DER ZUG HIELT EINMAL KURZ, und ich ergriff die Gelegenheit, auszusteigen und mir die Füße zu vertreten.

Ich stand auf dem Bahnsteig und beobachtete, wie Sonne und Dampf eine Art leuchtenden Nebels unter der gewölbten Decke schufen. Eine große Uhr, skurrilerweise einer Taschenuhr nachgebildet, glänzte durch diesen Nebel. Männer und Frauen (ich erinnere mich im besonderen einer dunkelhaarigen Frau in einem kurzen Tuchmantel, die vor sich hin starrte und eine Zigarette rauchte) verschwammen zu Schemen in dem seltsamen Licht. Die ungewöhnliche Wolke erzeugte eine zugleich überirdische wie prosaische Szene: der Bahnsteig, so häßlich von Abfällen und Ölflecken; das Licht, so schön, daß ich wünschte, ich besäße einen Photoapparat. Nicht bereit, diese flüchtige Oase (wo es bis auf das Zischen der Dampflokomotive eigenartig still war) zu verlassen, mußte ich schließlich, als der Zug anrollte, laufen, um noch mitzukommen, zweifellos ein komischer Anblick für alle, die ihre Plätze bereits eingenommen hatten.

Ich nehme meinen Bericht an einem Morgen, vierzehn Jahre nach meinem Hochzeitstag, wieder auf. Etna und ich sitzen in einem Frühstückszimmer mit Rosentapete und dunklem Mahagoni. Es ist das Jahr 1914, und irgendwo im Haus sind zwei Kinder – glückliche Kinder, das kann man ohne weiteres sagen –, nicht mehr im Bett, sondern schon geräuschvoll auf den Beinen. Die dreizehnjährige Clara, unsere Älteste, ist dabei, sich für den Unterricht an der Thrupp Girls’ Academy anzukleiden, der höheren Schule für Mädchen. Verschiedene Geräusche im Haus verraten Betriebsamkeit: Eine Schublade wird zugestoßen, ein Schuh fällt zu Boden, ein gußeiserner Topf schabt über den Herd. Im Sonnenlicht, das durch die Sprossenfenster einfällt, blitzen, sich vom dunklen Holz abhebend, Staubkörnchen auf.

Kaffeeduft reizt die Sinne.

Das alles ist mir so deutlich im Gedächtnis, als wäre ich eben durch die Tür getreten. Doch wenn ich auf die Jahre vor dieser Erinnerung zurückblicke, ist es, als wären die Tage verweht wie die Seiten eines Buchs, wenn der Wind sie erfaßt und so schnell durchblättert, daß es unmöglich ist, mehr als ein Wort oder eine Wendung zu erhaschen. Was für Worte wurden gesprochen? frage ich mich jetzt, über das leere Blatt meines Hefts gebeugt. Was für Blicke wurden getauscht?

Ich habe eine gefühlsmäßige Erinnerung daran, wie meine Ehe war – mehr Erahntes als Ausgesprochenes –, aber an präzise Fakten kann ich mich nicht erinnern. Gelegentlich tauchen aus dem Zusammenhang gelöste Szenen auf, im Äther der verlorenen Zeit schwebend. Ich sehe Nicodemus als Säugling an Etnas Brust, die Augen so runzlig wie die eines alten Mannes, das Haar verklebt von Blut und Fruchtwasser. Ich erinnere mich an ein entzückendes Kleidchen meiner Tochter Clara, es hatte einen steifen roten Samtrock, der wie Papier raschelte, wenn sie sich bewegte. Ich erinnere mich an den Tag, an dem Nicky seine ersten Schritte machte: Wild fuchtelnd watschelte er los, kippte vornüber und fiel mir in die Arme. Und die größeren Zusammenhänge unseres gemeinsamen Lebens stehen mir natürlich klar vor Augen (ich will nicht den Eindruck eines halb dementen alten Narren erwecken); aber aus der Perspektive des Vierundsechzigjährigen verschmelzen eben die vielen Einzelheiten zu einem Leben, das zu gleichen Teilen aus täglichem Glück und nächtlichem Kummer bestand.

Das tägliche Glück ist leicht erklärt.

Nach der Rückkehr aus den Flitterwochen richtete Etna sich in Vorbereitung auf die Mutterschaft häuslich ein, und die Geburt unseres ersten Kindes ließ auch nicht lange auf sich warten. Es zeigte sich allerdings mit der Zeit, daß ich längst nicht so zeugungsfreudig war wie mein Vater. Wir bekamen nur zwei Kinder, acht Jahre auseinander; Etna hatte zu ihrem großen Kummer zwei Fehlgeburten.

Sie war, wie ich vorausgesehen hatte, eine wundervolle Mutter, und so hatten wir viel Freude an unseren beiden Kindern. Etna war eine glänzende Lehrerin und spielte mit einer Hingabe mit ihnen, wie man sie längst nicht bei allen Müttern antrifft (ich jedenfalls hatte bei meinen Müttern nichts dergleichen erlebt). Es konnte vorkommen, daß ich sie mit untergeschlagenen Röcken auf dem Boden hockend im Kinderzimmer vorfand, wo sie Nicky zu seinem Entzücken mit einem kleinen Marionettenspiel unterhielt. Oder ich sah sie und Clara im Garten, wo sie beide, rank und schlank in ihren Frühlingskleidern, wie die Schuljungen herumtobten. Etna besaß eine kräftige Konstitution und liebte es, sich im Freien aufzuhalten, und das machte sie natürlich zur idealen Spielgefährtin für die Kinder.

