MRS. HAZZARD UND ICH HABEN HEUTE ABEND zusammen gegessen, und ihre Gesellschaft hat mir wohlgetan. Bei Schmorbraten plauderten wir in aller Freundlichkeit über ihren verstorbenen Mann, und ich erfuhr unter anderem, daß er nicht nur ein begeisterter Kinogänger war, sondern auch Automobilsammler. Die Witwe Hazzard ließ durchblicken, daß er außerdem ein Schürzenjäger war, aber sie schien darüber nicht sonderlich verbittert zu sein. Nach einer kleinen Pause, während deren ich vielleicht der Höflichkeit halber eine Bemerkung zu meinem eigenen Leben hätte machen sollen, fragte Mrs. Hazzard (Betty, wie sie von mir genannt werden möchte), wie lange ich schon verwitwet sei. Ich gab ihr Antwort, wie es sich gehört, lenkte aber dann das Gespräch in andere, weniger gefährliche Bahnen und erzählte von meinem Sohn. Niemals könnte ich mit einem wildfremden Menschen über Etna sprechen, auch wenn es sich um eine so reizende Person wie Betty Hazzard handelt. Und nachdem ich einmal das Thema Kinder angeschnitten hatte, erzählte Mrs. Hazzard recht ausführlich (jedoch keineswegs ermüdend) von ihren eigenen Kindern, die sie unverkennbar sehr liebt. So war die gefährliche Klippe der Wahrheit glücklich umschifft.

Mrs. Hazzard schalt mich gutmütig ob meiner gestelzten Sprache (die, fürchte ich, im Verlauf der Jahre nur noch schlimmer geworden ist) und unterbrach mich einmal, als ich das Wort dessenungeachtet gebrauchte. »Dessenungeachtet, Mr. Van Tassel?« sagte sie. Aber wenn auch das Wort dessenungeachtet nicht unbedingt der Verteidigung würdig ist, argumentierte ich als Professor der Englischen Literatur dennoch, daß man die schlichte (und für mein Gefühl verarmte) Sprache der heutigen Zeit anprangern müsse, da sie den Menschen in seinem Vokabular beschränke und ihm nicht erlaube, den Moment in einer Folge von Nebensätzen (Schachtelsätzen meinetwegen, wie der Volksmund sie nennt) aufzugliedern – ihn also gewissermaßen zu sezieren.

Sie ließ sich das eine kleine Weile durch den Kopf gehen und sagte dann, sie unterhalte sich trotzdem gern mit mir und finde mich sehr charmant und amüsant. Da es einige Zeit her ist, daß eine Frau mich als charmant oder amüsant bezeichnet hat, errötete ich (das Blut meiner holländischen Vorfahren verrät mich im fortgeschrittenen Alter noch genauso wie in meiner Jugend), was sie erst recht zu erheitern schien, denn sie neigte den Kopf zur Seite und lächelte – ein Lächeln, das ich gern aufbewahren würde, um es in Momenten der Niedergeschlagenheit hervorzuholen.

Wir saßen lange beim Kaffee, und ich wurde mir bewußt, daß mich der bevorstehende Abschied von ihr bedrückte, ich wußte ja, daß sie in Charleston aussteigen würde. Sie lud mich ein, sie zu besuchen, sollte ich auf der Rückreise in Charleston Station machen. Ich weiß natürlich, daß man solche Einladungen aus Höflichkeit ausspricht und nicht erwartet, daß der Eingeladene je erscheinen wird, aber nachdem wir den Speisewagen verlassen hatten und in unsere Abteile zurückgekehrt waren, gestattete ich mir eine Weile Phantasien von einem Besuch in dieser Südstaatenstadt, einem netten Beisammensein mit Mrs. Hazzard und vielleicht einer Freundschaft von Dauer.

Die ersten Tage nach William Bliss’ Beerdigung waren schlimm für Etna, die sich in ihrem Zimmer verschanzte und nicht nur ihre wohltätige Arbeit, sondern auch ihre Familie vernachlässigte. Nicky, Clara und ich gaben uns alle Mühe, sie aufzumuntern, aber es zeigte sich sehr bald, daß Etna sich an einen inneren Ort zurückgezogen hatte, den zu verlassen sie nicht zu bewegen war. So ging das einige Wochen bis in den November hinein, und ich war nahe daran, den Arzt zu holen, da ich allmählich den Eindruck gewann, Etnas Schmerz stehe in keinem Verhältnis zu seinem Anlaß.

Vielleicht erkannte sie, daß ich Angst um sie bekam, denn eines Morgens fand ich sie, beinahe normal aussehend, die Augen nicht mehr gerötet wie bisher, am Frühstückstisch vor. Sie versuchte ein Lächeln, und ich hatte das Gefühl, der Versuch koste sie übermenschliche Kraft.

»Etna«, sagte ich. »Ich bin so froh, dich gesund und munter zu sehen.«

»Ich bin gesund, aber nicht gerade munter«, sagte sie.

»Trotzdem.«

»Es war nicht gut für die Kinder.«

»Nein«, sagte ich.

»Ich – es ist mir ziemlich …«, sie holte hastig Atem, aber ich sah dennoch das leichte Beben ihrer Unterlippe, »… schlecht gegangen«, sagte sie.

Ich würde vorsichtig mit ihr umgehen und versuchen, das Gespräch in ruhigen Bahnen zu halten, fern von Themen wie Tod und Traurigkeit.

»Du siehst heute morgen sehr hübsch aus«, sagte ich, und es war wahr. Sie trug eine hochgeschlossene Bluse aus indigoblauer Seide, dazu eine lange Jettperlenschnur, die zu den Schmuckknöpfen der Bluse und den zarten Ohrgehängen paßte.

»Danke«, sagte sie.

»Möchtest du eine Tasse Kaffee?«

»Danke, nein, ich habe schon Kaffee getrunken. Ich bin schon eine ganze Weile hier unten.«

»Du schreibst deine Liste«, sagte ich, während ich die Serviette auf meinem Schoß ausbreitete. Ich sah mir mein Frühstück an. Es gab irgendein Fleisch. Nierchen vielleicht. Oder Leber. Es sah dunkel aus, als hätte es zu lange in der Pfanne gelegen.

»Ja«, antwortete sie. »Ich fahre heute in die Stadt und kaufe ein. Brauchst du etwas?«

»Ich brauche einen neuen Rasierpinsel«, sagte ich. »Und Schuhcreme. Und Tinte für meinen Schreibtisch. Aber ich kann mir diese Dinge auch selbst besorgen, wenn ich in der Stadt bin.«

»Laß es mich machen«, sagte sie. »Es ist besser, wenn ich etwas zu tun habe.«

»Na, wenn es so ist, hätte ich gern noch ein Glas von der Brombeerkonfitüre, die es im letzten Monat zum Frühstück gab. Am liebsten hätte ich sie jetzt gleich. Was ist das eigentlich für Fleisch?«

Etna warf einen Blick auf meinen Teller. Sie rümpfte die Nase. »Ich werde mit Mary sprechen«, sagte sie mit gedämpftem Ärger. Es war offensichtlich, daß unsere Köchin während der Abwesenheit ihrer Herrin sehr nachlässig geworden war.

Etna notierte sich etwas auf dem Schreibblock, der neben einem Stapel Briefe lag – die meisten davon vermutlich Beileidsschreiben. »Ich weiß nicht, ob es die Konfitüre um diese Jahreszeit gibt«, sagte sie.

Und ich, froh, meine Frau von alltäglichen Dingen sprechen zu hören, konnte nur lächeln. Ich legte meine Hand auf die ihre. »Ich freue mich so, daß du wieder da bist«, sagte ich.

Die Tage vergingen. Ich stand morgens auf, frühstückte, vermied jedes Thema, das Etna hätte beunruhigen können. Ich ging zu meinen Seminaren, unterrichtete meine Studenten, korrigierte Stapel von langweiligen Aufsätzen. Dabei befand ich mich beinahe die ganze Zeit in einem Zustand ängstlicher Erregung: um Etna besorgt, in Unruhe wegen der bevorstehenden Wahl, um den Schlaf gebracht von Gedanken an Phillip Asher, dessen Vorlesungen so brillant waren, wie man sie angekündigt hatte.

Ich begann, Asher vor meinen Kollegen schlechtzumachen. »Der Mann hat keine Ahnung von Jonson«, sagte ich, und manchmal bemerkte ich auf den Gesichtern meiner Kollegen einen Ausdruck mißtrauischer Skepsis oder des Mitleids. War ich so leicht zu durchschauen? Sie hatten den Geruch der Rivalität gewittert, und vielleicht fanden sie das Ganze in gewisser Weise vergnüglich, denn sie schienen auch erheitert.

Eines Nachmittags mußte ich in die Chandler Hall, um Moxon ein Buch zurückzugeben, das ich mir von ihm ausgeliehen hatte. Auf dem Weg durch den Korridor kam ich an der geschlossenen Tür von Phillip Ashers Zimmer vorbei. Ich wußte, daß er um diese Zeit in der Aula war, wo er eine Vorlesung über das Gute und das Böse in Das verlorene Paradies hielt (nicht unbedingt eine Herausforderung, dieses Thema). Ich ging also an der geschlossenen Tür vorüber, tat so, als hätte ich etwas vergessen, und kehrte um. Wieder kam ich zu der Tür, und diesmal konnte ich dem Impuls, mich ins Zimmer zu stehlen, nicht widerstehen. Ich hatte keine klare Vorstellung davon, was ich dort eigentlich wollte; es drängte mich einfach, den Dingen, die dem Mann gehörten, näherzukommen – als könnte ich so mehr über meinen Rivalen erfahren. Ich schlüpfte also ins Zimmer und schloß die Tür.

Ashers Schreibtisch war unaufgeräumt, der Aktenschrank stand offen (warum auch sollte jemand seine Brillanz hinter Schloß und Riegel halten?), und der erste Eindruck war der allgemeiner Unordnung – überall Bücher, Fachzeitschriften, auf dem Schreibtisch unzählige persönliche Dinge, Andenken von seinen Reisen, vermutete ich: aufgespießte Schmetterlinge in einem Glaskasten; eine kleine Skulptur aus Speckstein; ein feingearbeitetes indisches Mosaik; ein Druckstempel aus Kupfer mit dem Bild einer Kuh; ein ungewöhnliches Monokel, durch das man seitlich sehen konnte statt geradeaus. Hinter der Schreibmaschine entdeckte ich eine in Silber gerahmte Photographie einer jungen Frau. Sie war blond, ein skandinavischer Typ, ausgesprochen hübsch. Augenblicklich stellte ich mir eine Verlobte in einer fernen Stadt vor – in Oslo vielleicht.

Durch diese Entdeckung ermutigt, riskierte ich einen genaueren Blick auf die Papiere, die im Zimmer verstreut lagen. Ich erinnere mich an eine Abhandlung über die Photographie als Mittel der Geschichtsaufzeichnung, die bei der Akademie für Kunst und Wissenschaft eingereicht worden war. Ich fand Korrespondenz mit einem Professor der Universität von Virginia über eine vorbiblische Geschichte der Sintflut; einen Brief an die Königliche Geographische Gesellschaft mit der Bitte um die Genehmigung, eine Expedition an den Nordpol zur Suche nach dem verschwundenen Forscher Vilhjalmur Stefansson zu begleiten; detaillierte Unterlagen zu einem wissenschaftlichen Vortrag, der im vergangenen Frühjahr an der Medizinischen Fakultät der Universität von Maine in Bowdoin gehalten worden war und sich mit Dr. Gaston Odins Entdeckung der Krebsmikrobe befaßte sowie mit den Möglichkeiten, auf der Grundlage dieser Entdeckung einen Impfstoff zu entwickeln; einen Aufsatz im Atlantic Monthly zur Verteidigung des Pazifismus. Ich lehnte mich in Ashers Schreibtischsessel aus Eichenholz zurück und betrachtete eine Reihe Holzschnitte, die in breiten weißen Rahmen an einer der Wände aufgereiht waren. Wie hatte ein so junger Mann es fertiggebracht, so viel zu publizieren? Die Palette der Begabungen und Interessen, über die dieser Mann verfügte, war stupend.

Es war vielleicht an der Zeit, mich mit der sehr realen Möglichkeit auseinanderzusetzen, daß ich den Posten des Vorstands nicht bekleiden würde. Wäre das so entsetzlich? O ja. Trotzdem mußte man realistisch sein. Man mußte sich rüsten.

Seufzend stand ich auf und wollte gerade das Zimmer verlassen, als mir ein brauner Falthefter ins Auge fiel, der, mit einer Schleife zugebunden, neben dem Schreibtisch auf dem Boden lag. Ich bückte mich, hob ihn auf und knüpfte so vorsichtig wie möglich das Band auf. In der Akte waren Briefe eines Professors am Jesus College in Oxford, der Asher als Gastdozenten einlud. Ich entnahm Kopien von Ashers Antwortbriefen, daß er zumindest erwogen hatte, die Einladung anzunehmen, und während ich die Korrespondenz, in die ich verbotenermaßen Einblick genommen hatte, in der Hand hielt, begann ich ernsthaft zu überlegen: Wenn mich die Entdeckung entmutigt hatte, daß Phillip Asher, Professor an der Yale-Universität, in der Tat einer jener seltenen Männer war, die sich durch geistige Größe auszeichneten, konnte ich dann nicht andererseits aus der Wahrscheinlichkeit Mut schöpfen, daß ein solcher Mann einen Posten in Thrupp verschmähen würde, sobald ihm anderswo ein besseres Angebot gemacht wurde? Ich sann über eine neue Strategie nach. Ich konnte doch den Kollegen zu verstehen geben, daß Asher für Thrupp zu gut war, daß einen solchen Mann die Arbeit an einem Provinzcollege auf die Dauer nicht befriedigen und er sich daher vielleicht von einer renommierteren Hochschule abwerben lassen würde, nachdem unser Verwaltungsrat sich solche Mühe gemacht hatte, ihn für Thrupp zu gewinnen. Auf mich hingegen, Nicholas Van Tassel, war Verlaß. Ich war loyal. Ich hatte schließlich Thrupp mein Leben geweiht, nicht wahr?

Ja, ja, dachte ich, als ich mich mit meinen gestohlenen Erkenntnissen aus dem dämmrigen Zimmer schlich, wobei ich sorgsam darauf achtete, es in dem unordentlichen Zustand zurückzulassen, in dem ich es vorgefunden hatte. Ja, diese Überlegungen waren von unschlagbarer Logik und sollten dem Verwaltungsrat so bald wie möglich mitgeteilt werden, auf ganz subtile Weise natürlich. Bis zur Abstimmung waren es an diesem Novembernachmittag nur noch vierzehn Tage.

