wangenknochen traten deutlich hervor, die Augen waren von einem reinen Grau. Er war ohne Zweifel ein gutaussehender Mann, eine Feststellung, die mich beunruhigte, da ich nur zu gut wußte, daß die Schönheit eines Menschen andere leicht für ihn einnimmt. Und ich wußte, daß auch das Umgekehrte galt: Bei mir selbst hatte sich die Tatsache, daß ich kein schöner Mensch bin, gelegentlich als Hindernis auf dem Weg nach oben erwiesen. (Aber lassen Sie mich hier die Chronologie kurz durchbrechen, um zu erzählen, daß ich Asher mehr als ein Jahrzehnt später zufällig in der Newbury Street in Boston begegnete und mit Entsetzen sah, wie sehr die Jahre ihm zugesetzt hatten. Er war schlicht und einfach verblaßt. Sein Haar war weiß, und seine Augenbrauen waren so hell, daß sie nahezu unsichtbar waren. »Es war nicht wahr«, sagte ich zu ihm, während wir auf dieser hübschen Straße in Boston beieinanderstanden. Asher nickte, einen Augenblick sprachlos.)
»Ich fürchte, Sie werden Thrupp sehr eintönig finden«, sagte ich.
»Bisher kann ich das nicht behaupten.«
»Aber Sie werden es bald leid sein, glauben Sie mir. Ich gebe gern zu, daß es in den verschiedenen Fakultäten einige ausgezeichnete Köpfe gibt, aber es ist einfach so wenig los in Thrupp«, sagte ich. »Kein Theater, keine Konzerte.«
»Tatsächlich?« fragte er. »Man sagte mir, die Cushing-Konzerte seien durchaus hörenswert.«
»Aber sie finden im Frühjahr statt«, sagte ich.
»Ja«, sagte er.
»Und bis dahin sind Sie schon wieder in New Haven«, sagte ich.
»Ich bin das ganze Jahr freigestellt«, sagte er.
»Ach ja, richtig, richtig«, sagte ich. »Haben Sie Familie?«
»Ich bin nicht verheiratet, falls Sie das meinen.«
»Sie haben in Harvard studiert?«
»Ja.«
»Hat Ihnen Cambridge nicht gefallen?« fragte ich.
»Das war es nicht«, antwortete Asher mit Bedacht. »Es war einfach so, daß New Haven damals für mich das Beste zu sein schien.«
»Sie sind von London nach Cambridge gegangen, dann nach New Haven, und nun sind Sie in Thrupp, Professor Asher. Sie sind ein Nomade. Der sich in die falsche Richtung bewegt, würde ich sagen.«
»Oder in die richtige, es kommt ganz auf den Standpunkt an«, erwiderte er ruhig.
»Natürlich.« Ich beschäftigte mich mit meinem Frühstück. »Verzeihen Sie die Frage, aber wie alt sind Sie?«
»Vierunddreißig.«
»So jung noch!«
Asher sagte nichts.
»Trotzdem Zeit, an eine Familie zu denken«, bemerkte ich.
»Vielleicht.«
»Allerdings sollte man nicht hoffen, in Thrupp die passende Frau zu finden.«
»Nein?« fragte er.
»Sie sind alle unmöglich«, erklärte ich.
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Asher.
»Nun also – da hätten wir Sarah Griggs, die eine unglaublich schrille Stimme hat. Man kann sie höchstens einige Minuten lang ertragen. Sie ist die Tochter des Rektors. Dann gibt es Julia Phipps, die Tochter des Sanskritprofessors. Sie muß fast dreißig sein, meiner Meinung nach. Jedenfalls scheint sie seit Jahren darauf zu warten, unter die Haube zu kommen. Und schließlich hätten wir noch die überaus stattliche Frederica Hesse, der man die deutsche Abstammung an der Haltung und an der frostigen Miene ablesen kann. Außerdem hat sie einen Überbiß.«
Asher sah zum Fenster hinaus. (Ich winde mich innerlich, wenn ich jetzt an dieses Gespräch denke, das in seiner Absicht so durchsichtig war.)