Ich war froh darüber (und störte mich nicht im geringsten an ihrem diesbezüglichen Mangel an Weiblichkeit), da ich selbst, wie der Leser nicht überrascht sein wird zu hören, für Sport und Spiel wenig übrig hatte. Etna bestand darauf, daß sowohl Nicky als auch Clara das Tennis- und das Krocketspiel erlernten, und wir ließen zu diesem Zweck diverse Rasenplätze mit und ohne Netz auf unserem Grundstück anlegen. Etna sah immer reizend aus im Tennisdreß, sie war eine strenge, aber gleichzeitig ermutigende Lehrerin. Mit der Zeit verstand ich, daß diese Spiele mit Clara und Nicodemus für meine Frau eine Möglichkeit waren, eine innere Ruhelosigkeit auszugleichen, die sich flüchtig schon in ihrem Gesicht gespiegelt hatte, als sie noch im Haus ihres Onkels lebte; die ich, könnte man sagen, schamlos ausgenutzt hatte.

Manchmal steigerte sich diese Ruhelosigkeit zu etwas noch Drängenderem; dann trieb es Etna fort. Urlaubsreisen waren ihr daher eine Wonne. Jedes Jahr fuhren wir mit Clara und Nicodemus zur Sommerfrische in ein kleines Fischerdorf an der Küste New Hampshires. Wir pflegten dort für etwa einen Monat ein Häuschen zu mieten, oder wir wohnten in einem Hotel mit dem Namen The Highland. In meiner Erinnerung an diese Sommerferien haben wir ständig Sand in den Schuhen, und die Kinder haben einen leichten Sonnenbrand. Etna trägt ihren leinenen Staubmantel, und das schwarze Band ihres Strohhuts flattert im Ostwind. Sie steht im Sand und blickt aufs Meer hinaus, oder sie wandert den Strand entlang. Oder sie watet in ihrem wollenen Badekostüm im Wasser, das Haar unter der turbanartigen Badekappe, die langen Beine und Arme verlockend weiß und bloß.

Sooft ich konnte, ging ich mit ihr ans Wasser hinunter oder schloß mich ihren Wanderungen an, denn auch ich war froh, »entkommen« zu sein. Thrupp, die Erfahrung hatte ich längst gemacht, konnte allzu beengend sein. Ich war als Dozent am College geblieben und hatte den Hitchcock-Lehrstuhl für Englische Literatur übernommen, als vier Jahre zuvor Noah Fitch zum Dekan des College berufen worden war. (Das Wort Rhetorik war sehr zu meinem Bedauern und vor meiner Zeit auf dem Hitchcock-Lehrstuhl aus dem Titel gestrichen worden. Es gefalle den Studenten nicht, hieß es. Ich fand solche Anbiederei natürlich unerträglich, aber Fitch hatte mit Erfolg dagegengehalten, man könne das Fach ja weiterhin unterrichten, im stillen sozusagen, aber wenn die Immatrikulationszahlen nicht stiegen, werde es bald nicht mehr viel zu unterrichten geben. Jeder Fachrichtung wurde aufgetragen, ihre Curricula zu »verbessern« und attraktiver zu gestalten. Prinzipienlos, sagte ich.) Der Posten war wie für mich geschaffen, ich war ein guter Verwalter und führte einige Neuerungen in der Fakultät ein, zum Beispiel strengere Voraussetzungen zum Erwerb eines akademischen Grads in Englischer Literatur sowie den Kellogg-Preis für hervorragende Aufsätze.

Wenn wir im September vom Meer nach Hause kamen, pflegte sich Etna wieder ganz der Erziehung unserer Kinder zu widmen. Solange sie noch nicht zur Schule gingen, brachte sie selbst ihnen die Grundlagen des Rechnens und des Lesens bei; später half sie ihnen nachmittags bei den Hausaufgaben und der Vorbereitung auf den Unterricht.

Seit einigen Jahren leistete sie außerdem wohltätige Arbeit in einem sozialen Wohnheim in einem Nachbarort. Das Baker-Haus in der Norfolk Street in Worthington war eine Einrichtung, die Armen und Kranken Obdach bot. Wir hatten Mary, unsere Köchin, und Abigail, das Mädchen, und da unser Haus längst perfekt ausgestattet war (Etna hatte bei mir eine Einrichtungswut entfacht, die ich mir nie zugetraut hätte), konnte Etna es sich leisten, dem Heim mehrere Stunden in der Woche ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Sie hatte im Jahr zuvor sogar eigens dafür das Autofahren gelernt. Ich hatte ihr ein Cadillac Landaulet-Coupé gekauft, eines der ersten Autos mit einem elektrischen Starter, so daß eine Frau es bequem fahren konnte. Es war ein netter kleiner Wagen, ein kastenförmiges grünes Gefährt mit einer goldenen Zierleiste.

Etna war eine von nur vier Frauen in Thrupp, die Auto fahren konnten, und ich muß sagen, sie sah ausgesprochen schneidig aus, wie sie da mit ihrem kleidsamen Autohut hinter dem Steuer saß. Manchmal sah ich sie am Collegekarree vorbeisausen, wenn ich es gerade auf dem Weg zu einem meiner Seminare überquerte. Ihr Schal flatterte im Wind, eine Staubwolke folgte ihr, und ich dachte dann zufrieden: Das ist meine Frau. Das ist die Frau von Nicholas Van Tassel.

So also sahen die Tage unseres Ehelebens aus. Aber hinter dieser Geschichte von Glück und Zufriedenheit verbirgt sich eine andere – die eines allnächtlichen Kampfes, den ich nicht gewinnen konnte.

Ich versuche, es zu verstehen. Hätte ich vielleicht irgend etwas anders machen können? Wurde ich dafür bestraft, daß ich mir mehr genommen hatte, als mir zustand? Ich kann es nicht sagen. Ich kenne keine Art der Beziehung, die so schwierig und komplex ist wie eine Ehe. Die Auseinandersetzung selbst noch mit dem leidigsten Studenten oder dem abstrusesten Aufsatz ist nichts im Vergleich zu der Herausforderung, mit den unsicheren Arrangements umzugehen, auf die wir uns in einer Ehe einlassen.