Kurz vor Thanksgiving nahm Etna ihre wohltätige Arbeit wieder auf. Man brauche sie im Baker-Haus, erklärte sie eines Morgens, als ich eine Bemerkung darüber machte, daß sie gekleidet war, als wollte sie das soziale Wohnheim aufsuchen. Sie trug ein Nadelstreifenkostüm mit hohem Kragen. Ja, sagte sie, genau das habe sie vor; es sei an der Zeit. Ich stimmte ihr aus vollem Herzen zu, ich wollte sie wieder im Vollbesitz ihrer Kraft sehen. Das Leben mußte schließlich weitergehen. Die Kinder konnten nicht ewig stillgehalten werden, und die Armen und Bedürftigen würden nicht aussterben.

»Sehr gut«, sagte ich.

Da ich an diesem Tag keinen Unterricht hatte, beschloß ich, den Morgen in meiner Bibliothek in Gesellschaft meiner Bücher zu verbringen. Ich hatte viel zu tun (dieser nicht enden wollende Strom von Aufsätzen), aber mit dem Fortschreiten des Morgens merkte ich, daß ich mich nicht auf die Arbeit konzentrieren konnte. Eine Zeitlang stand ich vor dem Fenster und schaute in den Garten hinaus – jetzt nur noch dürre Stengel und vertrocknete Blumen –, dann wanderte ich in die Küche, um mir von Mary eine Tasse Tee machen zu lassen. Ich kehrte in die Bibliothek zurück und setzte mich an meinen Schreibtisch, ständig ein Bild Phillip Ashers vor Augen, wie er, hinter einem Pult stehend, seine erste Ansprache als neuer Vorstand von Thrupp an das versammelte Kollegium hielt. Ich ging zum Bücherschrank, kehrte zum Schreibtisch zurück, wanderte wieder zum Bücherschrank. Ab und zu gelang es mir, die Gedanken, die mich besetzt hielten, abzuschütteln, aber schon nach kurzer Zeit ergriffen sie erneut Besitz von mir. Als Folge dieser geistigen Anstrengungen fühlte ich mich bald völlig erschöpft.

Ich fand, ich brauchte einen Spaziergang. Ich würde zu Fuß zur Stadt gehen und dort zu Mittag essen. Ja, ja, gute Idee, dachte ich. Vielleicht war Moxon da. Ich brauchte männliche Gesellschaft der leichten Art, jemanden, der mich aufmunterte. Möglicherweise brütete ich eine Krankheit aus. Man hörte natürlich von Hysterie bei Frauen, aber daß ein solcher Zustand auch einen Mann befallen könnte, das war ganz undenkbar; nein, nein, Hysterie konnte schon per definitionem bei Männern nicht vorkommen, sie war ja eine rein weibliche Krankheit. Trotzdem fürchtete man, sich ein wenig zu tief in den eigenen Tagträumen zu verlieren.

Ich telephonierte also mit Moxon und machte ihm den Vorschlag, sich im Speisesaal des Hotels mit mir zu treffen. Er war sofort einverstanden. (Der arme Moxon. Ich glaube, er war einsam.)

Zu dieser mittäglichen Stunde war es voll im Speisesaal. Moxon wartete bereits an einem Tisch, als ich eintraf. Er winkte mir wild wedelnd zu, etwa so wie jemand, der sich im Gebirge verirrt hat und nach mehreren Nächten auf einsamer Bergeshöhe endlich gefunden wird. Er trug einen gestreiften Wollanzug, der ausländischer Machart zu sein schien (aber nicht feiner englischer, eher schon bulgarischer). Woher er das Ding hatte, weiß ich bis heute nicht. Moxon sah häufig so aus, als hätte er sich im Dunkeln angekleidet.

»Nicholas«, sagte er, als ich mich gesetzt hatte. »Wie geht es Etna?«

»Besser«, antwortete ich. »Sie arbeitet wieder im Heim.« Ich sah mir die handgeschriebene Karte an. Das Tagesgericht war Kalbshaxe. Zufällig aß ich Kalbshaxe recht gern.

»Sie hat blaß ausgesehen, als ich letzte Woche bei Ihnen war«, sagte Moxon.

»Sie hat ziemlich gelitten«, erwiderte ich und trank einen Schluck Wasser.

»Der Ober hat die Fleischpastete empfohlen.«

»Ich nehme die Kalbshaxe.« Ich legte die Karte zur Seite.

»Kein Unterricht heute?« fragte Moxon.

»Nein. Und Sie – genießen Sie Ihren Urlaub?«

»Die Studenten fehlen mir«, sagte Moxon.

»Im Ernst?« fragte ich höchst erstaunt. Ein Urlaub ohne Studenten wurde im allgemeinen als Segen empfunden.

»Sie sehen so blaß aus wie Etna«, bemerkte Moxon.

»Ich habe in letzter Zeit schlecht geschlafen«, sagte ich.

»Sie nehmen sich die Abstimmung zu sehr zu Herzen«, meinte Moxon. Hinter der tolpatschigen Fassade verbarg sich ein Mensch mit großem Einfühlungsvermögen.

»Es geht um meine Zukunft«, erwiderte ich.

»Ich habe gehört, daß Asher eine Verlobte hat«, sagte Moxon hilfreich.

»Eine Verlobte?« fragte ich, den Unschuldigen spielend. »Wo denn?«

»Irgendwo im Ausland. In Skandinavien vielleicht. Das ist einer, der sich nicht in die Karten schauen läßt.«

»Stimmt. Ein Geheimniskrämer«, sagte ich. »Keine besonders gute Eigenschaft für den Vorstand eines College.«

»Ich fange jetzt mit dem Skilaufen an«, verkündete Moxon, der in seinen Gedankensprüngen so wild war wie in seiner Gestik.

»Das ist ja eine Neuigkeit!« sagte ich.

»Ich nehme heute nachmittag den Zug nach Quebec.«

»Viel Spaß«, sagte ich und stellte mir Moxon auf Skiern an einem Berghang vor. Trotz dieses äußerst belustigenden Bildes brachte ich die Kalbshaxe, die ich bestellt hatte, kaum hinunter. Ich suchte in dem menschengefüllten großen Raum, in dem die Kellner geschäftig mit ihren Tabletts zwischen den Tischen und der Küche hin und her eilten, nach Phillip Asher, der vielleicht auch hier speiste. Und wenn ich nicht gerade damit beschäftigt war oder versuchte, Moxons wohlwollendem, aber unaufhörlichem Geplauder zu folgen, dachte ich an Etna und fragte mich, wie sie diesen ersten Arbeitstag nach dem Tod ihres Onkels bewältigte.

»Moxon«, sagte ich schließlich, meine Gabel aus der Hand legend, »ich möchte Sie um einen großen Gefallen bitten.«

»Bitte«, sagte er mit vollem Mund.

»Würden Sie mir Ihr Auto leihen?«

»Selbstverständlich«, sagte er. »Ist Ihres in der Werkstatt?«

»Nein. Etna ist damit unterwegs. Sie ist zum Baker-Haus gefahren. Aber ich mache mir Sorgen um sie. Sie arbeitet heute zum erstenmal wieder und ist immer noch sehr anfällig. Ich möchte einfach im Baker-Haus vorbeifahren und nach ihr sehen.«

»Aber natürlich, nehmen Sie meinen Wagen. Unbedingt.« Er wedelte aufgeregt mit den Händen. »Wir können gleich zusammen zur Garage hinübergehen. Ich nutze den Wagen fast nie. Ich muß nie irgendwohin.«

Man mußte Moxon einfach mögen, zum einen wegen seiner Ehrlichkeit, zum anderen wegen seiner Bescheidenheit. Die meisten Menschen in seiner Situation – einer erbärmlichen Situation – hätten es wahrscheinlich für nötig gehalten, sich ein Leben zu erfinden, um in der Öffentlichkeit gut dazustehen.

Durch den atemberaubenden Tag (ich meine das ganz wörtlich, die Luft war so eisig, daß einem beim Atemholen die Lunge weh tat) gingen wir zusammen zu Moxons Haus. Ich hatte zunächst etwas Mühe mit Moxons Automobil, einem gelben Stevens-Duryea, der einiges Gefummel mit Zündvorrichtung und Choke verlangte, bevor man den Motor starten konnte. Zuerst setzte sich Moxon ans Steuer und fuhr mehrere Runden in seinem gefrorenen Vorgarten, bis ich es mir zutraute, selbst zu lenken, und auf die rechte Seite hinüberrutschte. Er lieh mir seinen Skunkpelz für die Fahrt, da es im Wagen beinahe so kalt war wie draußen, dann wagte ich mich auf die Straße hinaus.

In den vergangenen Jahren war ich mehrmals im Baker-Haus gewesen, insgesamt vielleicht fünf- oder sechsmal zu verschiedenen Veranstaltungen, ich kannte also den Weg. Die unbefestigte Straße war holprig, und es dauerte eine Weile, bis ich mich an das Schlingern und Hoppeln der Räder gewöhnt hatte. Ich war froh, daß kaum jemand unterwegs war, denn mein Fahrstil war sehr eigenwillig, und es wäre mir entsetzlich gewesen, womöglich einen Zusammenstoß mit einem anderen Auto zu verursachen.

Das Haus lag in der Norfolk Street Nr. 18 in Worthington. Im Jahr 1880 hatten die beiden Schwestern Baker zum erstenmal Arme und Kranke aus der Nachbarschaft in ihrem Heim aufgenommen. Da es in diesem Teil New Hampshires damals nur wenige derartige Einrichtungen gab, war das Haus vergrößert worden, um auch Bedürftige aus anderen Ortschaften des Bezirks, wie zum Beispiel Thrupp, aufnehmen zu können.

Das Äußere des Gebäudes verriet nichts über seine Nutzung. Es war ein gefälliges gelbes Holzschindelhaus im Kolonialstil mit dunkelgrünen Fensterläden. Es hatte vorn zwei Eingangstüren (warum, weiß ich nicht), und in dem schmalen Garten, den zur Straße hin ein schöner schmiedeeiserner Zaun begrenzte, standen mehrere Ulmen. Auf der breiten Vorderveranda konnte man an schönen Tagen jederzeit ein halbes Dutzend Frauen und Kinder in der Sonne sitzen sehen. Nur an der Kleidung und dem Verhalten dieser Unglücklichen war zu erkennen, daß dieser schöne Bau ein Armenhaus war und nicht das Heim einer rechtschaffenen Worthingtoner Familie.

Ich stellte den Wagen dem Heim gegenüber an der Straße ab. In der Auffahrt standen schon drei Automobile, darunter unser Cadillac-Coupé. Eine Hand am Hut, um dem Novemberwind zu trotzen, überquerte ich die Straße, öffnete das Eisentor und betrat die Steinplatten des Gartenwegs, als Etna eine der beiden Haustüren öffnete.

Sie bemerkte mich nicht gleich, da sie noch mit jemandem drinnen im Haus sprach. Sie trug ihren Wollmantel mit dem Fuchskragen und ihren Autohut, und in der Hand hatte sie eine kleine Reisetasche, in der sie häufig verschiedene Dinge ins Baker-Haus mitnahm (Kleidungsstücke, die unseren Kindern zu klein geworden waren, oder Nahrungsmittel, die wir nicht verbraucht hatten).

»Etna!« rief ich.

Sie fuhr ein wenig zusammen und drehte sich im selben Moment herum. Ich kann in der Beschreibung ihrer Überraschung nicht übertreiben: Es war das Schaudern plötzlichen Erschreckens. Ihr Mund öffnete sich, und ihre Augen weiteten sich (warum tut der Körper das? fragte ich mich; daß er noch mehr von dem in sich aufnimmt, was erschreckt?), und ihre Schultern zuckten zurück, wenn auch kaum merklich. Ich sah einen Moment lang ihre Lippen beben, dann preßte sie sie aufeinander und versuchte zu lächeln.

Das alles spielte sich mit der Schnelligkeit eines Wimpernschlags ab.

»Nicholas«, war alles, was sie hervorbrachte.

»Liebes«, sagte ich. »Ich habe dich erschreckt.«

»Ja, das hast du«, bestätigte sie. »Was tust du denn hier?«

»Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Es tut mir leid. Ich wollte mich nur vergewissern, daß es dir gutgeht. Du hast heute morgen ein wenig wacklig gewirkt.«

Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Der Schock war überstanden, und sie schien ruhig. »Ich wollte gerade nach Hause«, sagte sie.

»So früh?«

»Du hast es ja selbst gesagt, ich bin noch nicht wieder die alte.«

»Verständlicherweise. Es ist ein Wunder, daß du es überhaupt geschafft hast herzukommen.«

»Es hat mir gutgetan.« Sie zog den Pelzkragen ihres Mantels unter dem Kinn zusammen.

»Tja«, sagte ich, »jetzt stehen wir mit zwei Autos da.«

»Mit was für einem bist du gekommen?«

»Mit dem von Gerard Moxon.«

Sie musterte den Stevens-Duryea auf der anderen Straßenseite. »Du haßt doch das Autofahren«, sagte sie.

»Eigentlich war es ganz lustig«, erwiderte ich.

»Tatsächlich?«

Etna zog immer gern die Krempe ihres Huts herunter, um ihre Augen zu verbergen – eine recht häufig zu beobachtende weibliche Angewohnheit. Ein Mann muß dem Gegenüber ins Auge sehen, wenn er nicht als ein zwielichtiger Bursche dastehen will; einer Frau hingegen ist ein züchtiger Blick zur Seite oder zu Boden immer erlaubt.

»Willst du hinter mir herfahren?« fragte ich. »Oder soll ich dir folgen?«

»Wie dumm!« sagte sie unvermittelt, als sie von der Veranda herabstieg.

»Ja, natürlich, aber so schlimm ist es auch wieder nicht, hm?«

Sie berührte meinen Arm. »Es war sehr lieb von dir, herzukommen und nach mir zu sehen.«

»Das war doch selbstverständlich«, sagte ich. »Ach, Etna?«

»Ja?«

»Ich würde gern Phillip Asher zu uns zum Essen einladen.«

Etna blieb stehen. »Zu uns nach Hause?«

»Äh … ja.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht …«

»Es ist noch zu früh«, sagte ich hastig.

»Ja«, stimmte sie mit offenkundiger Erleichterung zu.