»Ich hoffe, man hat Ihnen ein eigenes Büro gegeben, wo Sie Ihre Vorlesungen vorbereiten können«, sagte ich. »Oder hat man Sie in die Bibliothek verbannt?«
»Nein, nein, der Verwaltungsrat war sehr großzügig. Ich habe ein eigenes Büro.«
»Das ist gut«, sagte ich. »Verzeihen Sie nochmals mein Interesse an Ihren persönlichen Angelegenheiten, aber wenn ich nicht irre, zieht man Sie für den Posten des Vorstands in Betracht?«
Asher lehnte sich zurück. »Und Sie ebenfalls, wie ich hörte«, erwiderte er.
Nun lagen die Karten endlich auf dem Tisch.
»Haben Sie sich um den Posten beworben?« fragte ich.
»Ich wurde aufgefordert, mich zu bewerben.«
Wie, fragte ich mich, war das bewerkstelligt worden. Hatte Edward Ferald persönlich an Asher geschrieben? Aber wie sollte Ferald von einem so brillanten Gelehrten überhaupt gehört haben? Waren vielleicht andere für das Erscheinen des Yale-Professors in Thrupp verantwortlich?
»Wir sind richtige Hinterwäldler hier«, sagte ich. »Allein die Bahnfahrt nach Boston dauert beinahe einen ganzen Tag.«
Asher sah demonstrativ auf seine Uhr. »Ich muß jetzt leider gehen.« Er stand auf. »Ich habe eine Verabredung.«
Ich stand mit ihm auf, wie die Höflichkeit es verlangte. »Nun, ich kann nicht sagen, daß ich Ihnen Glück wünsche«, sagte ich.
»Nein.« Er bot mir die Hand. »Aber ich hoffe, wir bleiben gute Kollegen.«
»Selbstverständlich«, sagte ich. Asher hatte einen kräftigen, sehr robusten Händedruck, was mich bei seinem durchgeistigt wirkenden Gesicht überraschte.
»Professor Asher«, sagte ich.
»Bitte nennen Sie mich Phillip«, entgegnete er.
»Oh, in Ordnung, ja, Phillip. Möchten Sie nicht bei Gelegenheit einmal zu uns zum Essen kommen? Meine Frau Etna und ich würden uns freuen. Ich könnte mir vorstellen, daß das Essen im Hotel und im College auf die Dauer etwas fade wird.«
Einen Moment lang weiteten sich Ashers Augen vor Erschrecken, zumindest hielt ich es für Erschrecken; vielleicht war es nur Überraschung: Würde jemand freiwillig einen Konkurrenten in sein Haus einladen? (Ja, ich!, hätte ich geantwortet, und wenn nur, um die Konkurrenz besser einschätzen zu können.) Ich glaubte nicht, daß Etna etwas dagegen hätte, wenn sie es vielleicht auch etwas merkwürdig fände, da ich so selten Kollegen einlud. Aber sie war ja auch auf Feralds Empfang gewesen, ihr war zweifellos klar, welche Bedeutung Feralds öffentliche Unterstützung für Asher besaß.
»Danke, Van Tassel«, sagte Asher.
»Nicholas.«
»Nicholas.«
»Freitag abend?«
Er schien einen Moment zu überlegen. »Da habe ich leider …«
»Dann am Sonntag zum Mittagessen?«
Asher nickte langsam.
»Na also«, sagte ich. »Dann ist es abgemacht. Lassen Sie mich Ihnen nur schnell die Adresse aufschreiben. Wie wäre es um ein Uhr? Dann können Sie nach der Kirche noch in aller Ruhe nach Hause gehen und so weiter.«
Asher sagte nichts.