Das heißt: Obwohl Etna eine wunderbare Mutter war und wir unser Glück in unseren Kindern fanden, wurde die Beziehung zwischen uns, so herzlich sie bei Tag auch war, mit dem Herannahen des Abends unweigerlich gespannt: Schweigen verdrängte das Gespräch, die Blicke verrieten, daß man auf der Hut war, Ablenkung wurde gesucht und gern angenommen. Wir hatten die Gewohnheit, die Abende gemeinsam im Wohnzimmer zu verbringen, es war wie eine Strafe, die zu mildern keiner von uns beiden willens oder fähig war. Ich pflegte mich in Vorbereitung auf ein Seminar oder eine Vorlesung mit einer Lektüre zu beschäftigen, während Etna über irgendeiner Handarbeit saß, und es war so ruhig, so still, daß ich über die Breite des Orientteppichs hinweg meine Frau schlucken hören konnte. Wenn sie sich gefangen fühlte, so auch ich – in doppelter Weise –, nicht nur von meinem Sehnen nach ihr, das niemals nachzulassen schien, sondern auch von der Spannung, die zwischen uns pulsierte, während ich Dreiser las und Etna Zierdeckchen stickte.

Es wird den Leser nicht überraschen zu hören, daß der Quell dieses quälenden Unbehagens zwischen Etna und mir das Ehebett war, ein Ungeheuer aus Mahagoni, das wir praktisch schweigend auf unserer Hochzeitsreise erworben hatten. Es kam zwar selten vor, daß Etna mich direkt zurückwies, aber das Zusammensein mit mir bereitete ihr keinerlei Genuß. Abend für Abend umarmte ich im gemeinsamen Bett eine Frau, der ich am Morgen zugesehen hatte, wie sie unseren Sohn aus seinem Bettchen hob oder unserer Tochter das Haar flocht, die Frau, die mir erst Stunden zuvor ein Hemd gereicht, das sie gerade ausgebessert hatte, oder freundlich zerstreut von ihrem Buch aufgeblickt hatte, um eine Frage unserer Köchin zu beantworten, und Abend für Abend mußte ich wieder entdecken, daß mir im Grunde genommen der Zugang zu ihrem Körper ebenso versagt blieb wie der zu ihrer Seele. Etna tat in diesem mit Blatt- und Blumenschnitzereien versehenen Bett gehorsam, was die Pflicht von ihr verlangte, aber sie konnte mich nicht lieben. Die Zeit, die ich als meine Verbündete angesehen hatte (mit ein bißchen Geduld würde eine Frau doch gewiß die Freuden der körperlichen Liebe für sich entdecken?, die Alchimie der Zeit würde doch gewiß Achtung in Liebe verwandeln und Pflichtgefühl in Leidenschaft?), bewirkte nichts, vielmehr kroch sie in den qualvollen Stunden vor dem Zubettgehen viel zu träge dahin. Die Folge war, daß ich gelernt hatte, mich zurückzuhalten, so daß eine unnötige Kälte hereingebrochen war, doppelt grimmig, weil ich jeden Abend der ersten Nacht gedenken mußte und der schrecklichen Gewißheit, daß Etna keine Jungfrau mehr war, als sie mich geheiratet hatte. So wurde die Eifersucht stets von neuem entfacht und geschürt, war Nacht für Nacht meine Gefährtin, zuverlässiger als die Liebe und beständiger als mein Ehegelübde.

Ich verwünschte mich dafür, daß ich in unserer Hochzeitsnacht geschwiegen hatte. Später, als der Moment für eine Aussprache verstrichen war, fand ich nie einen geeigneten Anlaß, um dieses heikle und gefährliche Thema zur Sprache zu bringen. Und als dann die Wochen vergingen und wir uns langsam im ehelichen Alltag einlebten, wurde die Vorstellung, ein derartiges Gespräch zu führen, immer abschreckender, bis es schließlich unmöglich wurde, auch nur daran zu denken, Etna diesbezüglich Fragen zu stellen.

(Ist der Moment einmal verstrichen, so ist er unwiederbringlich dahin.)

Eines Abends, mehrere Monate nach der Rückkehr von unserer Hochzeitsreise, stand ich spontan auf, eilte durch das Zimmer und kniete vor meiner Frau nieder. Etna stocherte schon seit einiger Zeit mit ihrer Nadel in einem Knoten herum und versuchte, die verhedderten Fäden zu entwirren, und vielleicht mußte ich dabei an den sich immer fester zuziehenden Knoten unserer Ehe denken. Jedenfalls sprang ich impulsiv auf, eilte durch das Zimmer, ergriff ihre Hand und rief heftig, daß ich sie aus tiefstem Herzen liebe und einzig ihr Glück wolle.

Erstaunt, vielleicht sogar beunruhigt, sah sie mich an. »Nicholas«, sagte sie. (Über Jahre hielt sich bei meiner Frau ein feiner Widerwille, mich beim Vornamen zu nennen. Es war, als hätte sie »Professor Van Tassel« sagen wollen, sich aber gerade noch rechtzeitig gefangen.) Sie hielt noch die Nadel in der Hand; der Stickrahmen war ihr auf den Schoß hinuntergefallen. Ihr schönen Augen waren rot vor Überanstrengung (ich muß ihr eine bessere Lampe besorgen, dachte ich bei mir), und bevor ich mich besann, rief ich: »Wie kalt du bist!« Ihre Hand lag unerwartet kühl in der meinen, und ich mußte unwillkürlich an den Abend nach dem Hotelbrand denken, als ich Etna zum Haus ihres Onkels gebracht hatte und sie mir die Hand gegeben und ähnlich überrascht gesagt hatte: Wie kalt Sie sind! Es war, als hätte ich in den Monaten seit unserer Hochzeit dem Körper meiner Frau die Wärme entzogen.