»Dann lade ich ihn einfach zu einem Drink ein – zu einem Brandy und einer Zigarre.«

Etna schwieg.

»Du brauchst dich um nichts zu kümmern«, fuhr ich fort. »Du brauchst nicht einmal herunterzukommen.«

Sie sah zu dem Cadillac hinüber. »Wenn du meinst«, sagte sie. Dann wandte sie sich mir wieder zu. »Was, um Himmels willen, hast du da eigentlich an?«

Ich sah an dem Skunkpelz hinunter, der weiß Gott nicht schön war, wenn auch herrlich warm. »Der gehört auch Moxon.«

Etna lächelte.

»Ich muß den Mann näher kennenlernen«, sagte ich.

»Moxon?« fragte sie.

Ich nahm ihr die Tasche ab und trug sie zu ihrem Wagen, wo ich sie auf die Kokosmatte auf dem Boden stellte. Dann schlug ich die Tür zu und sah meine Frau über die Motorhaube des Wagens hinweg an. Die Bänder ihres Huts, noch nicht zur Schleife gebunden, flatterten im Wind.

»Asher«, sagte ich.

Am folgenden Morgen sandte ich Asher einen Brief ins Hotel und lud ihn für den Abend zu einem Drink in unser Haus ein. Ich hieß Mary in der Bibliothek ein Tablett richten. Der Raum war klein, aber es gab dort zwei bequeme Clubsessel, die ihm ein männliches Flair verliehen.

Zur vorgeschlagenen Stunde wartete ich, unter dem Vorwand zu arbeiten, in der Bibliothek. Ich war nicht sicher, daß Asher kommen würde, da ich auf meine Einladung keine Antwort erhalten hatte, aber kurz vor halb sechs hörte ich es draußen an der Haustür läuten. Ich wußte zwar, daß Abigail im Haus war, aber ich hielt es für herzlicher, selbst an die Tür zu gehen und Asher zu empfangen.

Er stand auf der Vortreppe. Obwohl er noch jung war, waren die Fältchen an seinen Augenwinkeln nicht zu übersehen, Spuren, dachte ich, seiner strapaziösen Expeditionen nach Neuguinea oder wohin sonst seine Ausflüge ihn geführt hatten. Unter dem Mantel trug er ein Hemd mit steifem Kragen und einen rotseidenen gepunkteten Schlips. Sein Mund war unbewegt und ernst.

»Treten Sie ein, treten Sie ein«, forderte ich ihn auf und öffnete die Tür weiter.

Er brachte einen Schauder kalter Luft herein, als er ins Vestibül trat, und ich schloß die Tür schnell wieder. Die Uhr schlug die halbe Stunde, ich machte eine Bemerkung über seine Pünktlichkeit. Dann kam Abigail und nahm ihm Hut und Mantel ab.

Asher strich sich über die Haare. »Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte er, als wir etwas verlegen im Vestibül standen.

»Es ist mir ein Vergnügen«, erwiderte ich.

»Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um Ihrer Familie mein Beileid zum Tod von William Bliss auszusprechen«, sagte er.

»Danke«, sagte ich. »Für meine Frau ist es besonders schwer. William Bliss war wie ein Vater für sie.«

»Dann möchte ich ihr mein ganz besonderes Mitgefühl übermitteln«, sagte Asher.

»Danke, Professor Asher«, sagte Etna von der obersten Stufe der Treppe herab.

Ich glaube, ich war noch erstaunter als Asher, meine Frau die Treppe herunterkommen zu sehen. Sie bewegte sich langsam und würdevoll. Der Rock ihres elfenbeinfarbenen Kleides, zu dem sie ein kurzes Spitzencape trug, glitt hinter ihr in raschelnder Fülle über die Stufen. Ihr dunkles Haar, im Nacken geknotet, war von pflaumenfarbenen Perlen durchwirkt. Die Ohrgehänge bewegten sich bei jedem ihrer Schritte leise hin und her.

»Etna«, sagte ich. »Darf ich dich mit Phillip Asher bekannt machen? Du erinnerst dich vielleicht – er wurde uns bei Edward Feralds Empfang vorgestellt.«

»Ja«, antwortete Etna und trat auf die letzte Stufe hinunter. »Guten Abend, Professor Asher.«

Asher zögerte einen Moment, dann reichte er ihr die Hand. Ich glaube, daß er in diesem Augenblick eine schwerwiegende Entscheidung traf. »Sie sind mit meinem Bruder bekannt«, sagte er zu Etna. »Samuel.«

Etna nickte. »Das ist wahr«, sagte sie, und ich sah deutlich, daß er ihr nichts Neues sagte. »Und wie geht es Ihrem Bruder?« fragte sie.

Phillip Asher ließ Etnas Hand los. Etna wirkte kühl und gelassen, aber ich sah, daß ihre Finger zitterten. Und Asher sah es auch.

»Er lebt normalerweise in Kanada«, sagte er. »Aber zur Zeit hält er sich in London auf. Er ist bei der britischen Admiralität.«

Etna nickte wieder.

»Wegen des Krieges«, setzte Asher hinzu.

»Sie beide kennen sich also«, bemerkte ich, einigermaßen verwirrt von diesem Austausch.

»Nur flüchtig«, erklärte Etna. »Ich habe Professor Ashers Bruder kennengelernt, als ich noch in Exeter lebte. Er war ein Freund der Familie.«

»Aha«, sagte ich. »Du hast nie von ihm gesprochen.« Die Bemerkung war unhöflich, beinahe etwas beleidigend für Phillip Asher und seinen Bruder.

»Ich will gerade los, um die Kinder zu holen«, sagte Etna. »Sie sind bei meiner Tante zu Besuch.«

»Richtig«, sagte ich, immer noch leicht durcheinander.

»Auf Wiedersehen, Professor Asher«, sagte Etna. »Ich hoffe, ich werde bei Ihrem nächsten Besuch nicht so in Eile sein.«

»Auf Wiedersehen«, sagte Asher.

»Kommen Sie, die Drinks warten«, sagte ich in bemüht freundschaftlichem Ton, als Etna sich anschickte, ihren Hut aufzusetzen, und ich hatte den Eindruck, daß Asher mir nur widerstrebend folgte.

Ich führte ihn in mein Arbeitszimmer. Ich hatte Bücher und Papiere auf meinem Schreibtisch aufgeschichtet, um den Eindruck zu vermitteln, ich schreibe an einem Aufsatz. Asher warf einen Blick auf den Wust und nahm in einem der ledernen Clubsessel Platz.

»Was darf ich Ihnen anbieten?« fragte ich. »Einen Brandy?«

»Gern, danke«, sagte er.

»Soda?« fragte ich, die Flasche in die Höhe haltend.

»Nein, danke.«

»Gut«, sagte ich und goß auch mir selbst ein. Dann setzte ich mich Asher gegenüber und griff nach einer silbernen Dose auf meinem Schreibtisch. »Zigarette?« fragte ich. »Oder rauchen Sie Pfeife?«

»Weder noch.«

Wir tranken. Asher hatte die Beine übereinandergeschlagen, was seine Langgliedrigkeit noch betonte. In einer Pose ungezwungener Eleganz saß er da, aber mir schien, als hätte sein selbstsicheres Auftreten auf dem Weg vom Vestibül in die Bibliothek ein wenig gelitten. Von Zeit zu Zeit wippte er mit dem Fuß.

»Ihre Vorlesungen waren außergewöhnlich«, sagte ich. »Im ganzen College spricht man von nichts anderem.«

»Finden Sie?« erwiderte er.

»Ihre Ausführungen haben selbst in den unwahrscheinlichsten Ecken heftige Diskussionen ausgelöst. Genau das ist der Sinn dieser Vorlesungsreihe, ich denke also, man kann ruhig sagen, daß Sie Ihre Sache großartig gemacht haben.«

»Eine Vorlesung steht noch aus«, sagte er.

»Und dann kehren Sie nach New Haven zurück?«

»Ich weiß es noch nicht.« Er ließ das übergeschlagene Bein abwärts gleiten, bis sein Fuß den Boden berührte. »Man muß die Wahl abwarten.«

»Sie sind also noch im Rennen?«

»Ich denke schon«, antwortete er und trank noch einen Schluck Brandy.

Ich hatte dafür gesorgt, daß das Licht im Arbeitszimmer gedämpft war. Im offenen Kamin knisterte das Holz.

»Es wundert mich«, sagte ich, während ich die ölige Flüssigkeit in meinem Glas schwenkte, »daß Sie nicht einen Posten an einer renommierteren Hochschule in Betracht gezogen haben. In Oxford zum Beispiel.«

Asher warf mir einen scharfen Blick zu. Ich kann nur vermuten, was er dachte. Fragte er sich vielleicht, ob ich von dem Angebot des Jesus College wußte? Oder nahm er eher an, daß ich nur zufällig ins Schwarze getroffen hatte?

»Es ist keine besonders günstige Zeit, um ins Ausland zu gehen«, sagte Asher bedächtig.

»Das ist wohl wahr«, antwortete ich. (Es war schließlich Krieg.)

Asher sah zu seinem Glas hinunter.

»Ich bin neulich im Atlantic Monthly auf einen Artikel von Ihnen zum Pazifismus gestoßen«, bemerkte ich.

»Tatsächlich?« fragte er sehr überrascht.

»Würden Sie nicht an die Front gehen, wenn Ihr Land es verlangte?«

»Ich bin schon zu alt«, sagte er.

»Dann sind Ihre Argumente also rein theoretischer Natur. Sie betreffen Sie nicht unmittelbar.«

»Nein.« Er setzte sich ein wenig zurecht. »Aber sie sind darum nicht weniger tief empfunden. Ich stehe fest dazu.«

»Sind Sie Atheist?«

»Nein.«

»Bemerkenswert«, sagte ich.

»Bemerkenswert?«

»Nun, die Beschäftigung mit Nietzsche.«

»Das ist nur ein Forschungsgebiet.«

»Natürlich. Dann sind Sie wohl Quäker?« fragte ich.

»Nein.«

»Ja, aber was sind Sie denn dann, wenn ich fragen darf?«

Es war natürlich eine unverschämte Frage, und selbst heute weiß ich eigentlich nicht, warum ich ihn so in die Enge trieb. Hat Asher damals gezögert? Ja, da bin ich sicher. Aber nicht aus Furcht, sondern in Vorbereitung auf die Reaktion, die seine Antwort hervorrufen würde. Er schaute einen Moment von mir weg, dann blickte er mich wieder an. »Ich bin Jude«, sagte er.

Ich saß wie erstarrt, meine Hand mit dem Glas auf halbem Weg zum Mund. Ich glaube, keine andere Auskunft Ashers hätte mich mehr überraschen können. Ich bin Chinese. Ich bin Shamane. Ich bin Zigeuner.

»Tatsächlich«, sagte ich schließlich und trank.

War der Name Asher, der so eindeutig englisch klang, in Wirklichkeit ein jüdischer Name? Wußte der Verwaltungsrat, daß er einen Juden für das Amt des Vorstands des Thrupp College in Betracht zog, einer Hochschule, die meines Wissens nie zuvor einen Angehörigen des jüdischen Glaubens eingestellt hatte? Der unerklärliche Abstieg von London nach Cambridge nach New Haven nach Thrupp wurde mir nun begreiflicher.

(Ich schäme mich heute dieser opportunistischen Überlegungen. Zu meiner Entschuldigung – wenn Entschuldigungen überhaupt denkbar sind – kann ich nur sagen, daß zur damaligen Zeit jüdische Hochschullehrer außerhalb Europas eine Seltenheit und an einer Institution wie Thrupp etwas Niedagewesenes waren. Heute sieht das natürlich ganz anders aus. Ich weiß, daß allein an unserem College drei jüdische Wissenschaftler für die Besetzung unterschiedlicher Posten in Erwägung gezogen wurden: Isaiah Gordon, Robert Newman und Jerome Sills. Es wurde allerdings keiner von ihnen genommen.)

»Pazifisten gibt es überall«, sagte Asher.

»In Thrupp nicht, das können Sie mir glauben«, erwiderte ich, als ich die Fassung wiedergefunden hatte. »In unserem Städtchen denkt man ganz anders.«

Asher betrachtete die Bücherregale, eine kleine Zeichnung von Sargent, die an der Wand hing. Er beugte sich ein wenig vor und berührte den Fuß einer bronzenen Merkurfigur auf meinem Schreibtisch.

Ich war so aufgeregt über die Neuigkeit, daß ich kaum in der Lage war, klar zu denken. »Was für ein ungewöhnlicher Zufall«, bemerkte ich, »daß Ihr Bruder mit meiner Frau bekannt ist.«

»Ja, nicht wahr?« sagte er.

»Woher kennen sich die beiden?«

»Ich glaube, mein Bruder kannte den Vater Ihrer Gattin«, sagte er. »Sie waren beide Lehrer an der Phillips Academy in Exeter.«

»Eine tolerante Schule«, sagte ich erfreut.

Asher sah mich an, sagte aber nichts.

»Ihr Bruder gehört der Generation meines verstorbenen Schwiegervaters an?« fragte ich.

»Nicht ganz«, antwortete Asher. »Mein Bruder ist zehn Jahre älter als ich.«

»Also in meinem Alter.«

»Ja, in etwa, würde ich denken.«

»Und er ist nach Kanada ausgewandert?«

»Ja, nach Toronto. Er hatte sich dort gerade eingelebt, als man ihn nach London holte.«

»Gut, gut«, sagte ich.

Asher warf mir einen seltsamen Blick zu.

»Sie vermissen ihn wahrscheinlich«, sagte ich hastig.

»Wir hatten nie viel miteinander zu tun«, sagte Asher. »Der Altersunterschied. Als ich zehn wurde, war mein Bruder schon aus dem Haus.«

»Ah, ja. Sie selbst sind also meiner Frau nie begegnet?«

»Doch, doch. Ein- oder zweimal, aber nur flüchtig.«

»Darf ich Ihnen noch etwas einschenken?« fragte ich, nunmehr beinahe unerträglich guter Stimmung.

»Gern, danke.« Asher setzte sich anders in seinem Sessel, das Knarren des Leders verriet sein Unbehagen. Ein wahrhaft gelassener Mensch, sagte ich mir, könnte eine Stunde lang völlig ruhig sitzen.

»Ich nehme an, meine Frau wird bei ihrer Tante zu Abend essen«, sagte ich. »Vielleicht können wir beide später zusammen essen, Sie und ich. Im Ort.«

»Es wäre mir ein Vergnügen«, gab Asher zurück, »aber ich bin bei Eliphalet Stone eingeladen.«

»Ach, bei Stone?«

»Ja«, bestätigte Asher.