»Sollen wir Sie abholen?«
»Nein, ich habe ein Automobil.«
»Ach, tatsächlich?« fragte ich. »Was denn für eines?«
»Einen Ford.«
»Sie sind mit dem Auto aus New Haven gekommen?«
»Ja.« Er schaute sich um, schien dringend weg zu wollen.
»Waren die Straßen einigermaßen erträglich?« fragte ich.
»Es gibt eine direkte Verbindung«, antwortete er zerstreut.
»Aber ich halte Sie auf«, sagte ich. »Über diese Dinge können wir am Sonntag weitersprechen, wenn Sie bei uns zum Essen sind.«
Und ehe ich ihn eine Minute länger festhalten konnte, trat er schon vom Tisch weg. »Ich freue mich darauf«, sagte er.
Ich nahm mein Frühstück in Angriff und sah dem davoneilenden Asher nach. Mir war viel wohler als nach unseren beiden früheren Begegnungen. Ich hatte eine vorübergehende Schwäche bei Phillip Asher entdeckt, möglicherweise ein Anzeichen dafür, daß der Mann meine Kandidatur fürchtete. Vielleicht war also doch noch nicht alles verloren.
Wie es das Schicksal wollte, kam Asher an diesem Sonntag nicht zum Mittagessen und auch nicht am darauffolgenden. Am Freitag nach unserem Frühstück im Hotel Thrupp starb William Bliss, und Etna und ich mußten wohl oder übel eine gewisse Trauerzeit einhalten.
Etna war verständlicherweise tief betrübt, und ich blieb den größten Teil der Woche zu Hause, um mich um sie zu kümmern. Etwas Trost fand sie bei ihrer Schwester Miriam, die eigens aus Exeter anreiste, um an der Trauerfeier teilzunehmen. (Pippa, Etnas andere Schwester, war gerade zu Besuch bei der Familie ihres Mannes in Chicago und konnte deshalb nicht kommen.) Keep, Miriams Mann, begleitete seine Frau, und die beiden wohnten natürlich bei uns im Haus. Ich mochte Josip Keep nicht, aber in so einer Situation ist man großherziger, als man es sonst vielleicht wäre. Außerdem sah ich hier eine gute Gelegenheit, die Erinnerung an meinen tölpelhaften und ängstlichen Auftritt in seinem Haus an jenem lang vergangenen Sonntag morgen vergessen zu machen. Miriam besuchte uns zwar regelmäßig jedes Jahr für etwa eine Woche, aber ihr Mann war bisher nie mitgekommen. Ich machte mir hinsichtlich seiner Meinung über unser Städtchen keine Illusionen (»gräßlich«, erklärte er gleich bei seiner Ankunft), aber ich dachte, wenigstens unser Haus würde ihm vielleicht Eindruck machen. (Tatsächlich war das nicht der Fall: »Ich verstehe nicht, Van Tassel, warum Sie das Haus nicht so gestellt haben, daß einem der unschöne Anblick dieser Granithügel erspart bleibt«, sagte er. »Es stand bereits, als ich es gekauft habe«, antwortete ich kochend.)
Die Beerdigung, bei der Pastor Frederick Stimson in einer sehr persönlichen und bewegenden Rede die menschliche Güte und geistige Brillanz unseres Physikprofessors würdigte, war beeindruckend. Etna weinte heftig (ihre Schwester Miriam weinte nicht; sie schien den Mann kaum gekannt zu haben), und auch ich spürte den Kloß im Hals, der sich bei uns Männern festsetzt, wenn wir die Tränen zurückhalten. Ich war ergriffen von Etnas offenkundigem Schmerz, meiner Zuneigung zu William Bliss (die durchaus echt war; in seinem Haus hatte ich schließlich Etna kennengelernt) und von der Erinnerung an unsere Hochzeit vor vierzehn Jahren in ebendieser Kirche und an den ersten zitternden Kuß, den ich mit meiner Frau getauscht hatte.