Nur noch einmal sprach ich Etna von Liebe. An einem Spätnachmittag, als wir an einem der oberen Fenster standen und zu unseren Kindern hinunterschauten, die im Garten spielten. Es war ein Augenblick, wie nur Eltern ihn teilen können – erfüllt von Stolz, der sich mit reinstem Glück mischt –, und es schien an jenem Tag, als gälte Etnas lächelnder Blick nicht nur Clara und Nicodemus, sondern schlösse auch mich ein. Ich empfand dieses spontane Lächeln als so ermutigend, daß ich ungezügelt mit den Worten herausplatzte: »Liebe mich, Etna. Bitte, liebe mich.«

Es war, das weiß ich heute, ein Heulen in der Wüste, und ich erkannte sofort, daß ich sie erschreckt hatte. Sie drehte sich langsam um und ging vom Fenster weg, nicht abweisend oder ärgerlich, sondern beinahe widerstrebend, als hätte sie, wenn es in ihrer Macht gestanden hätte, bereitwillig Liebe heraufbeschworen.

(Und was gibt es über unsere sexuellen Beziehungen zu sagen? Ich war erfahren, wenn auch nicht unbedingt ein Meister, in den etwas extravaganteren Praktiken der Liebeskunst, ein Interesse, das, wie sich gezeigt hat, ein Leben lang angehalten hat. Es wäre mir natürlich nicht eingefallen, diese geheimen Künste im Ehebett auszuüben oder Etnas Reinheit mit meinen ausschweifenden Erfahrungen zu beflecken, aber im Gegensatz zu vielen anderen Ehemännern kannte ich den weiblichen Körper und wußte, wie ihm Genuß bereitet werden kann. Dies zu tun, bemühte ich mich in den ersten Monaten unserer Ehe. Etna wies mich zwar nicht zurück, aber sie reagierte auch nicht; und wenn das fehlgeschlagene Bemühen, eine Frau zu entzünden, das sexuelle Begehren des Mannes auch nicht ersticken kann, so führte es doch in meinem Fall zur Einstellung aller besonderen Anstrengungen, und unser Liebesleben wurde fortan mehr von der Gewohnheit diktiert als von Originalität.

Aber genug davon. Lieber Gott, genug!)

Etna und ich saßen also eines Morgens im Oktober im Schimmer sonnenglitzernder Staubkörnchen im Frühstückszimmer wie jeden Tag. Mochten wir nachts Fremde sein, im Licht des Morgens waren wir wieder Mann und Frau, in liebenswürdigem Miteinander mit den Forderungen des Alltags beschäftigt. Beim Frühstück, das aus Toast, Eiern, Aufschnitt und so weiter bestand, planten wir gemeinsam, und ganz entspannt, den kommenden Tag. Etna hatte neben ihrem Teller Feder und Tintenfaß, und während wir uns unterhielten, füllte sie die Seiten des Heftchens, das vor ihr lag, mit Notizen, was es an diesem Tag zu erledigen gab.

Ich liebte es, ihr bei dieser Tätigkeit zuzusehen. Sie hatte mit zunehmendem Alter an Ausstrahlung gewonnen und war jetzt, mit vierzig, schöner als damals mit fünfundzwanzig, als ich sie kennenlernte. Ich bin überzeugt davon, daß es bei jeder Frau ein bestimmtes Alter gibt, in dem ihre Schönheit in höchster Blüte steht. Bei den meisten ist das der Fall, wenn sie noch junge Mädchen sind, vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. Diese vollkommenen Geschöpfe mögen wunderschön und voller Verheißung sein (aber wie oft bleibt diese später unerfüllt!), doch, um es etwas salopp zu sagen, das Berühren ist verboten, ihre Schönheit kann daher nicht in vollem Umfang gewürdigt werden. Ich habe natürlich keine Ahnung, wie Etna mit fünfzehn aussah (leider gibt es keine Photographien von ihr aus dieser Zeit), aber ich denke, ich kann mit Sicherheit sagen, daß sie nie schöner war als mit vierzig.

»Gehst du heute abend mit mir zu dem Empfang?« fragte ich meine Frau, die gerade eine Scheibe Toast mit Butter bestrich.

Es handelte sich um eine Veranstaltung, auf der dem versammelten Lehrpersonal des College die Männer vorgestellt werden sollten, die bei der von strengen Anforderungen diktierten Suche nach einem Nachfolger für Noah Fitch in die engere Wahl gekommen waren. Fitch war vier Jahre zuvor auf den Posten des Collegepräsidenten berufen worden und hatte ihn bis zu seinem Tod vor einigen Monaten innegehabt. Ich hatte kein Hehl aus meinen Ambitionen gemacht und war im engeren Kreis der Kandidaten verblieben. (Entgegen aller Wahrscheinlichkeit hätte auch der glücklose Moxon das beinahe geschafft; er war allgemein beliebt und hatte mit seiner Populärbiographie über Lord Byron beträchtlichen Erfolg gehabt.) Meine beiden Rivalen waren Arthur Hallock, der Mann, der das Studienfach Leibeserziehung in Thrupp eingeführt hatte, und Fisher Talcott Ames, ein Historiker vom Bates College. Den ganzen Herbst hindurch hatte der Verwaltungsrat des College immer neue Kandidaten aufmarschieren lassen – Atwater Hall aus Princeton und William Merriam Hatch aus Dartmouth sind zwei, an die ich mich erinnere –, aber wenn es auch etwas beunruhigend gewesen war, die Rivalen durch die Gänge von Thrupp wandeln zu sehen, war ich doch von einem guten Ausgang der Sache für mich ziemlich überzeugt gewesen.