Er sagte nichts Näheres dazu. Aber das brauchte er auch nicht. Eliphalet Stone konnte Phillip Asher nur aus einem Grund in sein Haus eingeladen haben. Wußte Stone, daß Asher Jude war? Bestimmt nicht.

»Nun, dann vielleicht ein andermal«, sagte ich.

»Ja, ein andermal«, wiederholte Asher mit einem Blick zur Uhr über dem Kamin. »Ist es wirklich schon fast sechs?«

»Die Uhr geht vor«, sagte ich.

Ashers offenkundiges Verlangen zu gehen grenzte ans Unhöfliche.

»England hat schwere Verluste hinnehmen müssen«, bemerkte ich.

»Nicht ohne den anderen beträchtlichen Schaden zuzufügen.«

»Es wird sicher bald einen Luftkrieg geben«, meinte ich.

»Ja«, stimmte er zu, »er ist unvermeidlich.«

»Diese Sache mit der Hawke war ja grauenhaft.« Ich bezog mich auf den britischen Kreuzer, der vor der Küste Schottlands torpediert worden war.

»Entsetzlich, ja.«

Eine Zeitlang sprachen wir weiter über den Krieg in Europa. Ich goß mir noch einen Brandy ein.

»Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Herr Kollege?« (Asher wird meine Worte etwas seltsam gefunden haben; ich hatte ja den ganzen Abend lang nichts anderes getan als Fragen zu stellen; tatsächlich hatte unser kleines Gespräch unter Männern starke Ähnlichkeit mit einem Verhör.)

»Selbstverständlich.«

»Warum Thrupp?«

Asher räusperte sich. »Ich sehe hier eine Gelegenheit, ein Provinzcollege auf den Stand einer Universität zu bringen«, antwortete er.

»Sie würden Fachstudiengänge mit Magisterabschluß einführen?«

»Ja, das wäre mein Ziel.«

»Und wie würden Sie das finanzieren?«

»Ich müßte versuchen, Leute oder Institutionen zu finden, die bereit wären, entsprechende Mittel zur Verfügung zu stellen.«

»Ah. Ist das nicht eher eine Aufgabe für einen Collegepräsidenten als für einen Vorstand, der doch mehr oder weniger für die Disziplin zuständig ist?«

»Da muß ich widersprechen.« Asher stellte sein Glas nieder. »Zu den Aufgaben eines Collegevorstands gehört sicher mehr, als für Disziplin zu sorgen. Ihm obliegen die Geschäftsführung des College, die Planung eines Curriculums …«

»Das heißt, Sie würden den Tätigkeitsbereich dieser Position erweitern.« Meine Stimme klang beinahe wie ein Kichern.

»Ich würde ihn auf jeden Fall in vollem Umfang wahrnehmen.«

»Ich fürchte, unser kleines, bescheidenes College wird unter der Last von so viel Ehrgeiz zusammenbrechen«, sagte ich, bemüht, meine Stimme zu beherrschen.

In Ashers Blick flackerte flüchtig etwas wie Belustigung auf. »Sind wir denn nicht alle ehrgeizig?« fragte er.

»Doch, wahrscheinlich«, meinte ich.

Er sah auf seine Taschenuhr. »Ich muß wirklich gehen.« Er stand auf. »Ich danke Ihnen für Ihre Gastfreundschaft.«

»Was haben Sie in den Thanksgiving-Feiertagen vor?« fragte ich, ebenfalls aufstehend.

»Mr. Ferald hat mich freundlicherweise …«

»Ich verstehe.« Ich verstand in der Tat nur zu gut. (Aber hätte Ferald Asher auch eingeladen, wenn er gewußt hätte, daß er Jude war? Ich konnte es mir nicht vorstellen.) »Wirklich schade, daß Ihr Bruder nicht hier sein kann.«

»Ich bete für seine gesunde Heimkehr.«

Ich brachte Asher ins Vestibül hinaus. Nachdem ich Abigail herbeigerufen hatte, brachte diese ihm Hut und Mantel. »Kann ich Sie vielleicht im Auto nach Hause bringen?« fragte ich. »Ich habe diese Woche einen zweiten Wagen.«

»Das ist sehr freundlich, danke«, versetzte Asher. »Aber ich habe selbst ein Auto.«

»Ja, richtig, richtig«, sagte ich.

»Ich hoffe, Sie kommen bald einmal zu mir ins Hotel, damit ich mich für Ihre Freundlichkeit revanchieren kann«, sagte er höflich.

»Gern«, antwortete ich und öffnete die Tür.

Asher trat in die sternklare Nacht hinaus. Ich sah zu, wie er seine Handschuhe überzog.

»Sie sollten mit dem Verwaltungsrat nicht spielen«, bemerkte ich.

Das Licht der Straßenlampe fiel auf sein Gesicht, als er mich ansah. »Wie bitte?«

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie sehr lange in Thrupp bleiben würden«, sagte ich. »Ihr Ehrgeiz und Ihr geistiger Anspruch sind zu hoch. Thrupp ist ein rückständiges Provinzcollege, das auf die Dauer für Sie kaum von Interesse sein dürfte. Aber der Verwaltungsrat nimmt diese Wahl sehr ernst. Es geht um ein Amt auf Lebenszeit. Ich bezweifle, daß Sie es auf Lebenszeit behalten würden.«

Asher schwieg einen Moment, als überlegte er sorgfältig seine Worte. »Das ist meine Angelegenheit«, sagte er.

»Und auch meine«, entgegnete ich.

»Gute Nacht«, sagte Asher. Er wandte sich von mir ab und machte sich auf den Weg zu seinem Wagen.

»›Hättst nicht mit Stolz / Und blinder Eitelkeit, da gar nichts sicher, / Mein Warnen du mißachtet‹«, rief ich ihm nach, gewiß, daß gerade er Milton auf Anhieb erkennen würde.

Ich schloß die Tür. Ich lächelte. Ich glaubte nicht, daß der Professor aus Yale je wieder in meinem Haus zu Gast sein würde.

Ich war so erregt und beschwingt von meiner pikanten kleinen Neuigkeit, daß ich die ganze Nacht kaum schlief. Die verschiedensten Inszenierungen gingen mir durch den Kopf. Sollte ich Ashers Glaubenszugehörigkeit Ferald gegenüber beiläufig im Gespräch erwähnen? Wie ließ sich das am besten bewerkstelligen? Ich mußte irgendwie eine Begegnung mit dem Mann herbeiführen. Ja, so würde ich es machen. Gab es irgendeinen Vorwand, unter dem ich ihn anrufen könnte?

Am Thanksgiving-Tag waren wir in der Kirche, später zum Essen im Haus der Witwe Bliss. Unsere Gespräche drehten sich um den abwesenden William. Nicky und Clara heiterten die Runde mit einer Pantomime auf, die sie einstudiert hatten. Nicodemus spielte einen Indianer, glückselig darüber, daß er einen Tomahawk und einen Dolch schwingen durfte. Clara war eine Quäkersfrau, die als einzige ein Familienmassaker überlebt hatte. Sie blühte auf in ihrer Rolle, vor allem in jener Szene, in der sie ihre christliche Mildtätigkeit demonstrieren konnte, indem sie den armen Nicky bekehrte, der kreuzunglücklich darüber war, daß er sein schönes Lederhemd gegen einen ganz normalen Pullover tauschen mußte.

In einer kurzen Pause fiel mir die Geschichte mit dem Gemälde ein, von dem Keep gesprochen hatte, und Williams etwas wirre Reden nach der Einnahme des Morphiums. Ich beugte mich zu Etna, um sie nach dem Bild zu fragen. Ob sie jemals einen Legny besessen habe.

»Einen was?« fragte sie zurück.

»Einen Legny. Das ist ein ziemlich bekannter einheimischer Maler. Er malt impressionistische Landschaften. Hin und wieder auch Porträts. Du wirst doch Claude Legny kennen, Etna.«

»Ja«, antwortete sie zerstreut.

»Und hast du jemals ein Bild von ihm besessen?«

»Ich persönlich? Ein Bild von ihm?«

»Ja. Du persönlich. Einen Legny.«

»Was für eine Frage!« sagte sie.

»Und ich muß sagen«, fuhr ich hastig fort, da Nicky und Clara im Begriff waren, ihr kleines Schauspiel fortzusetzen, »es wundert mich etwas, daß du mit keinem Wort deine Bekanntschaft mit Phillip Asher erwähnt hast – obwohl du wußtest, daß er zu uns ins Haus kommen würde.«

»Ich war nicht sicher, ob es dieselbe Familie ist«, sagte Etna mit nur oberflächlicher Aufmerksamkeit. Ihr ganzes Interesse galt ihren Kindern auf der provisorischen Bühne. »Ich hätte Phillip Asher beinahe nicht erkannt, er war ein Junge, als mein Vater mit der Familie verkehrte«, fügte sie hinzu.

Zu weiterem Austausch hatten wir keine Gelegenheit, da nun Nicky und Clara wieder unsere Aufmerksamkeit forderten.

An diesem Abend erlitt Etna einen kurzen Rückfall und blieb den Rest des Wochenendes im Bett. Doch am folgenden Montag teilte Mary mir schon beim Frühstück mit, daß meine Frau an diesem Tag besonders zeitig aufgebrochen sei, um zum Wohnheim hinauszufahren. Ich freute mich, das zu hören, denn es hieß, daß Etna wieder ganz die alte war.

Aber kurz vor dem Mittagessen, als ich durch den Seitenflur kam, sah ich, daß Etna vielleicht doch noch nicht wieder ganz die alte war. Sie hatte ihre Reisetasche unten neben der Treppe stehenlassen. Ich öffnete sie und stellte fest, daß sie voller Lebensmittel war – Käse und Brot, Fleischpasteten, lauter Reste vom Thanksgiving-Wochenende zweifellos. Hätte die Tasche Kleidung enthalten, so hätte ich mir weiter keine Gedanken gemacht. Aber als ich die Nahrungsmittel sah, beschloß ich, Moxons Wagen zu nehmen, der noch vor dem Haus stand, und sie persönlich im Heim abzuliefern. Die letzte Autofahrt dorthin hatte mir Spaß gemacht, und ich konnte die Übung weiß Gott brauchen.

Es war ein häßlicher, regnerischer Tag, trotzdem schaffte ich es zu meinem Stolz, mich die meiste Zeit einigermaßen entspannt in meinem Sitz zurückzulehnen und nicht ständig das Lenkrad wie einen Rettungsring umklammert zu halten. Ich war vor eins in der Norfolk Street und näherte mich dem Heim, als ich Etna aus dem Haus treten sah. Toll, dachte ich, als hätten wir es abgesprochen.

Etna hob ihren Schirm und spannte ihn auf. Sie sprang mit leicht ausgebreiteten Armen die Vortreppe hinunter zur Auffahrt, wo das Coupé stand. Ich hielt an, stieg aus dem Wagen und rief ihr zu, aber sie hörte mich nicht, wahrscheinlich wegen des Regens und des Motorengeräuschs ihres Autos. Mit den ökonomischen Bewegungen einer routinierten Autofahrerin lenkte Etna den Wagen rückwärts zur Straße hinaus und wendete.

Sie bog nicht in meine Richtung ab, sondern in die entgegengesetzte. Moxons Wagen hatte sie überhaupt nicht bemerkt.

Hatte Etna noch etwas zu erledigen? Wollte sie über eine Abkürzung nach Hause fahren?

Nach einem ersten Moment der Überraschung kletterte ich wieder in den Stevens-Duryea und versuchte, meiner Frau zu folgen. Die Straße war naß und glitschig, und die Windschutzscheibe schwamm im Regen. In der Hoffnung, Etna einzuholen, trat ich das Gaspedal ein wenig weiter durch, aber viel ungeübter im Autofahren als sie, konnte ich kein ausreichendes Tempo fahren, ohne ins Rutschen zu geraten. Ich wußte nicht einmal, ob ich wirklich Etnas Wagen folgte oder einem anderen; kurz nachdem ich losgefahren war, hatte mich ein Automobil überholt, und ich konnte nur hoffen, daß es auch an Etna vorbeigefahren war. Irgendwann nahm ich undeutlich wahr, daß ich eine andere Ortschaft erreicht hatte, Drury vielleicht. Ich trat das Gaspedal noch weiter durch, das Geräusch des angestrengt arbeitenden Motors machte mir bange (ich fuhr mit einer Geschwindigkeit von über fünfzig Stundenkilometern, was für damalige Verhältnisse die reine Raserei war). Nach fünfzehn Minuten dieses Wahnsinns sah ich es grün durch den Regen schimmern. Ich beschloß, Etna zu überholen und ihr zuzuwinken, dann würde sie bestimmt anhalten.

Aber während ich noch plante, bog Etna plötzlich nach links ab in eine Auffahrt. Es ging so schnell, daß ich nicht dazu kam, ebenfalls abzubiegen, sondern an der Abzweigung vorbeischoß und erst ein Stück weiter die Straße hinauf anhielt. Zittrig vom schnellen Fahren und froh, daß dabei nichts passiert war, blieb ich einige Minuten hinter dem Lenkrad sitzen und wartete, bis ich ruhiger wurde. Dann stieg ich aus Moxons Wagen und ging zu Fuß zu der Stelle zurück, wo Etna abgebogen war. Ich wollte ihr gründlich die Leviten lesen. Bei diesem Regen so schnell zu fahren! Sie hätte sich umbringen können.

An der Zufahrt zu einem offensichtlich sehr großen Besitz blieb ich stehen. Gleich hinter dem Hauptgebäude – einem mehrere Stockwerke hohen weißen Herrenhaus mit einer imposanten Säulenhalle – stand eine kleine Remise. Vor diesem kleineren Gebäude hatte Etna den Cadillac abgestellt.

Vielleicht holte meine Frau hier eine Spende für das Heim ab. Es gab damals nicht viele Frauen, die Auto fahren konnten, vielleicht hatte Etna einer Bekannten ihre Dienste angeboten. Aber als ich mich dem Herrenhaus näherte, sah ich, daß im Erdgeschoß die Läden geschlossen und in den Fenstern der oberen Stockwerke die Vorhänge zugezogen waren wie bei einem Sommerhaus, das den Winter über leer steht. Aber wenn das Haus unbewohnt war, was tat Etna dann hier?