Es gab keinen einzigen freien Platz mehr in der Kirche. Ich hatte nicht gewußt, daß Bliss sich so breiter Zuneigung erfreut hatte, obwohl ich es mir hätte denken können; er war ein sanftmütiger Mensch gewesen, der sich durch scharfes Verständnis auf einem schwierigen Gebiet ausgezeichnet hatte. Nach der Feier begaben sich die Trauergäste zum kalten Büfett ins Haus von Evelyn Bliss, die deutlich erschöpft schien von der anstrengenden Pflege ihres Mannes während seiner Krankheit und erschüttert von seinem Tod.
Etna und ich stellten uns nebeneinander ins Vestibül des Hauses, um die Trauergäste zu begrüßen, die zum Essen kamen. (Ein merkwürdiger Brauch, denke ich oft. Wer hat denn nach einer Beerdigung, die unweigerlich zu Gedanken an den eigenen Tod Anlaß gibt, noch Appetit?) Ab und zu, wenn frische Aufwallungen von Schmerz sie zu überkommen drohten, verschwand Etna von meiner Seite, und einmal, als sie ungewöhnlich lange ausblieb, begab ich mich auf die Suche nach ihr. Zuerst schaute ich mich in den unteren Räumen um, und als ich sie dort nirgends entdeckte, ging ich nach oben. Aus einem der Zimmer vernahm ich ein Geräusch. Ich trat näher, aber vor der Tür zögerte ich; die Erinnerung daran, wie ich Etna an unserem Hochzeitstag im Schlafzimmer ihrer Tante überrascht hatte, drängte sich plötzlich durch das dichte Gewebe von vierzehn Jahren Ehe. Ich spreche von dem Anblick meiner Frau, wie sie keine Stunde nach unserer Hochzeit in intensiver Zwiesprache mit sich selbst vor dem Spiegel stand, von dem Bild der Trostlosigkeit und des furchtbaren Verfalls, das dieser Spiegel zurückwarf, von einem Blick, wie ich ihn nie im Gesicht eines anderen Menschen gesehen hatte. Ich schüttelte die Erinnerung ab und setzte meinen Weg fort, trat über die Schwelle, wo mich kein entsetzlicherer Anblick erwartete als der meiner Frau, die mit geschwollenen, rot umrandeten Augen auf dem Bett saß.
Sie holte einmal tief Atem und hob den Kopf, als ich eintrat.
»Mein Liebes«, sagte ich. »Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht.«
»Ich hätte Onkel William häufiger besuchen sollen«, sagte sie.
»Du hast ihn so oft wie möglich besucht.«
»Nicht oft genug. Er hat gelitten. Ich bin so egoistisch gewesen.«
»Unsinn, Etna. Du hast mehr getan, als deine Pflicht war.«
»Ich habe nur an mich gedacht.«
Der Ausbruch meiner Frau überraschte mich, aber ich nahm ihn mit Toleranz hin; sie hatte ja praktisch zum zweitenmal den Vater verloren. »Etna, ich verstehe dich nicht«, sagte ich. »Du denkst an alle, nur nicht an dich selbst. Du sorgst vorbildlich für die Kinder und mich.«
»Ich täusche dich, Nicholas. Du hältst mich für tugendhaft, dabei kümmert mich Tugend in Wirklichkeit wenig. Du hältst mich für selbstlos, dabei denke ich in Wirklichkeit viel zuviel an mich.« Sie sah mich einen Moment aufmerksam an. »Ich habe nicht für dich gesorgt, Nicholas. Überhaupt nicht. Ich war dir eine kalte Ehefrau, und es tut mir leid. Es tut mir so furchtbar leid.«
Ich berührte ihre Schulter. »Du warst nicht kalt«, sagte ich.
»Aber ich habe dich nicht geliebt«, entgegnete sie.
Meine Finger auf ihrer Schulter erstarrten. Ich verspürte eine Lähmung, wie sie einen vielleicht im Augenblick extremen Schocks befällt (ich denke an die Frau, die bei dem Hotelbrand neben dem Büfett wie gelähmt niederfiel und hinausgetragen werden mußte). Ich hatte gewußt – natürlich hatte ich es gewußt –, daß meine Frau mich nicht liebte. Aber es ausgesprochen zu hören. Es ausgesprochen zu hören!