Der Empfang sollte im Haus Edward Feralds stattfinden, der dank seines großen Vermögens rasch in den Verwaltungsrat aufgestiegen war. Thrupp hatte ihn mit offenen Armen aufgenommen: ein ehemaliger Schüler und zugleich ein Mäzen, das war eine praktisch unschlagbare Kombination (Ferald, wurde gemunkelt, besaß ein Vermögen von mehr als zwei Millionen). Auch Ferald hatte bei der bevorstehenden Wahl eine Stimme (die er wohl nicht für mich abgeben würde; er hatte die schlechte Note, dank deren er im Scott-Seminar durchgefallen war, bestimmt nicht vergessen), aber es war nur eine von sieben, und mindestens drei dieser Stimmen glaubte ich ziemlich sicher in der Tasche zu haben.

»Ich freue mich darauf.« Etna krempelte die Ärmel ihrer praktischen weißen Bluse auf.

An der Kleidung meiner Frau beim Frühstück konnte ich stets erkennen, was sie an diesem Tag vorhatte; und da sie einen Gabardinerock und Stiefel trug, und zwar nicht ihre besten, vermutete ich, daß sie einen Teil des Tages in dem sozialen Wohnheim zubringen würde. Sie erledigte dort die Verwaltungsarbeiten, und ihre Fähigkeiten im Büro wurden sehr geschätzt. In dem Wohnheim wurden nur bedürftige Frauen, Mädchen und Kinder aufgenommen, was ich beruhigend fand. Ich hätte es gar nicht gern gesehen, wenn meine Frau mit der Sorte Männern zu tun gehabt hätte, die auf solche mildtätige Hilfe angewiesen sind. Es war schlimm genug, daß Etna dort mit den Greueln konfrontiert wurde, denen Mädchen und Frauen ohne inneren moralischen Halt ausgesetzt waren; darüber tröstete mich nur der Gedanke, daß sie sich zweifellos die größte Mühe geben würde, dafür zu sorgen, daß unserer Tochter Clara niemals ähnliches widerfahren würde.

»Ist es ein Dinnerempfang?« fragte sie.

In der Küche läutete das Telephon, und ich hoffte, der Anruf wäre nicht für mich. Ich wurde beim Frühstück mit Etna nicht gern gestört.

»Ich glaube, ja«, antwortete ich.

»Dann gebe ich Mary frei, wenn sie das Essen für die Kinder gemacht hat. Wir werden ja heute abend nicht zu Hause sein, und zum Mittagessen kommt auch keiner nach Hause.«

»Richtig«, sagte ich, abgelenkt von der Schlagzeile des Tages: Wilson fordert die Bevölkerung auf, für den Frieden zu beten.

»Aber sie könnte natürlich die Einkäufe erledigen«, sagte Etna mehr zu sich selbst als zu mir.

»Bei dem Empfang sollen die noch verbliebenen Kandidaten für den Präsidentenposten vorgestellt werden«, bemerkte ich.

Meine Frau sah von ihrer Liste auf. »Du solltest diesen Posten bekommen.«

»Ich denke, ich habe gute Aussichten«, sagte ich. »Wenn nicht dem Verwaltungsrat durch die Satzung die Hände gebunden wären, hätte ich den Posten vielleicht schon.« Ich gab mich gleichmütig, aber hinter der Fassade der Gelassenheit verbarg sich Ärger darüber, daß das College gezwungen war, auch Kandidaten von außerhalb in Betracht zu ziehen.

»Wann ist die Abstimmung?«

»Am 5. Dezember.«

»Warum erst so spät?«

»Das Datum ist durch die Satzung vorgeschrieben. Es müssen auf den Tag genau vier Monate seit Beginn der Suche vergangen sein.«

»Vielleicht wäre das heute ein günstiger Tag, den Maler kommen zu lassen, damit er das Vestibül fertig streichen kann«, sagte Etna, das Ende ihres Federhalters ans Kinn drückend. »Er könnte ungestört bis zum Abend durcharbeiten.«

»Ja«, stimmte ich zu, »das wäre vielleicht nicht dumm.«

Dann sagte sie leiser: »Ich brauche noch etwas Geld, Nicholas.«

Ich hob den Kopf. »Für …?«

»Benzin für den Wagen«, sagte sie. »Und für ein paar andere Dinge. Persönlicher Natur.«

»Ja, natürlich«, sagte ich hastig. Keinesfalls wollte ich fragen, was für Dinge das waren.

»Und Clara hat Husten«, fügte sie hinzu.

»Clara hat keinen Husten«, entgegnete ich und senkte den Blick zu den Briefen, die Mary soeben neben meinen Teller gelegt hatte.

»Du hast sie heute morgen doch selbst gehört«, versetzte Etna.

»Wenn du mich fragst«, sagte ich, während ich den ersten Umschlag von dem Stapel öffnete, »kann unsere Tochter hervorragend Theater spielen, wenn es ihr in den Kram paßt.«

»Unsere Tochter lügt nicht.«

»Ich liebe sie von Herzen, Etna, aber ich weiß zufällig, daß Clara heute nachmittag eine besonders gefürchtete Arbeit in Geometrie schreibt und daß sie vor keinem Trick zurückschrecken würde, um sich davor zu drücken. Sag nicht, daß du ihr erlaubt hast, zu Hause zu bleiben.«

»Na ja …«, sagte Etna kleinlaut.

»Du bist viel zu weich«, sagte ich nachsichtig. Ich stand auf und ging zur Treppe. »Clara, komm bitte herunter«, rief ich nach oben, während ich eine Rechnung las, die ich in der Hand hielt. »Das kann unmöglich stimmen«, sagte ich.