Ich klappte meinen Mantelkragen hoch und ging am Herrenhaus vorbei zu Etnas Coupé. Das Haus stand auf einem herrlichen Stück Land, sanft gewellt und freundlich selbst im November. Soweit ich erkennen konnte, war das Anwesen von einer schönen Steinmauer umgrenzt. Hinter dem Haus waren Rosenbeete, ein Weingarten und Obstplantagen.

Das kleine Gebäude, das ich für einen Wagenschuppen gehalten hatte, war in Wirklichkeit ein einfaches, schmuckloses Wohnhaus. Die Haustür war viel zu schmal, um einen Pferdewagen oder ein Automobil durchzulassen. Mich erinnerte das Gebäude an ein Schulhaus, und flüchtig schoß mir der Gedanke durch den Kopf, Etna hätte eine Stellung als Privatlehrerin bei einer Familie angenommen, und ich hätte einfach nicht zugehört, als sie mir das mitgeteilt hatte. Es war ein weißes Holzschindelhaus mit Fenstern ohne Läden und einem schrägen Dach, das von einer Kuppel gekrönt war. Das Gelände unmittelbar um das Häuschen herum sah aus, als wäre es bepflanzt und dann für den Winter hergerichtet worden. Nirgends rührte sich etwas, und außer dem Cadillac waren keine Autos oder Pferdewagen in der Nähe.

Ich trat zu einem Fenster und spähte hinein. Mein Blick fiel in einen Raum, der weder Salon noch Speisezimmer oder Küche war, vielmehr alles in einem, wie man es in den Hütten der Armen sieht. Die Wände waren weiß getüncht, der Verputz war an manchen Stellen abgeplatzt. Weiße Leinenvorhänge, unterhalb der Simse zur Seite genommen, zierten die Fenster, und an der Wand direkt gegenüber hing über einem Sofa der Rahmen eines gotischen Fensters wie aus einer kleinen Kapelle. Verblichene französische Blumenstudien waren mit Hutnadeln an den Wänden befestigt, und in einer Ecke des Raums stand ein hoher cremefarbener Apothekerschrank. Auf diesem Schrank sah ich eine Kuchendose aus Blech, in deren verschließbares Türchen ein grünes Muster eingestanzt war. Den einzigen Tisch in dem von diffusem Licht erfüllten Raum schmückte ein weißer Krug mit Strohblumen.

In der Mitte des Zimmers hing ein weißer Leuchter von der Decke herab. Das originelle Mittelstück des Leuchters, der zu groß war für den Raum, war ein Arrangement aus weißen Metallblumen, an denen stellenweise der Rost durchschimmerte, was ihnen einen Hauch des Morbiden verlieh. Aus dieser Blumenpracht – die teils aus Margeriten, teils aus Rosen mit scharfkantigen Blütenblättern bestand – entsprangen die sechs ausgebreiteten Arme mit den Leuchtkerzen. Überall an dem Leuchter, an Stengeln, Blättern und Ranken, funkelten Kristallgehänge.

An einem der Fenster, mit dem Rücken zu mir, saß Etna auf einem Holzstuhl mit gerader Lehne. Sie war über eine Handarbeit gebeugt.

Ich trat vom Fenster weg und drückte mich an die Hauswand. Der Regen schlug mir ins Gesicht. Ich weiß nicht, warum ich so reagierte, warum ich nicht einfach ans Fenster klopfte, um meine Frau auf mich aufmerksam zu machen, warum ich nicht, wie es sich gehört hätte, an die Tür klopfte. Ich glaube, der Schock darüber, meine Frau in der weißen Stille dieses fremden Zimmers so ruhig über ihrer Arbeit sitzen zu sehen, hatte mich völlig aus der Fassung gebracht.

Fragen stürmten auf mich ein. Was tat Etna hier? Wem gehörte das Häuschen? War es das Häuschen einer Schneiderin? Hatte Etna Näharbeiten angenommen, um etwas Geld zu verdienen?

Als ich mich wieder dem Fenster zuwandte, tat ich es mit einer gewissen Verstohlenheit. Ich beobachtete sie bei ihrer Näharbeit. Ich sah, wie sie eine Nadel zwischen die Lippen klemmte. Sie hob das Material, an dem sie arbeitete, ordnete es neu und legte es wieder auf ihrem Schoß zurecht. Ihr Autohut und der Mantel mit dem Fuchskragen lagen auf dem Sofa wie in Eile hingeworfen. Unter dem Schirm, der geschlossen in einer Ecke stand, hatte sich eine Pfütze gebildet.

Vielleicht eine halbe Stunde lang beobachtete ich so heimlich meine Frau, nur ab und zu warf ich einen Blick zur Straße, um mich zu vergewissern, daß nicht jemand vorbeikam und sich über diesen Menschen wunderte, der da in ein Fenster spähte. Während ich dort stand, nahm ich weitere Einzelheiten der Zimmereinrichtung wahr – ein kleines Spülbecken aus Porzellan, einen Kochherd, einen Schemel, auf dem ein Teller mit gelben Birnen stand –, aber es zog meinen Blick immer wieder zu dem weißen Leuchter, dessen Bild sich in den regennassen Fensterscheiben auflöste und neu formte. Ich dachte an die Rechnung für einen weißen Leuchter, die ich nichtsahnend geöffnet hatte, und an Etnas Behauptung, sie habe die Lampe zurückgeschickt. Weißes Eisen mit sechs Leuchtkerzen.

Etna stand auf und drehte sich in meine Richtung, als hätte sie mich ertappt. Aber sie nahm nur ein Stück Seidenstoff aus einem unverschnürten Paket auf einem Bord. Dann setzte sie sich wieder auf ihren Stuhl.

Mit jeder Minute, die verstrich, wurde es schwerer vorstellbar, an Fenster oder Tür zu klopfen. Und es hatte, um hier die Wahrheit zu sagen, auch etwas Erregendes, meine Frau zu beobachten. Es war, als wäre ich ein Fremder, der einem Theaterstück zusah, dessen Sinn für sein Leben von alles entscheidender Bedeutung war. Meine Frau war nicht meine Frau, sondern eine von mir getrennte Person. Sie war nicht erreichbar für mich, ich konnte sie nicht rufen oder berühren. Sie existierte in einer anderen Welt.

Etna kniete auf dem Holzfußboden nieder und breitete vor sich das Stück Seidenstoff aus, dessen Ränder in der Fensterscheibe verschwammen. Sie steckte ein Schnittmuster aus Papier auf dem Stoff fest und begann, es auszuschneiden. Dann stand sie auf, trug das Kleidungsstück, das sie bereits fertig genäht hatte, zum Sofa und glättete es. Die Hände unter dem Kinn zusammengelegt, betrachtete sie es einen Moment (ich glaube, es war ein Nachthemd). Sie neigte den Kopf zur Seite, und ich stellte mir vor, daß sie ein wenig die Stirn runzelte, dann stemmte sie die Hände in die Hüften und schaute sich um. Sie hob die Stoffreste vom Boden auf und verstaute sie in einem Nähkorb.

Ich beobachtete, wie sie zum Herd ging, einen Kessel aufsetzte und Teekanne, Tasse und Untertasse aus einem Schrank nahm. Eine Zeitlang stand sie ruhig da und starrte durch ein kleines Fenster über dem Spülbecken hinaus (zum Glück nicht in meine Richtung), bis sogar ich das Pfeifen des Kessels hörte. Sie gab Tee in die Kanne und trat zu einem anderen Schrank. Sie nahm einen Schreibkasten heraus und stellte ihn auf den Tisch. Sie ließ den Tee eine Weile ziehen. Dann goß sie sich eine Tasse ein und stellte diese auf den Tisch neben das Schreibzeug. Ich hatte den deutlichen Eindruck, daß der Tisch wackelte. Sie nahm einen Federhalter, eine Tintenflasche und ein Blatt Papier aus dem Kasten und begann zu schreiben. Ab und zu hielt sie inne, um einen Schluck Tee zu trinken.

Das alles waren ganz alltägliche Handlungen, denen ich keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt hätte, wäre Etna zu Hause gewesen. Aber sie durch das Fenster dieses fremden Hauses zu beobachten, das war etwas ganz anderes. Ich spürte eine Art Faszination neben dem unaufhörlichen Hämmern der zentralen Frage: Was hat meine Frau in diesem Haus zu tun?

Wie lange ich so an dem Fenster stand, während mir der Regen den Nacken hinunterrann und die Rückseite meiner Hose durchnäßte, kann ich heute nicht mehr sagen. Ich stand still und lautlos.

Nach einer Weile legte Etna den Federhalter nieder und räumte das Schreibzeug weg. Sie spülte Tasse, Untertasse und Teekanne im Becken. Sie schüttelte das Wasser von der Tasse, trocknete sie mit einem Tuch und stellte sie wieder in den Schrank. Sie schüttelte auch ihre Hände aus und wischte sie mit dem feuchten Tuch ab. Sie sah sich kurz im Zimmer um und ging zum Sofa. Als sie die Arme in ihren Mantel schob, lief ich um die Ecke, um von ihr nicht gesehen zu werden. Ich hörte sie herauskommen, hörte die Tür zweimal zuschlagen, als hätte sie beim erstenmal nicht richtig geschlossen. Einige Minuten später startete ein Motor.

Ich rutschte an der Holzschindelwand zum Boden hinunter, meine Beine waren plötzlich ohne Kraft.

Ich war fassungslos. Warum sollte meine Frau, Etna Bliss Van Tassel, mit ihrem Auto nach Drury, New Hampshire, fahren, um sich in ein fremdes Haus zu setzen und zu nähen, wo sie doch zu Hause nähen konnte – und dies auch beinahe jeden Abend tat?

Ich war zerstreut beim Fahren und bog ein paarmal falsch ab. Schlimmer noch, mir ging das Benzin aus, und ich mußte warten, bis ein Autofahrer vorbeikam, der mir aushelfen konnte. Als ich zu Hause eintraf, stand Etnas Coupé in unserer Auffahrt. Naß bis auf die Haut, lief ich ins Haus und ging schnurstracks nach oben in Etnas Ankleidezimmer.

Sie stand im Unterkleid vor dem Spiegel und hielt sich ein Kleid an, das sie zum Abendessen anziehen wollte.

»Nicholas!« rief sie und drückte das Kleid an ihre Brust.

»Wo warst du?«

»Wie meinst du das?«

»Wo warst du?« schrie ich sie an. In Hut und Mantel stand ich da, und das Wasser tropfte von meinen durchnäßten Kleidern. Ich wußte, daß ich meiner Frau angst machte, aber es war mir egal.

»Ich war im Heim«, sagte sie. »Ich bin eben nach Hause gekommen.«

»Ich habe das Heim aufgesucht«, entgegnete ich. »Dort warst du nicht.«

»Dann war ich wahrscheinlich schon weg«, sagte sie. »Nicholas, was hat das alles zu bedeuten?« Sie gab sich überrascht und verärgert über meine Fragen, aber ihre Haltung war nicht ganz so gelassen und unschuldig, wie sie sich das vielleicht gewünscht hätte.

»Ich war um halb zwei dort«, sagte ich.

»Ah.« Sie tat, als überlegte sie. »Tja, ich weiß nicht, um welche Zeit ich gegangen bin, aber ich hatte noch etwas zu erledigen.«

»Was denn? Wo?«

»Ich mußte in Drury noch einen Stoff kaufen«, sagte sie. »Wirklich, Nicholas, hör endlich auf, mich anzubrüllen. Das ist ja das reinste Verhör! Bitte verlaß jetzt mein Ankleidezimmer.«

Ich blieb stehen, auf der Schwelle zur Anklage, die von den Spiegeln im Ankleidezimmer vierfach zurückgeworfen worden wäre. Vielleicht öffnete ich sogar den Mund. Einen langen Augenblick standen wir einander stumm gegenüber, Mann und Frau durch einen Abgrund des Schweigens getrennt. Würde sie mir gleich ihren Besuch in dem fremden Haus beichten? Würde ich ihr gleich gestehen, daß ich sie wohl eine Stunde lang durch ein Fenster beobachtet hatte, ohne mich bemerkbar zu machen? Fürchtete ich mich, etwas anzusprechen, was, einmal gesagt, nie wieder zurückgenommen werden konnte? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß das Schweigen zwischen uns so tief war, daß keiner von uns zunächst Marys aufgeregte Rufe von unten bewußt wahrnahm.

»Mary ruft«, sagte Etna schließlich.

»Was?«

»Mary ruft.«

Ich ging zur Treppe. »Was ist denn, Mary?« rief ich hinunter. Ungeduldig.

»Das Auto, Sir, das Auto!« schrie Mary, wie eine Wahnsinnige mit den Armen wedelnd. »Es fährt von ganz allein rückwärts die Auffahrt runter.«

Ich sprang zum Fenster. Von dort aus konnte ich sehen, daß der Stevens-Duryea tatsächlich mit wachsender Geschwindigkeit die gekieste Auffahrt hinunterrollte. Das schlimmste aber war – und ich verstand jetzt Marys hysterisches Geschrei –, daß Clara im Auto saß und sich wie gelähmt an das hölzerne Lenkrad klammerte. Offenbar hatte ich in der Eile, Etna zur Rede zu stellen, den Motor des Wagens nicht abgestellt.

Ich rannte die Treppe hinunter und stürzte, den Namen meiner Tochter rufend, zur Haustür hinaus. Meine nassen Kleider behinderten mich beim Laufen, und ich bin, wie der Leser weiß, an sich schon kein sportlicher Mensch, aber es ist schon wahr, was man sagt, daß ein Vater, wenn er sein Kind in Gefahr sieht, wahre Wunder an körperlichem Einsatz vollbringen kann. Ich rannte dem davonrollenden Wagen die Auffahrt hinunter nach und schrie Clara dabei immer wieder zu, sie solle auf die Bremse treten – dabei konnte das arme Ding doch ein Bremspedal nicht von einem Schalthebel unterscheiden. Als ich das Fahrzeug endlich erreichte, umklammerte ich den Türrahmen und sprang auf das Trittbrett. Unter dem Schwung meiner Bewegung geriet der Wagen ins Schlingern. Ich fürchtete, die Räder würden in den Graben neben der Auffahrt rutschen, und das Auto würde umstürzen. Ich schrie Clara zu, sie solle zur Seite rücken. In ihrer Angst kroch sie zum Boden hinunter. Mit der Geschicklichkeit eines Schlangenmenschen bekam ich die Tür auf der Fahrerseite auf und warf mich hinter das Lenkrad. Nach mehreren Fußtritten zu den Pedalen hinunter gelang es mir endlich, den Stevens-Duryea anzuhalten, nur Zentimeter vor einer Steinmauer entfernt, die das Grundstück uns gegenüber umschloß.