»Nicholas«, sagte sie, »verzeih mir. So habe ich das nicht gemeint.«
»Doch.«
»Ich habe dir weh getan.«
»Es spielt keine Rolle.«
»Sieh mich an, Nicholas«, sagte sie.
Ich sah sie an.
»Bitte setz dich.«
Wieder folgte ich ihrer Aufforderung.
»Du liebst mich von ganzem Herzen«, sagte sie.
»Ja.«
»Das ist ein wunderbares Geschenk. Einen anderen so lieben zu können. So vorbehaltlos. So frei. Begreifst du das? Ist dir klar, was das wert ist?«
Ich machte wahrscheinlich ein erstauntes Gesicht. Ich schüttelte verneinend den Kopf.
»Aber ja doch, Nicholas. Ich beneide dich«, sagte meine Frau.
Die Heftigkeit ihrer Worte verblüffte mich. Dieses Verhalten entsprach so gar nicht ihrer Art. Einige Zeit lang rührten wir uns beide nicht.
Und was soll ich zu dem sagen, was danach kam? Daß aus dem Tod Leben entspringt? Daß in den finstersten Stunden der Schmerz den Körper befreit? Ich habe solchen Schmerz kennengelernt und das langsame Aufkeimen des Verlangens, das folgt, eines Verlangens, das sich sehr schnell zu brennender Gier nach Leben entwickeln kann (ein Schutz vor Auslöschung, denke ich oft). So war es an jenem Tag, als ich mich zu Etna aufs Bett setzte und sie sich mir zuwandte und mein Gesicht mit ihren Händen umschloß. Sie sah mich an und suchte in meinen Zügen nach – wonach suchte sie so verzweifelt? Ich weiß es nicht, aber ich erinnere mich mit aller Klarheit an den Kuß, der folgte, es war ein Kuß, der mich zugleich rührte und erregte. Es war die erste Ahnung echter Leidenschaft, die ich je von meiner Frau empfangen hatte, und sie erweckte in mir eine Freude, die um der langen Wartezeit willen um so süßer war.
Es fällt mir schwer, diese höchst intime Erinnerung hier auszubreiten, aber da sie Teil meines Berichts ist und Teil meines Versuchs, Etna zu verstehen, will ich sie niederschreiben. Etna küßte mich auf Augen und Wangen. Sie suchte meinen Mund. Sie berührte sachte meinen Hals. Sie schob ihre Finger unter den Knoten meines Schlipses und zog ihn überraschend geschickt auf. Ihre Hände glitten auf beiden Seiten unter das Revers meines Jacketts und schoben es mir von den Schultern. Ich begann, Etna zu helfen, kaum fähig, meinem Glück zu trauen.
Etna berührte mich so, wie sie mich nie zuvor berührt hatte (mich, Nicholas Van Tassel), und ich erlebte eine halbe Stunde so unendlicher Glückseligkeit, daß es mir heute wie ein Traum erscheint. Ich stieß mit einem Fuß die Tür zu und ließ mich von meiner Frau auskleiden. Zum erstenmal in unserer Ehe liebte Etna mich.
Ich brauchte keine besonderen Fertigkeiten, um ihr Lust zu bereiten. Es war alles mühelos, ekstatisch. Und ich weiß, als wir danach halb entkleidet beieinander lagen, dachte ich, so muß es sein: Mann und Frau, Körper an Körper, die Lust gestillt, keine Schranke zwischen ihnen.
Ach, hätte doch dieser Zustand ewig währen können.