»Was denn?« fragte Etna.

»Es ist eine Rechnung für einen Leuchter«, sagte ich, mich ihr zuwendend. »Weißeisen, sechs Leuchtkerzen. Von March in Hanover. Haben wir einen Leuchter bestellt?«

»Laß mich mal sehen«, sagte Etna. Dann fügte sie in einem Ton hinzu, aus dem ich Verärgerung zu hören glaubte: »Den habe ich doch zurückgehen lassen. Ich verstehe nicht, wieso sie uns eine Rechnung schicken.«

»Dann hatten wir also einen Leuchter bestellt?«

»Ich hatte ihn bestellt, ja«, antwortete sie. »Ich dachte ihn mir hübsch für drüben an der Seitentür. Aber er war viel zu groß. Da habe ich ihn zurückgeschickt.«

»Ich rufe den Mann an und erinnere ihn daran.«

»Nein, laß mich das machen«, sagte Etna. »Du hast genug zu tun. Das ist eine Haushaltsangelegenheit. Ich kümmere mich darum.«

Ich kann nicht sagen, ob wir noch weiter über die Sache sprachen. In diesem Moment nämlich kam Clara, immer lebhaft, selbst wenn sie die Kranke spielte, die Treppe herunter und trat ins Zimmer. Sie war ein Jahr und zwei Tage nach unserer Hochzeit zur Welt gekommen und entwickelte sich zu einem schönen jungen Mädchen. Eine Zeitlang hatte ich geglaubt, sie würde ein dünnes, zartes Pflänzchen werden, da sie kaum an Gewicht zunahm; aber in letzter Zeit war sie kräftiger geworden. Sie war groß wie Etna, hatte die blauen Augen und blonden Haare meiner niederländischen Vorfahren geerbt (ich selbst habe allerdings braunes Haar), und ihre Haut war wunderschön und zart. Ich mußte ein Lächeln unterdrücken, als sie hereinkam; sie hatte die Strickjacke, die sie über ihrer Schuluniform trug, falsch geknöpft.

»Clara, bist du krank?« fragte ich. »Ich warne dich, sag die Wahrheit!«

Schon öffnete Clara den Mund, um zu antworten, doch da veranlaßte sie ein Ton in meiner Stimme, oder vielleicht auch etwas in meinem Blick, innezuhalten. Sie war mit einer Leidensmiene ins Zimmer getreten, die ihr Wohlbefinden nur unvollkommen tarnte. Jetzt schien sie eher verwirrt als von Krankheit geplagt.

»Liebes Kind«, sagte ich in weicherem Ton, »meinst du nicht, du solltest dich heute, wo ihr diese wichtige Geometriearbeit schreibt, überwinden und zur Schule gehen?«

Sie überlegte und sah ihre Mutter an.

»Ich bin derselben Meinung wie dein Vater, Clara«, sagte Etna. »Vielleicht fühlst du dich jetzt schon wieder besser.«

Clara hüstelte einmal schwach, aber sie hatte erkannt, daß das Spiel verloren war. Und deshalb bestand jetzt auch kein Grund mehr, Appetitlosigkeit vorzutäuschen. Sie warf einen sehnsüchtigen Blick auf die üppigen Speisen auf der Kredenz. »Gibt es heute Konfitüre zum Brot?« fragte sie.

Ich machte mich zu Fuß auf den Weg zum College, wie jeden Morgen bei freundlichem Wetter. Häufig nahm ich den Marsch selbst bei rauher Witterung auf mich; es war ja die einzige Form körperlicher Bewegung, zu der ich mich aufzuraffen pflegte. Wie ich, glaube ich, erwähnt habe, treibe ich im Gegensatz zu vielen meiner Kollegen keinen Sport. Ich hielt weder etwas vom Reiten noch vom Bowlingspiel oder Baseball. Dennoch war mein Schritt flott, beflügelt von der Stimmung des Herbsttags und den leuchtenden Farben des Laubs – goldenes Ocker und Tulpenrot mit Tönen von Grasgrün durchsetzt. Der Boden, die Luft und das Wasser Neuenglands brachten dieses herrliche Farbenspiel hervor, und es war, auch wenn man es alle Jahre wieder erwartete, stets von neuem eine Überraschung (und diese Überraschung eine weitere Überraschung, da ich doch seit mehr als zwanzig Jahren in Neuengland lebte). Man vergaß während des weißen Winters und des feuchtheißen Sommers, was für eine Farbenpracht die Natur entfalten kann. Ja, man wollte der Farbenvielfalt und dem Blau darüber kaum trauen, und mir ging der Gedanke durch den Kopf, wie selten die Natur in der Literatur zutreffend beschrieben wird. (Bei Wordsworth vielleicht am ehesten, aber eigentlich hatte mehr die Idee der Natur als die Natur selbst den Dichter so stark beschäftigt.) Unwillkürlich kamen mir Gedanken an Gott (der Herbst in Neuengland gehört entschieden zu seinen gelungeneren Schöpfungen), zu dem ich sonst ein ziemlich laues Verhältnis hatte – wenn ich ihm auch oft genug für die beiden großen Wunder in meinem Leben dankte, meine Kinder und meine nun schon vierzehn Jahre andauernde Ehe mit Etna.

Mein Weg führte mich an diesem Morgen an zwei Bauernhöfen vorbei, die nichts Pittoreskes hatten, und dann durch den Außenbezirk des Orts, dessen bescheidene Häuser (die Wohnungen von Collegeangestellten, kleinen Geschäftsleuten und so weiter) eher unansehnlich waren, zum Ende der Wheelock Street. Sie öffnete sich unter einem flammenden Blätterdach zu einem feurigen Tunnel, den zu durchschreiten man sich wünschte.