Als ich keuchend aufblickte, sah ich, daß Nicky, Abigail und Mary aus dem Haus gekommen waren, um die wilde Jagd zu beobachten. Etna stand, die Hände auf den Mund gepreßt, an einem der oberen Fenster. Ich hob die verstörte Clara vom Boden auf und drückte sie an mich. Ich bin sicher, wir haben uns gegenseitig getröstet.

An diesem Abend kamen weder Etna noch Clara zum Essen herunter. Bei Clara konnte ich das verstehen, nicht aber bei meiner Frau. Abigail meldete, Etna habe sich, ohne etwas zu essen, im Gästezimmer schlafen gelegt, da sie mich nicht stören wolle.

Mich stören? dachte ich, sprach es aber nicht aus, da ich mit Nicky am Tisch saß, der nach dem Zwischenfall am Nachmittag immer noch zitterte. Mich stören, womit? fragte ich mich. (Es ist durchaus möglich, daß Nicky vor Aufregung zitterte; für einen Sechsjährigen war die Sache mit dem durchgegangenen Automobil vermutlich sehr spannend gewesen.) Ich fand meine Frau feige und beschloß, sie nach dem Abendessen zu wecken und ihr das zu sagen; wahrscheinlich hätte ich es auch getan, wäre nicht, als wir bei der Suppe saßen, der Telephonanruf gekommen.

Feralds Ton war sachlich. Er wolle mich gleich am Morgen bei sich zu Hause sprechen. Ob es mir um neun Uhr passen würde. Ja, sagte ich, selbstverständlich.

Als ich aufgehängt hatte, ließ ich mich in den Sessel im Vestibül sinken. Was wollte Ferald von mir? Sein Ton war frostig gewesen, aber Edward Ferald war ja auch nicht für seine Herzlichkeit bekannt. Hatte er mich zu sich zitiert, um mir mitzuteilen, daß ich als Kandidat für den Posten des Vorstands ausgeschieden war? Nein, nein, das wollte ich nicht glauben. Weshalb sollte er sich diese Mühe machen, wo doch die Abstimmung nur noch wenige Tage entfernt war? Mir kam ein anderer, erfreulicherer Gedanke. War es möglich, daß Ferald auf irgendeinem anderen Weg davon gehört hatte, daß Asher Jude war? Und wenn ja, konnte es dann sein, daß Ferald im Namen des Verwaltungsrats Nicholas Van Tassel den Posten des Collegevorstands anbieten wollte?

Ich schlief nicht gut in dieser Nacht. Wie hätte es auch anders sein sollen? Wenn ich mir nicht gerade den Kopf darüber zerbrach, warum meine Frau mich über ihren Aufenthalt in einem fremden Haus belogen hatte (aber hatte sie mich denn belogen?, ich versuchte, mir die genauen Fragen und Antworten ins Gedächtnis zu rufen), dachte ich über den Dialog nach, der binnen kurzem zwischen Edward Ferald und mir stattfinden würde. Ich stellte mir das Gespräch vor, meine dankbare Bescheidenheit (meinen bescheidenen Dank) und den feierlichen Ernst, mit dem ich die Berufung annehmen würde. Aufgrund früherer Erfahrungen war zu erwarten, daß Edward Ferald es sich nicht würde verkneifen können, mich wissen zu lassen, daß ich nicht seine erste Wahl war. Aber vielleicht würde er nach so langer Zeit doch endlich das Kriegsbeil begraben und mir aufrichtig Glück wünschen? Egal. Auch wenn er es nicht fertigbrachte, über sich selbst hinauszuwachsen, würde der Ausgang der gleiche sein. Ich würde sein Haus rechtzeitig verlassen, um als neuer Vorstand des Thrupp College pünktlich zu meinem Zehn-Uhr-Seminar zu erscheinen.

Ich kleidete mich mit Sorgfalt, wählte meinen besten Kammgarnanzug und einen gestreiften Seidenschlips. Ich steckte die Krawattennadel mit dem Brillanten an, die Etna mir geschenkt hatte und die ich nur zu besonderen Anlässen trug. Ich gab mir größte Mühe, gepflegt zu wirken. Wie ich vielleicht erwähnt habe, begann mein Haar sich zu lichten, und ich hatte am Scheitel bereits eine kahle Stelle, als hätte mir jemand ein Büschel Haare ausgerissen. Ich rasierte mich sehr genau und benetzte mein Gesicht wiederholt mit kaltem Wasser, um die schwammigen Ringe um die Augen, Folge meiner Erregbarkeit, zum Abschwellen zu bringen.

Ich war froh um den Stevens-Duryea; ich meinte, es würde beeindruckender wirken, wenn ich im Auto kam statt zu Fuß. Ich bemühte mich, ruhig zu fahren und meine Gedanken auf geradem Kurs zu halten. Alle Bilder von Etna in dem fremden Haus wehrte ich sofort ab. Ich wollte bei diesem wichtigen Zusammentreffen auf keinen Fall zerstreut oder abgelenkt sein. Mein Urteil über Feralds Herrschaftsvilla erfuhr eine gewisse Milderung, als ich vor dem Haus hielt. Vielleicht waren der englische Kalkstein und die griechischen Säulen doch nicht ganz so prätentiös, wie ich gemeint hatte. Warum sollte ein Mann sich nicht ein Haus nach seinem eigenen extravaganten Geschmack bauen?

Ich sprang flott aus dem Wagen, und ich glaube, ich wirkte durchaus selbstsicher und gelassen, als ich an die Haustür klopfte. Ein Butler öffnete mir (ja, ein echter Butler in Thrupp, New Hampshire, aber bitte), nahm mir Mantel, Hut und Handschuhe ab und sagte, Mr. Ferald erwarte mich.

Ich folgte ihm ein gutes Stück Wegs zu einer imposanten zweiflügeligen Tür, die mir von meinem letzten Besuch im Haus nicht in Erinnerung war; die Porzellanklinken waren beinahe in Kinnhöhe angebracht. Der Butler ließ mich in einen großen, gut beleuchteten Raum treten, in dessen Mitte ein glänzender ovaler Tisch stand. Er bat mich, an dem Tisch Platz zu nehmen, und ich folgte der Aufforderung.

Ich faltete die Hände und wartete, nachdem der Butler mir versichert hatte, Mr. Ferald werde gleich kommen. An den Wänden rund um mich herum waren Bücherregale, die bis zu einer ebenfalls mit Büchern ausgestatteten Galerie hinaufreichten. (Dabei liest der Mensch nicht einmal, dachte ich.) Dank der, wie die tiefen Fensternischen zeigten, kräftigen Mauern des Hauses und der dicken Teppiche war es so still im Zimmer, daß ich die Uhr in meiner Tasche ticken hörte.

Während ich wartete – eine Ewigkeit, wie mir schien –, sah ich immer wieder auf die besagte Uhr. Zehn nach neun. Zwanzig nach neun. Wenn Ferald nicht bald erscheint, dachte ich, komme ich zu spät zu meinem Seminar. Macht nichts, tröstete ich mich; da wäre ich schon der neue Vorstand, und bald müßte ich überhaupt nicht mehr unterrichten – eine herrliche Vorstellung, gelinde gesagt.

Punkt halb zehn sprang die schwere Flügeltür auf. Edward Ferald trat ein, mit gepflegtem Spitzbart, im moosgrünen Jackett. Unter dem Arm trug er einen abgegriffenen alten Ordner von der Art, wie wir sie Jahre früher im College benutzt hatten. Ich stand auf, aber er bedeutete mir, wieder Platz zu nehmen. Er setzte sich mir gegenüber an den Tisch.

»Ich habe Sie heute hergebeten«, begann er (ohne ein Wort der Begrüßung; der Mann hatte überhaupt keine Manieren), »weil ich eine Kleinigkeit mit Ihnen besprechen möchte, die mir zur Kenntnis gelangt ist.«

»Was für eine Kleinigkeit?« fragte ich. Es waren meine ersten Worte bei dieser Begegnung.

Ferald warf einen Blick in den Ordner. »Noah Fitch führte über jeden Dozenten, der ihm direkt unterstellt war, als er den Hitchcock-Lehrstuhl innehatte, eine Akte«, sagte er. »Ich hielt es für angebracht, mir im Archiv die Ihre herauszusuchen, da wir Sie ja für den Posten des Collegevorstands in Betracht ziehen.«

»War das nötig?« fragte ich und merkte plötzlich, daß meine Oberlippe feucht war. Warum mußte es in diesem Zimmer so warm sein? Ich brauchte mein Taschentuch, aber nicht um alles würde ich es vor Feralds Augen herausholen.

»Bei der Durchsicht Ihrer Akte«, erklärte Ferald, »mußte ich feststellen, daß es da – wie soll ich es ausdrücken? –, daß es da eine etwas beunruhigende Anmerkung gibt.«

»Ja?«

»Es scheint da einen Plagiatsverdacht gegeben zu haben.« Ferald sprach das Wort mit demonstrativem Abscheu aus. »Im Zusammenhang mit einer Monographie über die frühen Romane Sir Walter Scotts«, fuhr er fort. »Sagt Ihnen das etwas?«

Die Feuchtigkeit, die ich zuerst nur auf meiner Oberlippe wahrgenommen hatte, brach mir jetzt aus allen Poren, selbst auf meinem kahlen Scheitel spürte ich sie. »Wohl kaum«, sagte ich.

Ich hatte jetzt gar keine Wahl mehr, ich mußte mein Taschentuch ziehen und mir Gesicht, Hals und Kopf abtupfen. Ferald lächelte geduldig und wartete, bis ich das durchfeuchtete Tuch wieder eingesteckt hatte, bevor er zu sprechen fortfuhr.

»Aber Noah Fitch hat sich doch damals mit Ihnen über Ihre Arbeit unterhalten?«

»Das kann gut sein«, antwortete ich. »Man kann von mir nicht erwarten, daß ich mich an ein Gespräch erinnere, das … wann sagten Sie, soll es stattgefunden haben?«

»Im März 1900.«

»… das vor vierzehn Jahren stattgefunden hat.«

»Trotzdem.« Ferald hielt inne. »Es geht um den Vorwurf des Plagiats, das ist eine äußerst ernste Angelegenheit.«

»Ich glaube, Noah Fitch entschuldigte sich damals bei mir dafür, daß er die Sache zur Sprache gebracht hatte«, sagte ich. »Ja, ich bin ganz sicher, daß es so war.«

»Dann erinnern Sie sich also doch an das Gespräch«, sagte Ferald.

»Möglich.« Ich winkte ab, als wollte ich die Sache beenden.

Ferald goß sich aus der Karaffe, die auf dem Tisch stand, Wasser ein und trank. Er hatte schmale Lippen und eine spitze Zunge, die ins Glas vorstieß. »Wasser?« fragte er.

»Nein, danke.«

»Offenbar«, fuhr Ferald fort, nachdem er seinen Durst gestillt hatte, »hielt Fitch diese Sache keineswegs für belanglos. Jedenfalls nicht, wenn wir seinen Aufzeichnungen glauben.«

»Pardon?«

»Um genau zu sein«, sagte Ferald, »die Bemerkung hier, in Fitchs Handschrift – und an ihrer Echtheit gibt es, fürchte ich, keinen Zweifel –, lautet …« Ferald räusperte sich. »›VT bestreitet den Vorwurf des Plagiats, seine Monographie über Scott betreffend, an der verblüffende Ähnlichkeiten zu einer Arbeit von Alan Dudly Severance vom Amherst College auffallen. Ich habe es bei einer strengen Warnung bewenden lassen, da VT ein wertvoller, wenn auch nicht gerade brillanter Rhetoriklehrer ist und ich bezweifle, daß wir so schnell einen Ersatz für den Rest des Semesters auftreiben würden. Aber VTs wissenschaftliche Arbeit wird natürlich in Zukunft mit äußerster Sorgfalt geprüft werden. Vielleicht wäre eine förmliche Überprüfung angebracht?‹«

»Ich – eine derartige Überprüfung hat nie stattgefunden«, erklärte ich, während mir noch die Worte nicht gerade brillant in den Ohren dröhnten.

»Nein. Ganz recht«, sagte Ferald und trank wieder einen Schluck Wasser. »In diesem Dokument sind, ebenfalls in Fitchs Handschrift, einige Passagen aus Ihrem Buch aufgeführt. Sie stimmen beinahe wörtlich mit Passagen aus Severances Monographie überein, die mehrere Jahre vor Ihrer Arbeit veröffentlicht wurde und die ich, nebenbei bemerkt, gelesen habe.« Ferald sah mich an und lächelte. »Möchten Sie sich die Zitate ansehen?«

»Nein«, sagte ich. »Das möchte ich nicht. Ich habe den Vorwurf damals mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen, und das tue ich auch jetzt.«

»Natürlich, natürlich.«

»Das sind doch alte Geschichten«, sagte ich. »Völlig bedeutungslos.«

Ferald lehnte sich zurück. Er faltete die Hände und hob sie unters Kinn. »Da muß ich Ihnen leider widersprechen, Van Tassel.« Ich vermerkte, daß seine Hemdbrust wie stets so weiß war, als wäre sie neu. Ließ er sich seine Hemden dutzendweise schneidern und trug dann jedes nur einmal? »Nur dieser ›alten Geschichten‹ wegen habe ich Sie heute zu mir gebeten. Der Mann, den wir auf den Posten des Collegevorstands berufen, muß über jeden Vorwurf erhaben sein«, sagte Ferald. »Keine Flecken auf der weißen Weste.«

»Es gibt keine Flecken.«

»Aber doch – hm, sagen wir, eine kleine Verfärbung.«

»Ich …«

»Und wenn ich das an dieser Stelle sagen darf, Van Tassel – ich habe den Eindruck, daß Fitch die Angelegenheit aus praktischen Erwägungen auf sich beruhen ließ und nicht, weil er den Vorwurf für ungerechtfertigt hielt.«

»Aus praktischen Erwägungen?« fragte ich. »Das ist eine unglaubliche Fehlinterpretation der ganzen Geschichte.«

»Ich denke, ich verstehe mich recht gut aufs Interpretieren«, entgegnete Ferald.

»Sie haben Ihre Stunden geschwänzt«, platzte ich unbesonnen heraus.