Ich hörte Stimmen aus dem Korridor und rührte Etna, die eingeschlafen war, sachte an. Sie zuckte zusammen, setzte sich auf und begann zu meiner Enttäuschung augenblicklich, ihre Kleider und ihr Haar in Ordnung zu bringen. Am liebsten hätte ich gesagt, sie solle es nicht tun, aber ich wußte, daß sie sich zu Tode schämen würde, wenn sie in so unaufgeräumtem Zustand von einem der Trauergäste ertappt würde.
Mich selbst hatte eine so tiefe Mattigkeit ergriffen, daß ich kaum in der Lage war, die Knöpfe meines Hemdes zu schließen, die eine wonnige halbe Stunde zuvor von meiner Frau geöffnet worden waren.
»Verzeih mir, Nicholas«, sagte Etna, mir den Rücken zugewandt. Sie war dabei, einzelne Haarsträhnen, die sich gelöst hatten, wieder hochzustecken.
Ich drehte mich so, daß ich ihr Gesicht sehen konnte. »Es gibt nichts zu verzeihen«, sagte ich. »Im Gegenteil, Etna. Mir ist nach Feiern zumute.«
»Ich bin nicht ich selbst.«
»Du bist auf ganz wunderbare Weise du selbst.«
»Nicholas!«
»Aber genau so sollte es doch sein zwischen Mann und Frau«, entgegnete ich. »Du hast es praktisch selbst gesagt.«
Etna drückte ihre Finger an die Schläfen und zog sie dann durch ihr Haar. Sie schloß ihre Arme über dem Kopf, als wollte sie sich verstecken.
»Etna«, sagte ich.
Sie ließ die Arme herabfallen. Sie musterte sich im Spiegel und sah, daß sie die aufgesteckten Haare erneut in Unordnung gebracht hatte und noch einmal von vorn anfangen müßte.
»Mein Liebes«, sagte ich. »Ich hoffe, du schämst dich nicht.«
»Mich schämen?«
»Was ist es dann?« fragte ich, gegen die Distanz kämpfend, die sie schon wieder zwischen uns aufbaute. Ich spürte, wie meine Frau sich zurückzog. Vielleicht war der Rückzug auch schon abgeschlossen, denn als sie sich umdrehte, sah sie mich mit diesem halben Lächeln an, das ich so gut kannte – das Lächeln, das sie manchmal, in liebenswürdigen Momenten, mir schenkte, immer den Kindern und sogar Mary, wenn sie diese lobte. Ein Lächeln, das nichts bedeutete. Nichts! Ich hätte in diesem Moment lieber Verzweiflung gesehen oder tiefen Kummer als diese unanständig schnelle Rückverwandlung in die Ehefrau, die mir seit mehr als einem Jahrzehnt vertraut war. Ich fühlte mich zurückgestoßen. Es war, ohne daß ich mich hier der Blasphemie schuldig machen möchte, ein Gefühl, wie religiöse Mystiker es beschreiben, wenn sie von der Verfinsterung des göttlichen Lichts berichten. Ich wollte nicht meine frühere Ehefrau zurückhaben; ich wollte die haben, die sich mir gerade in ihrer ganzen herrlichen Sinnlichkeit offenbart hatte.
Etna drehte sich also herum, berührte kurz meinen Fußknöchel (ich hatte nicht einmal meine Schuhe abgelegt) und war fort.
Von einem Moment auf den anderen.
Ich blieb liegen, wie man das tut, wenn man sich völlig ausgegeben hat und nur zu schlafen wünscht (es um so heftiger wünscht, wenn es nicht möglich ist). Nach einer Weile fand ich immerhin die Kraft, mein Hemd fertig zu knöpfen und meine Hose zu schließen. Wenn die Umstände Etna zu solcher Leidenschaft treiben konnten, sagte ich mir, dann würde das vielleicht wieder geschehen, zumal jetzt der Weg bereitet war und daher leichter sein würde. Ich würde sie vielleicht aus der Reserve locken oder auf Momente der Durchlässigkeit achten müssen, aber was einmal geschehen war, konnte doch gewiß auch wieder geschehen.