Ich mußte an meine Herbstspaziergänge mit Clara denken, die noch gar nicht so lange zurücklagen, und sah sie vor mir, wie sie in die Hände klatschte und den Mund zu einem »Oh« des Staunens aufriß. Sie war mir immer vorausgerannt, um die schönsten Farben aufzusammeln – Scharlachrot, Mandarinorange, Buttergelb –, und wenn wir nach Hause kamen, knisterten in unseren Taschen Bündel dürrer Blätter. (Wie habe ich diese Spaziergänge geliebt, wie liebe ich heute die Erinnerung daran!)

Ich schritt etwas gesitteter, als Clara das getan hätte, die Wheelock Street hinauf. Seit 1899 hatte sich vieles in der Welt verändert, aber nicht diese Straße. Vor dem Haus William Bliss’ machte ich halt. Er war bis vor kurzem häufiger Gast in unserem Haus gewesen; unsere Kinder nannten ihn Papa, wie man einen geliebten Großvater nennen würde. Doch vor kurzem war traurigerweise eine Krebserkrankung bei ihm diagnostiziert worden, und nun mußte der arme Mann, wie ich wußte, seine Tage ans Bett gefesselt in einem der Zimmer im oberen Stockwerk verbringen. Etna und er waren einander im Lauf der Jahre sehr nahegekommen, und sie besuchte ihn mehrmals in der Woche. Ich glaube, sie sah einen Vater in ihm, und er hatte sich gern in diese Rolle gefügt. Auch ich besuchte ihn des öfteren und dachte eben jetzt daran, nach ihm zu sehen, doch nach kurzem Überlegen beschloß ich, meinen Weg fortzusetzen. Mich an einem so strahlenden Morgen in das dunkle Reich des Todes begeben, das wollte ich nicht. Und wie einem das bei egoistischen Entscheidungen leicht ergeht, verfolgten mich, während ich meinen Weg zum College fortsetzte, die Gedanken an ebendas, woran ich gerade nicht denken wollte: den Tod, Bliss’ Tod und meinen, der eines früheren oder späteren Tages vor der Tür stehen würde. Dieser Lauf der Gedanken führte prompt zu einer Überlegung, die einem momentan den Atem rauben kann: Was würde ich hinterlassen, wenn ich vor Ende des Semesters sterben müßte (wie das Bliss’ Schicksal war)? Wodurch hätte Nicholas Van Tassel sich in seinem Leben ausgezeichnet?

Nachdenklich blieb ich stehen und lenkte meine Gedanken zu dem ehrgeizigen Nicholas Van Tassel, der vor so vielen Jahren nach Thrupp gekommen war. Andere Universitätslehrer hatten besser geschrieben als ich, mehr publiziert, mehr Anerkennung und Lob eingeheimst. Sie hatten schneller Karriere gemacht und einen steileren Aufstieg geschafft. Meine Karriere war nicht ganz unbedeutend – ich hatte Hunderte von Studenten unterrichtet und vielleicht sogar ein oder zwei von ihnen inspiriert; und ich hatte mich als fähiger Administrator gezeigt (die erfolgreiche Leitung einer mittlerweile den allgemeinen Standards entsprechenden englischen Abteilung spricht am beredtesten für meine Berufung auf den Posten des Collegevorstands) –, aber diese kleinen Erfolge summierten sich nicht zu Größe.

Nein, dachte ich, als ich da auf dem Collegekarree stand, wenn ich in meinem Leben einer Art von Größe nahegekommen war, dann durch die Liebe zu der Frau, die ich geheiratet hatte. Ich wußte, daß wenige Männer meiner Bekanntschaft mir darin zugestimmt hätten, daß man Größe erlangen kann, indem man einen anderen Menschen liebt. Das sei zu simpel, zu gewöhnlich, zu hausbacken, hätten sie zweifellos gesagt. Tatsächlich hatte ich selten einen Mann von Liebe sprechen hören; nach allgemeinem Verständnis war das ein Diskurs, der ausschließlich Frauen und Dichtern vorbehalten war. Aber ich wußte, wie ich da so stand, daß meine Liebe zu Etna etwas Außergewöhnliches in mir berührt hatte. Sie war das einzige, das mich in allen meinen Teilen erfaßt hatte: meine Sinne, meinen Verstand und mein Gefühl.

Ich setzte mich erneut in Bewegung, ging ein Stück weiter und blieb unvermittelt wieder stehen, als ein anderer, beunruhigender Gedanke von mir Besitz ergriff. Müßte nicht eine solche außerordentliche Liebe erwidert werden, wollte man wahre Größe erlangen? Etna hatte mir nie von Liebe gesprochen, und nach den zwei früheren (peinigenden) Episoden scheute ich mich, sie zu drängen. Sie mochte mich mehr als zu Beginn unserer Ehe – dessen war ich mir ganz sicher –, aber liebte sie mich? Es schmerzt mich – selbst heute noch, nach so langen Jahren, nach allem, was geschehen ist –, hier sagen zu müssen, daß sie mich nicht liebte. Nicht so wie ich sie. Das war ja unsere Vereinbarung gewesen: Sie hatte eingewilligt, meine Frau zu werden, um dafür Mutter und Herrin ihres eigenen Hauses sein zu können und, in jüngerer Zeit, in einem Auto herumfahren und mit ihm regelmäßig einen Ort aufsuchen zu können, wo sie bei wohltätiger Arbeit eine gewisse Erfüllung fand.

Während ich die Studenten beobachtete, die das Grün kreuzten – diese herbstlich frische geometrische Fläche –, erfüllte mich eine Zeitlang eine Trauer, die zu dem herrlichen Tag nicht paßte. Dann aber rief ich mir ins Gedächtnis, daß ich ja Etna Bliss hatte, und sie war meine Frau. Waren angesichts dieser Wahrheit nicht all diese Fragen belanglos? Ich schüttelte den Anflug von Melancholie ab und begab mich ins Gebäude.