Ferald lächelte. »Das stimmt«, sagte er. »Und ich bin streng dafür bestraft worden, wie ich mich erinnere. Mit einem Ungenügend. Das mich zwang, das zweite Semester meines dritten Jahrs zu wiederholen.«

»Jeder Student muß die Folgen seiner Fehler tragen«, sagte ich.

»Und ebenso jeder Professor«, versetzte Ferald, die Akte schließend. »Wenn Sie Ihre Kandidatur nicht zurückziehen, Van Tassel, mache ich dem Verwaltungsrat von dieser Sache Mitteilung.«

»Sie können doch nicht …«

»Aber wenn Sie zurückziehen, wird kein Mensch etwas erfahren, und Sie können am College bleiben.«

Ich riß die Augen auf. Am College bleiben? »Was soll das heißen?« fragte ich.

»Das soll heißen, daß Sie dann Ihre Stellung behalten.« Er rieb sich eine steile Falte auf der Stirn. »Es heißt allerdings nicht, daß wir nicht vielleicht später Ihre Eignung als Leiter Ihrer Abteilung überprüfen werden.«

Ich schüttelte den Kopf. Ich brauchte Zeit zum Denken. Ich knöpfte mein Jackett auf. »Das ist unerhört!« sagte ich.

Ferald zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen, es sei kaum von Bedeutung.

»Und das alles, weil ich Sie einmal habe durchfallen lassen?« fragte ich.

Ferald stand auf. »Ich werde Ihren Rücktritt von der Kandidatur bei der Sitzung am 4. Dezember bekanntgeben.« Er klemmte sich die alte Akte unter den Arm und sah mich eine Weile an.

Ich wäre mit ihm aufgestanden, aber ich konnte nicht. Mir zitterten die Arme vom Schock, und mein Mund war ausgetrocknet.

»Hat der Rundgang Ihnen Spaß gemacht?« fragte er.

»Rundgang?« wiederholte ich, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. »Was für ein Rundgang?«

»Durch mein Haus.«

Ich hätte gern meinen Kragen geöffnet. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen«, sagte ich.

»Am Abend des Empfangs hier, Van Tassel. Einer meiner Angestellten hat mir berichtet, daß Sie sich mein Haus angesehen haben.«

»Ich …«

»Das Schwimmbecken zum Beispiel?« meinte er.

Ich zog noch einmal mein Taschentuch heraus und wischte mir die Stirn.

»Den Wintergarten?« fragte Ferald. »Am Abend des Empfangs.«

»Ich – ich hatte meine Frau verloren«, stammelte ich.

Ferald lächelte. »Ah, ja.«

Ich zwang mich aufzustehen, mußte mich dabei aber mit den Händen auf die Tischkante stützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ich räusperte mich. »Ich nehme an, Sie wissen, daß Phillip Asher Jude ist«, sagte ich, der Mann, der seinen Trumpf ausspielt, nachdem alle anderen Spieler das Zimmer längst verlassen haben.

Ferald schwieg einen Moment.

»Jude«, wiederholte ich.

Ferald betrachtete mich mit merkwürdigem Blick. »Guten Tag, Van Tassel«, sagte er.

An die Fahrt zum College erinnere ich mich kaum. Ich stellte den Wagen auf dem Rasen ab und ging in die Chandler Hall zum Unterricht. Ich trat in den Seminarraum, in dem die Studenten schon warteten (ich hatte mich verspätet), und setzte mich mit wackligen Beinen an mein Pult. Nach einer Weile hob ich den Kopf und blickte den jungen Leuten vor mir in die erwartungsvollen Gesichter.

Ich erkannte nicht ein einziges.

Eine geraume Zeit saß ich in einem Zustand der Verwirrung hinter meinem Pult, während die verdutzten Studenten auf ein Wort von mir warteten. Aber mir fiel nichts ein, was ich zu ihnen hätte sagen können. Ich fragte mich, ob ich vielleicht einen Schlaganfall erlitten hatte; ob dieser peinliche Gedächtnisverlust, dieses Zittern an allen Gliedern durch den Verschluß eines Blutgefäßes ausgelöst war.

Eine Gestalt erschien unversehens an der Tür, und ich drehte den Kopf. Es war Owen Ellington, ein jüngerer Kollege, mit einer Tasse Tee in der Hand. Auch er schien einigermaßen perplex, wenn auch auf freundliche Art.

»Professor Van Tassel«, sagte er. »Das ist aber nett. Was kann ich für Sie tun?«

Kann sein, daß ich ihn begrüßte. Ich stand auf und nahm meine Aktentasche. Ellington trat zur Seite, und ich ging zur Tür hinaus in den Korridor. Einen Moment lang wußte ich nicht, welche Richtung ich einschlagen sollte.

Mit bewußt entschlossenem Schritt begab ich mich auf die Suche nach meinem Seminarraum. Ich konnte kaum an etwas anderes denken als an die demütigende Szene, die ich soeben in Feralds Haus erlebt hatte. Welche Möglichkeiten, mich zu wehren, hatte ich? Konnte ich Einspruch erheben? Doch, sagte ich mir, das konnte ich. Und ich würde es auf der Stelle tun. Ich genoß doch im Kollegium bestimmt mehr Respekt als Ferald. Und doch … und doch … Eine solche Anschuldigung an die Öffentlichkeit zu tragen konnte für mich in der Katastrophe enden. Ich lehnte mich an die Wand. Mir war völlig klar, wie eine solche Enthüllung sich auf meine Karriere auswirken würde.

Ich fand mein Unterrichtszimmer und trat ein. Ich ging zum Pult und setzte mich. Ich sah meine unruhigen und ungeduldigen Studenten an, die sich zweifellos fragten, wie es kam, daß Professor Van Tassel seit der letzten Woche so stark gealtert war.

Auf der Fahrt zum Baker-Haus war ich eigenartig ruhig. Mittlerweile sowohl mit dem Stevens-Duryea als auch mit der Straße vertraut, hatte ich bei meiner Ankunft in der Norfolk Street das Gefühl, die Fahrt im Nu geschafft zu haben. Aber ich hatte nicht die Absicht, ins Haus zu gehen oder mich überhaupt bemerkbar zu machen. Ich wollte an diesem Tag nur unsichtbar bleiben.

Ich parkte auf einer Lichtung hinter einer Gruppe Eichen, die ihr Laub noch nicht abgeworfen hatten. Ich glaubte nicht, daß man mich vom Haus aus sehen könnte, da ich selbst das Gebäude nur undeutlich erkannte; und auch vor Blicken von der Straße fühlte ich mich sicher. Etna sollte auf keinen Fall wissen, daß ich hier war.

Ein Junge auf einem Fahrrad und ein Mann mit Schirmmütze kamen vorbei, ohne mich zu bemerken. Abgesehen von diesen beiden sah ich in der Stunde, die ich hinter den Bäumen ausharrte, keinen Menschen. Erschöpft von den Ereignissen des Morgens und einer schlaflosen Nacht nickte ich offenbar eine Weile ein. Ich fuhr in die Höhe, als ich schwache Geräusche hörte: eine Stimme, zwei Stimmen, von denen ich eine kannte. Als ich mich aufsetzte, sah ich, daß Etna aus einer der beiden Türen heraustrat. Sie rief irgend jemandem, der im Haus blieb, einen Abschiedsgruß zu und ging zu ihrem Coupé.

Ich hatte nicht über diesen Punkt hinausgedacht und fragte mich jetzt, was ich tun sollte. Sollte ich Etna folgen wie ein gemeiner Detektiv? Aber wie war das überhaupt zu bewerkstelligen, ohne daß sie etwas merkte? Mir wurde plötzlich die ganze Absurdität des Unternehmens bewußt, und beinahe wäre ich aus dem Wagen gestiegen und hätte sie gerufen, als ich sie rückwärts aus der Auffahrt hinausfahren sah. Die Sache mit dem fremden Haus war jetzt ohne Belang. Ich mußte einfach mit Etna sprechen. Sie würde mir raten können, wie ich mich nach dem Gespräch mit Ferald verhalten sollte. Mindestens würde sie mich trösten.

Aber ich verlor sie prompt aus den Augen. Ich war sicher, daß ich den Weg zu dem Häuschen wiederfinden würde, doch da irrte ich mich. Bei der Verfolgungsfahrt im Regen am Tag zuvor war ich offenbar an einer Stelle abgebogen, die ich mir nicht gemerkt hatte. Jedenfalls fand ich mich plötzlich auf einer unbekannten Straße mitten in einem Wald wieder. Ich hielt den Wagen an und stieg aus, in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis darauf zu finden, wohin ich geraten war. Aber ich entdeckte nichts. Mir blieb nichts anderes übrig, als weiterzufahren und zu hoffen, daß ich unterwegs einem Bauern begegnen würde, der mir weiterhelfen konnte. Zwanzig Minuten lang fuhr ich so umher, bis ich endlich auf ein kleines Haus stieß, das ein Stück von der Straße zurückgesetzt war. Ich klopfte an und wurde von einer etwas erstaunten Frau darüber aufgeklärt, daß ich mich in Vermont befand. Vermont! Wann hatte ich denn den Connecticut River überquert? Wie ich wieder auf die Hauptstraße gelangen würde, konnte mir die Frau nicht genau sagen, aber sie erklärte mir immerhin den Weg zu einem Gemischtwarenladen, wo ich mir genauere Auskünfte holte. Mit den Nerven fast am Ende, überquerte ich noch einmal den Fluß und fuhr, den Schildern folgend, nach Drury weiter, wo das Häuschen stand, in dem ich Etna beobachtet hatte.

Ich brauchte noch einmal fast eine halbe Stunde, um das Anwesen zu finden, und schwor mir, als ich endlich angekommen war, mir bei nächster Gelegenheit eine Straßenkarte zu besorgen. Ich ließ den Wagen an derselben Stelle stehen wie am Tag vorher und ging zum Haus, aber ich näherte mich nicht so direkt wie bei meinem ersten Besuch, sondern hielt mich mehr am Waldrand. Trotzdem hätte Etna mich jederzeit sehen können, wenn sie einen Blick aus dem Fenster geworfen hätte. Aber das tat sie nicht.

Sie saß wieder an dem wackeligen kleinen Tisch, diesmal in ein Buch vertieft, das aufgeschlagen vor ihr lag. Sie trug ein schwarzes Seidenkleid mit einem roséfarbenen Kragen, dazu eine Halskette aus rosaroten Glasperlen. Sie hielt den Kopf über das Buch geneigt und hatte die Hände im Schoß gefaltet. Nach einer Weile stützte sie einen Ellbogen auf den Tisch und drückte die Finger an die Stirn, ganz ähnlich wie Clara das immer tat, wenn sie für eine Prüfung lernte. Sie blätterte um und legte ihr Kinn in die offene Hand. Sie bewegte sich ein wenig auf dem steifen Stuhl, auf dem sie saß (er kann nicht sehr bequem gewesen sein), und schlug ein Bein über das andere, was sie im Beisein anderer niemals getan hätte. Wieder überkam mich dieses Gefühl, daß ich hier eine Fremde beobachtete, eine Frau, die mit mir nichts zu tun hatte.

Sie streckte die Arme über dem Kopf.

Ich ging zur Haustür und trat ins Zimmer.

Sie sprang auf und stieß dabei gegen den Tisch, so daß eine Untertasse zu Boden fiel. »Nicholas!« rief sie.

»Was tust du hier?« fragte ich, meine Arme ausbreitend.

Sie stellte sich hinter den Stuhl. »Es gehört mir«, sagte sie.

»Was soll das heißen, es gehört dir?« Ich trat einen Schritt näher.

Sie legte die Hände auf die Lehne des Stuhls. »Es ist meins«, sagte sie.

»Etna, ich verstehe dich nicht.«

»Dieses Haus gehört mir«, sagte sie.

Dieses Haus gehörte ihr? Das war unmöglich. Ich ging noch einen Schritt auf sie zu. Sie umfaßte die Stuhllehne fester, aber sie wich nicht zurück.

»Was redest du da?« fragte ich.

»Ich habe es gekauft.«

Genausogut hätte sie in einer mir fremden Sprache reden können.

»Wovon?«

Ihre Stirn bekam plötzlich einen, wenn auch schwachen, feuchten Glanz. »Ich habe ein Gemälde geerbt«, sagte sie.

»Es gab also doch ein Gemälde?«

»Ja.«

»Du hast mich belogen.«

»Wie hast du mich gefunden?« fragte sie.

»Ich bin dir gefolgt«, erklärte ich. »Gestern.« Ich warf meinen Hut irgendwohin. »Ich habe nie einen Claude Legny gesehen.«

»Er war im Haus meiner Schwester auf dem Speicher«, sagte Etna. »Sie hat mir das Bild letztes Jahr auf meine Bitte hin mitgebracht.«

»Letztes Jahr? Wie lang hast du dieses Haus schon?«

»Seit Januar.«

Ich versuchte zu denken. Seit elf Monaten! »Und seitdem kommst du regelmäßig hierher?«

Sie antwortete nicht, aber das war auch nicht nötig. Die häusliche Atmosphäre und der gepflegte kleine Garten neben dem Häuschen waren Antwort genug. Sie war im Winter hierhergekommen, als das Haus mitten im Schnee lag, und im Frühjahr, um neben dem Haus Phlox anzupflanzen. Sie war den ganzen Sommer über hier gewesen und im Frühherbst, während ich unter dem feurigen Laubdach der Wheelock Street zum College marschiert war. Wußten die Kinder von dem Haus? Hatten sie es schon einmal besucht?

Ich ging tiefer in das Zimmer hinein, das vielleicht sechs Meter lang und neun Meter breit war, und dabei fielen mir Dinge auf, die ich am Tag zuvor nicht gesehen hatte: eine Schneiderbüste; ein mit Büchern gefülltes Regal unter einem Fenster; ein Chinagrassessel. Unter dem Leuchter lag ein kleiner Perserteppich. Ein Bereich bei der Küche hatte einen Linoleumboden. Auf dem Bord über dem Spülbecken stand ein Glas mit Zucker.

Ich sah zur Zimmerdecke hinauf. »Den Leuchter gibt es also doch«, sagte ich. »Da hast du mich auch belogen. An dem Tag, als die Rechnung kam.«

Etna umfaßte die Stuhllehne noch fester.

»Du bist meine Frau.«

»Ich bin dir eine gute Frau«, sagte sie.

»Eine gute Frau mit einem Geheimnis.«

Sie bückte sich, um die Scherben der zerbrochenen Untertasse aufzuheben. »Durch das dir nicht geschadet wurde«, sagte sie.