So stellte ich eine Art inneren Gleichgewichts her, das ich dringend brauchte, um zu den Gästen unten zurückkehren zu können.
Von dem Mittagessen, das der Beerdigung folgte, habe ich nicht viel in Erinnerung, außer einer merkwürdigen Begegnung mit Josip Keep, dem ich bis dahin tunlichst aus dem Weg gegangen war. Gegen Ende des Empfangs, als ich Etna beobachtete, die sich auf der anderen Seite des Raums von Arthur Hallock verabschiedete, stand Keep plötzlich neben mir. Vielleicht plagte ihn noch immer das Gefühl, an jenem lang vergangenen Sonntag morgen in seinem Haus in Exeter von mir ausmanövriert worden zu sein.
Wie dem auch sei, er wählte diesen Augenblick, um mir eine Frage zu stellen, die mich verwirrte. »Hat sie das Gemälde verkauft?« fragte er in diesem vollen Bariton, der im Lauf der Jahre noch tiefer geworden war.
»Welches Gemälde?« Ich drehte mich zu ihm. Das seidige schwarze Haar hatte sich gelichtet. Seine massige Gestalt war schwammiger geworden, und die Konturen des gutgeschnittenen Gesichts – dieses hochmütigen Gesichts – hatten sich mit dem Alter ein wenig verwischt.
»Oh, ich habe mich offensichtlich geirrt«, sagte Keep. »Ich dachte, Etna hätte ein Gemälde verkauft, das sie geerbt hat.«
»Was denn für ein Gemälde?« fragte ich wieder.
Keep trank einen Schluck aus seinem Sherryglas. »Woher soll ich das wissen, wenn Sie es nicht wissen.«
»Etna hat kein Gemälde verkauft«, sagte ich. »Sonst wüßte ich davon.«
»Natürlich«, sagte Keep.
»Ich verstehe gar nicht, wie Sie auf den Gedanken kommen, daß sie ein Gemälde geerbt hat«, fuhr ich fort. »Wir besitzen eine Reihe von Gemälden, aber keines, das sie geerbt hat.«
»Gewiß«, sagte Keep und trank noch einen Schluck Sherry (einen Amontillado, den ich selbst für diesen Anlaß besorgt hatte).
»Wissen Sie, wer der Maler ist?« fragte ich.
»Es wird kaum einen Maler geben können, wenn es kein Gemälde gibt«, versetzte Keep merklich gereizt.
»Es gibt keines.«
»Das sagten Sie schon.«
Ich rümpfte die Nase. »Wirklich, Keep, wie sind Sie nur auf diese seltsame Idee gekommen?«
»Vielleicht ein Claude Legny?«
»Ausgerechnet ein Legny«, sagte ich mit milder Belustigung.
Ich hätte wahrscheinlich weiterhin auf diese etwas verdrehte Art und Weise an meiner Ahnungslosigkeit festgehalten, hätte nicht das Wort Legny unversehens eine Erinnerung wachgerüttelt; eine Erinnerung an ein Gespräch, das ich im Spätsommer mit William Bliss geführt hatte, kurz nachdem er erkrankt war und die Schmerzen mit Morphium bekämpfte. (Später verschmähte er die Droge, da sie ihn, wie er sagte, wirr im Kopf machte.) Er hatte das Mittel gerade eingenommen, und es ist möglich, daß er sich in der Dosis geirrt hatte, denn seine Rede war ziemlich konfus. Er stellte Fragen und äußerte Behauptungen, die keinen Sinn erkennen ließen. Ich gab hin und wieder ein Ja, ja oder So, so von mir, achtete aber in Wirklichkeit kaum auf seine zusammenhanglosen Äußerungen. In diesem Moment jedoch, in William Bliss’ Speisezimmer, am Tag seiner Beerdigung, mit Josip Keep an meiner Seite, erinnerte ich mich plötzlich, daß Bliss die Wörter Legny und Etna in einem Atemzug ausgesprochen hatte. Es war so eine Verknüpfung von Namen, wie sie sich normalerweise irgendwo im Gedächtnis einnistet und dort verweilt, bis sie sich im Grab auflöst, es sei denn, sie wird vorher durch eine ähnliche Wortverbindung aktiviert.
Legny. Etna.
»Es hat nie ein Gemälde gegeben«, sagte ich.
»Nein, natürlich nicht«, sagte Keep. »Es ist mir schleierhaft, wie ich auf so eine Idee gekommen bin.«
»Ich muß jetzt zu meiner Frau«, sagte ich.
»Selbstverständlich«, sagte Keep.
Der Mann, der im Speisewagen neben mir sitzt, stochert mit der Gabel in seinem geschmorten Schinken herum, während er mit seinem Gegenüber ein Gespräch über den neuen deutschen Reichskanzler führt. Ich nehme an, sie sind einander fremd. Etwas weiter entfernt liest ein älterer Mann die Zeitung, an fast jedem Ort ein mühsames Unterfangen, jedoch beinahe unmöglich, wenn man in einem fahrenden Zug vor seinem Mittagessen sitzt. Firmengründer, der seine eigene Salbe aß, stirbt mit 96, lautet die Schlagzeile. (Ich glaube, der Artikel bezieht sich auf den Erfinder von Vaseline.) Und noch ein Stück weiter weg bemerke ich einen Mann, dessen Gesicht mir bekannt vorkommt. Ich weiß nicht genau, woher; ich bringe das Gesicht mit Sport in Verbindung. Nach den mangelhaften Tischmanieren des Mannes zu urteilen, könnte ich da recht haben. (Er hat sich vorhin in seine weiße Serviette geschneuzt, eine unerhörte Flegelei!) Neben ihm sitzt ein Geistlicher und liest Thoreau.
Ich bleibe an meinem Tisch, während ich dies schreibe, weil ich auf eine neuerliche Begegnung mit Mrs. Hazzard hoffe, einer Witwe aus Holyoke, Massachusetts, die offenbar von ihrem verstorbenen Mann ein halbes Dutzend Spinnereien geerbt hat, von denen eine in Südkarolina liegt, dem Ziel ihrer Reise. Man hat uns heute morgen beim Frühstück zusammengesetzt. Zwei große Familien – jede mit mindestens sieben Kindern – nahmen die meisten anderen Tische in Beschlag und veranstalteten ein solches Spektakel, daß die Witwe und ich uns weit über unsere Omeletts (mit Guajavakonfitüre) hinwegneigen mußten, um einander hören zu können. Dadurch entstand, zumindest bei mir, so etwas wie Zuneigung, und ich würde sie darum gern wiedersehen. Es hat mir in diesen langen Jahren nicht an weiblicher Gesellschaft gefehlt, aber ich habe die Frauen, mit denen ich zusammen war, nur selten gemocht, daher ist es mir ein Vergnügen, mich mit einer so lebhaften und anregenden Frau zu unterhalten. Sie hat mir erzählt, sie sei entschlossen, den Firmen ihres Mannes nicht nur als Aushängeschild zu dienen, sondern das Geschäft von Grund auf zu lernen, um die Firmenleitung zu übernehmen. Sie scheint sich in der Tat schon jetzt recht gut mit Webstühlen, Bilanzen und Geschäftskrediten auszukennen, lauter Dinge, von denen ich keine Ahnung habe. Ich nahm es ihr nicht übel, daß sie nie von Thrupp gehört hatte. Sie hat ein hübsches Lachen und eine Figur, die sich sehen lassen kann, auch wenn sie meiner Schätzung nach schon etwa Ende Vierzig ist. Aber obwohl ich ein Mensch bin, der innerhalb eines Augenblicks die Zukunft vor sich sehen und sich in einem Gesicht ein ganzes Leben vorstellen kann, dachte ich keinen Moment an Heirat.
Ich werde nie wieder heiraten. Das ist meine Buße.