»Nicht geschadet?« wiederholte ich ungläubig. »Nicht geschadet

Mit den Porzellanscherben in der Hand richtete sie sich auf.

»Was tust du hier?« fragte ich mit einer Geste, die den ganzen Raum umfaßte.

»Ich …« Sie blickte sich um. »Ich lese. Ich nähe. Ich schreibe.«

»Weiß jemand davon?«

»Nein.«

»Empfängst du hier jemanden? Einen Liebhaber?«

»Nein«, sagte sie wieder, schockiert, wie es schien, über die Unterstellung. »Natürlich nicht.«

Ich drückte eine Hand auf die Stirn, als könnte mir das beim Denken helfen. »Wie soll ich noch irgend etwas glauben, was du sagst?«

Aber ich glaubte ihr. Ich war überzeugt – und bin es noch heute –, daß sie mir die Wahrheit sagte. Und die Tatsache, daß die Wahrheit ans Licht gekommen war, wirkte auf sie so befreiend und erleichternd wie ein plötzlicher Tränenausbruch.

»Du hast mich«, sagte Etna leise. »Du hast die Kinder. Ich habe dir ein Zuhause gegeben. Ich bin dir treu gewesen. Ich habe meine Pflicht getan.«

»Und bist kalt geblieben«, sagte ich.

»Das ist wahr. Und ich habe dir gesagt, wie leid mir das tut. Aber das hat mit dem hier nichts zu tun.«

Ich trat zu dem Apothekerschrank und berührte den weißen Kuchenkasten. Etna holte hastig Luft.

»Wenn du mich beim Frühstück um Geld gebeten hast, dann hierfür?« fragte ich.

»Ich hatte Geld aus dem Verkauf des Bildes.« Sie legte die Scherben der Untertasse auf das Abtropfbrett neben dem Spülbecken. »Es war mehr wert, als ich für möglich gehalten hatte.«

»Das ist Wahnsinn«, sagte ich.

»Es ist mein Preis«, sagte sie ruhig.

»Dein was?« Ich wollte meinen Ohren nicht trauen.

Sie hob den Kopf. »Mein Preis«, sagte sie.

»Wofür? Ich kenne keine andere Ehefrau, die einen Preis verlangt.«

»Kann sein, daß sie das nicht tun«, sagte sie.

Ich schüttelte den Kopf. »Ist die Ehe mit Nicholas Van Tassel eine solche Qual, daß du einen Preis dafür verlangen mußt?« fragte ich. »Ist sie so entsetzlich, daß du ein Versteck brauchst.«

»Ich verstecke mich nicht«, entgegnete sie.

»Warum hast du dann deinem Mann nichts von diesem Haus gesagt?«

»Weil es dann nicht mehr meins gewesen wäre«, antwortete sie.

»Ich verstehe deine Logik nicht, Etna.«

Ich verstand sie wirklich nicht. Bei einem Mann hätte ich es vielleicht verstanden, wenn er sich eine Zweitwohnung gehalten hätte. Eine Wohnung für seine Mätresse vielleicht. Man mochte so etwas nicht verzeihen, aber man konnte es immerhin begreifen. Aber bei einer Frau! Unvorstellbar!

»Es geht hier nicht um Logik, Nicholas.«

»Du hattest vor mir einen Liebhaber!« rief ich heftig, nicht länger fähig, diesen Vorwurf für mich zu behalten.

In der Stille konnte ich über uns Gänse schreien hören. Das Brummen eines Autos auf der Straße. Etnas Blick glitt von mir weg. Sie tat einen tiefen Atemzug, in dem vielleicht ein schwaches Schaudern lag.

»Wer war es?« fragte ich und wappnete mich innerlich.

Sie lehnte sich an das Spülbecken. »Das ist doch unwichtig«, sagte sie.

»Ich verlange es zu wissen«, sagte ich mit der ganzen vermeintlichen Autorität des Ehemanns.

Sie wandte sich ab und sah zu dem kleinen Fenster über dem Spülbecken hinaus. »Und ich werde es dir nicht sagen«, gab sie zurück.

Wieder schweifte mein Blick durch das Zimmer, glitt über die nun bekannten Dinge: den Kuchenkasten aus Blech, den gotischen Fensterrahmen, den Leuchter. Ich breitete weit die Arme aus. »Warum?« fragte ich.

Sie drehte sich wieder zu mir herum. »Das ist etwas Eigenes, Nicholas. Etwas Separates. Es hat nichts mit dir zu tun.«

»In einer Ehe kann es keine Trennung geben«, protestierte ich.

»Wenn du klug wärst«, sagte sie, »würdest du mit diesen Fragen aufhören.«

»Wir hatten eine Abmachung«, sagte ich.

»Ja. Und ich habe mich daran gehalten.«

Ich ließ mich schwer auf den Stuhl fallen, auf dem zuvor Etna gesessen hatte. Sie trat vom Spülbecken weg. »Hast du jetzt einen Liebhaber?« fragte ich.

»Nein.«

»Wozu sonst sollte eine Frau ein Haus brauchen, von dem ihr Mann nichts weiß?« fragte ich. »Alle werden so denken.«

»Kein Mensch wird irgend etwas denken, wenn niemand etwas erfährt.«

Ich stützte meine Arme auf den wackeligen Tisch. »Du erwartest von mir, daß ich deinen Betrug mitmache?«

Sie schien einen Moment zu überlegen. »Nein«, sagte sie schließlich. »Das tue ich nicht.«

Ich zeigte zum Herrenhaus hinüber und fragte: »Wer wohnt da?«

»Die Frau, die mir das Häuschen verkauft hat.«

»Ach, das ist nicht ihr Grund?«

»Die beiden Grundstücke sind durch die Auffahrt voneinander getrennt.«

Ich stand auf und trat ans Fenster. Von dort aus konnte ich sehen, was im Regen des Vortags nicht erkennbar gewesen war: Das kleine Haus war durch einen niedrigen Zaun abgegrenzt. »Wie hast du das hier gefunden?«

»Durch eine Annonce in der Zeitung.«

Ich ging zu einem Kleiderschrank aus Eiche neben der Haustür und öffnete ihn. Drinnen waren Kleider, ein Kittel und ein Gartenhut. Beim Anblick der Kleider und des Huts geriet ich außer mir. Ich fegte mit dem Arm quer durch den Schrank und riß die Kleider von den Bügeln. Ich schlug um mich wie ein Wilder. Dann stürmte ich zum Fenster und riß einen Vorhang herunter.

»Nicholas!« rief Etna.

Ich stieß einen Emaileimer mit getrockneten Hortensien um, daß die Blumen über den Boden rutschten. Ich zerrte ein kleines Bild vom Haken. Etna wich vor mir zurück, als ich ihr nahe kam.

»Nicholas! Hör auf!« schrie sie.

Hätte ich meine Frau geschlagen? Nein, ich glaube nicht. Ich wollte nur dieses Zimmer zerstören. Ich riß einen Küchenschrank auf, packte einen Teller und schleuderte ihn an die Wand. Etna stieß einen Schrei aus, und ich drehte mich zu ihr. In ihrem Gesicht stand ein Ausdruck solchen Entsetzens, daß ich schlagartig zur Besinnung kam. Ich stolperte durch das Zimmer zum Sofa und ließ mich darauf niederfallen, erstaunt, daß es mein Gewicht aushielt.

Ich stützte den Kopf in die Hände.

Ich war mit einem Haus betrogen worden.

»Ich bekomme den Posten nicht«, sagte ich.

»Unsinn«, entgegnete Etna.

»Es wurde mir bereits mitgeteilt.«

»Wann?«

»Heute morgen. Von Edward Ferald.«

»Nicholas.« Sie kam auf mich zu.

»Nicht!« sagte ich, abwehrend eine Hand hebend. Ich wollte ihr Mitgefühl nicht. Ihre Kälte konnte ich gerade noch ertragen. Aber ihr Mitleid? Nie wieder, schwor ich mir. Nie wieder.

Etna blieb stehen und verschränkte die Arme über der Brust. »Es tut mir so leid.«

»Sag mir, daß dein Liebhaber nicht Phillip Asher war.«

»Nein, er war es nicht.«

»Aber du kennst ihn von früher?«

»Nur ganz oberflächlich. Das habe ich dir doch gesagt.«

Ich beugte mich vor. »Dann war es sein Bruder. Samuel. Er war dein Liebhaber.«

Etna schloß einen Moment die Augen. Als sie sie wieder öffnete, sah ich, daß sie weinte.

»Wußtest du, daß Phillip Asher nach Thrupp kommen würde?« fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte keine Ahnung, bis ich auf dem Empfang seinen Namen hörte.«

»Auf Feralds Empfang.«

»Ja.«

»Deshalb ist dir das Champagnerglas aus der Hand gefallen.«

»Ja«, sagte sie.

»Deshalb hast du dich so zurückgezogen. Nicht aus Kummer um William; aus Kummer um einen anderen.«

»Das ist ein unerhörter Vorwurf«, sagte sie.

»Du hast mich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen geheiratet«, sagte ich.

Etna zog eine Nadel aus ihrem Haar. Sie tat das manchmal in Augenblicken seelischer Not. »Das ist nicht wahr«, widersprach sie. »Du hast mich nie nach meinem früheren Leben gefragt.«

»Es versteht sich von selbst, daß man so etwas vor der Eheschließung klärt«, sagte ich, abgelenkt vom Anblick ihres nußbraunen Haars, das aus dem gelösten Knoten über ihre Schultern herabfiel.

»Hast du vor mir keine Geliebten gehabt?« Sie schüttelte ihr Haar aus.

»Sei nicht albern, Etna. Darum geht es doch wahrhaftig nicht.«

»Doch, genau darum geht es«, entgegnete sie. »Du hast deine Freiheit gehabt.«

»Ich will überhaupt keine Freiheit«, schrie ich, durchaus der Wahrheit gemäß. »Seit dem Tag, an dem ich dir begegnet bin, nicht mehr.«

»Aber ich will meine Freiheit.«

In panischer Unschlüssigkeit stand ich auf. »Wohin führt die?« fragte ich, auf eine schmale Stiege weisend.

»In eine Mansarde«, antwortete sie, als ich mich schon an ihr vorbeidrängte. »Aber dort oben ist nichts.«

Die Treppe war so steil, daß ich mich mit den Händen abstützen mußte. Oben angekommen, schaute ich mich um: eine Mansarde mit schrägen Wänden, in der ich nur direkt unter dem First aufrecht stehen konnte. Die Fenster an beiden Seiten hatten Vorhänge, sonst aber war der Raum karg eingerichtet: eine weiße Bettstatt mit Matratze, ein Nähmaschinenschrank und, am Fußende des Eisenbetts, eine Zedernholztruhe. Ich öffnete sie und sah eine gefaltete Steppdecke. Ich kannte sie, sie hatte einmal auf unserem Ehebett gelegen.

Ich sank auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen.

Nach einiger Zeit stieg ich die Treppe wieder hinunter. Etna stand immer noch beim Spülbecken.

»Ich nehme an, du weißt, daß Phillip Asher Jude ist«, sagte ich.

Sie starrte mich an. »Ja, natürlich«, sagte sie nach einem kurzen Schweigen.

»Du hast dir einen Juden zum Liebhaber genommen?«

Ihr Mund öffnete und schloß sich. »Das ist unter deinem Niveau, Nicholas«, sagte sie.

»Ich bin erstaunt, Etna. Ich hätte nicht geglaubt, daß du zu so etwas fähig bist.«

Jetzt war sie zornig. »Wie kommst du dazu zu glauben, ich könnte nicht mit Herz und Verstand einen Juden akzeptieren?« rief sie. »Und ihn lieben?«

»Das Herz mag lieben, der Verstand tut es nicht«, entgegnete ich hilflos. »Das Herz hat keinen Verstand, und der Verstand hat kein Herz. Es sind zwei verschiedene Organe, die häufig miteinander im Streit liegen.«

»Du bist ja verrückt«, sagte sie. »Deinem Verstand fehlt ganz offensichtlich etwas.«

»Meinem Herzen fehlt etwas, und ich meine das in einem ganz anderen Sinn. Du wußtest, daß Phillip Asher Jude ist, und hast nichts gesagt, obwohl es für meine Kandidatur von Vorteil gewesen wäre?« fragte ich.

»Hör auf!« schrie sie. »Du bist ein Narr, Nicholas.«

»Das ist ein Grund zur Scheidung«, sagte ich.

Es wurde totenstill im Zimmer.

»Du würdest dich nie von mir scheiden lassen«, sagte Etna.

»O doch«, sagte ich.

(Aber warum sagte ich so etwas? Ich wollte keine Scheidung. Ganz im Gegenteil, es war das letzte, was ich wollte.)

»Du bist unbesonnen«, sagte Etna, und ich sah, daß ihre Hände zitterten.

»Du bist unbesonnen gewesen.«

Sie wich einen Schritt zurück und sank in den Chinagrassessel, als ihre Beine ihr den Dienst versagten.

»Du kommst seit elf Monaten heimlich hierher«, sagte ich. »Das war unbesonnen. Du hast deinen Mann belogen. Das war unbesonnen.«

Etna schüttelte den Kopf.

»Eine Scheidung ist etwas sehr Unerfreuliches«, sagte ich und bückte mich, um meinen Hut vom Boden aufzuheben.

Etna gab einen Laut von sich, ich weiß nicht, ob es ein Protest war, denn ich hatte schon die Tür geöffnet und eilte durch die Kälte die Auffahrt hinunter. Wie ein Blinder sich den Weg zu einem Haus sucht, das er am liebsten nicht betreten würde, kehrte ich zum Auto zurück. Ich öffnete die Tür und setzte mich in den Wagen. Ich packte das Lenkrad und hätte es aus seiner Verankerung gerissen, wenn ich die Kraft dazu besessen hätte. Ich warf mich in das Lederpolster zurück, und im selben Moment fiel mir eine Stelle aus Das verlorene Paradies ein, das in seiner Richtigkeit der reine Hohn war.

»… wohlan, wenn hier das Elend enden wollte,

ich hab’s verdient, und würde

das Verdiente tragen.«

(Buch X, II. 725–727; die Worte spricht Adam; voll Verzweiflung über die verlorene herrliche Welt; in dem Wissen, daß seine Nachfahren ihn verfluchen werden; nur von dem Wunsch zu sterben beseelt. Einer der besseren Verse Miltons, meiner Meinung nach.)

Alles, was er wollte: Roman
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