Ich hörte die Stimmen schon, bevor ich um die Ecke bog. Feralds selbstgefällig lässige Töne waren so unverwechselbar wie Moxons fragend hochgeschraubte Stimme (die Stimme der Aufrichtigkeit selbst), nur die dritte Stimme, mit einem englischen Akzent, der sich im Lauf der Jahre vielleicht verwischt hatte, kannte ich nicht. Ich dachte daran, unbemerkt in einen Seminarraum zu verschwinden, da jedes Zusammentreffen mit Ferald mir zuwider war, aber es war schon zu spät. Ja, hätte ich mich nicht an die Wand gedrückt, so hätte es vielleicht sogar einen Zusammenstoß gegeben.

»Van Tassel«, sagte Ferald, und selbst in dieser kurzen Begrüßung schwang ein ganzes Bündel an Untertönen – Herablassung, feine Belustigung und natürlich Geringschätzung. »Ich möchte Sie mit Phillip Asher bekannt machen, Professor an der Universität Yale.«

Asher war einen Kopf größer als ich und schlanker. Er trug einen grauen Kammgarnanzug, dessen Farbe zu seinen Augen paßte (vielleicht war es aber auch umgekehrt, und die Augen hatten sich dem Farbton des Stoffs angepaßt). Das leichte Lächeln, mit dem er mich ansah, enthielt im Gegensatz zu dem Feralds keine Spur von Bosheit oder Häme. Er trug das helle Haar ziemlich lang, aus der jungen Stirn glatt nach hinten gebürstet. Er war eine angenehme Erscheinung – man könnte vielleicht sogar sagen, eine gutaussehende –, ein Mann, der Anständigkeit und Intelligenz ausstrahlte. Ich glaubte gern, daß er aus Yale kam.

»Was führt Sie nach Thrupp?« erkundigte ich mich.

»Professor Asher wird die Kitchner-Vorlesungen halten«, antwortete Ferald für ihn.

»Gratuliere«, sagte ich.

Die Kitchner-Vorlesungen waren eine Vortrags- und Diskussionsreihe, die rund um den ewigen Konflikt zwischen Allgemeinwohl und dem Streben nach persönlichem Gewinn aufgebaut war. Für die Studenten der höheren Semester der philosophischen, historischen und englischen Abteilungen war der Besuch Pflicht, zur Teilnahme eingeladen waren aber auch Studenten und Dozenten aller anderen Fakultäten. Die Vorlesungen wurden stets von einem hervorragenden Geisteswissenschaftler gehalten und trugen dadurch dem College ein gewisses Prestige ein. Wie zu erwarten, entzündeten sich an ihnen häufig heftige Debatten, die auf das gesamte College übergriffen.

»Asher ist ein vielseitiger Mann«, sagte Ferald. »Er ist nicht nur Professor der Philosophie, sondern auch Milton-Spezialist, Ökonom und Dichter.«

»Wahrhaftig«, sagte ich.

»Ich glaube, ich kenne Ihre Arbeit«, sagte Asher. »Ihr Spezialgebiet ist Scott, nicht wahr?«

Ich fühlte mich geschmeichelt, daß Asher von meiner Arbeit wußte. Ich konnte jedoch – zu meiner Bekümmerung – Ashers Namen beim besten Willen nicht mit irgendwelchen kritischen Arbeiten in Verbindung bringen.

Zum Glück kam mir Moxon zu Hilfe. »Ashers besonderes Interesse gilt Nietzsche«, bemerkte er.

Ich überlegte einen Moment. »Ich fürchte, wir sind Gott doch nicht los«, sagte ich, frei zitierend, »denn wir glauben immer noch an die Grammatik.«

Ferald lachte tatsächlich. »Van Tassel, Ihre Belesenheit ist beeindruckend.«

Ferald war im Lauf der Jahre nur noch unerträglicher geworden. Was sich bei dem Neunzehnjährigen in Ansätzen gezeigt hatte, war heute, bei dem Vierunddreißigjährigen, voll entwickelt. Er prunkte jetzt mit einer Eleganz, die nur noch durch seine Arroganz übertroffen wurde. Seine Kleidung, die er aus England kommen ließ, war vom Feinsten, was es damals gab. Er hatte sich eine schleppende Sprechweise und einen ironischen Ton angewöhnt, durch den, so fand ich jedenfalls, sein Mund bereits verformt war; in Ruhe schien er zu einem höhnischen Lächeln verzogen. Ich verabscheute den Mann – seinen Reichtum, den er im Angesicht so viel kultivierter akademischer Bescheidenheit so protzig zur Schau trug; seine unverdiente Autorität (obwohl ein kluger Kopf, war er ein schlechter Student gewesen – ja, er war auch noch stolz auf diese Tatsache); seine freche Einmischung in Collegeangelegenheiten (er machte sich für die Einrichtung einer medizinischen Fakultät stark, während ich mich einem solchen Unterfangen, das die knappen finanziellen Mittel des College nahezu erschöpfen würde, mit aller Entschiedenheit widersetzte). Das Schlimmste aber war mir dieser Blick mit halbgeschlossenen Lidern, mit dem er mich auch jetzt, während wir da im Korridor standen, fixierte.

»Und Sie werden zwischen Yale und Thrupp hin und her reisen?« fragte ich Asher.

»Ich habe gerade ein Ferienjahr«, antwortete Asher. »Ich bin im Hotel Thrupp abgestiegen.«

Moxon konnte keinen Moment ruhig stehen vor Nervosität. Er zauste sich das Haar, schob die Hände in die Taschen und zog sie gleich wieder heraus, wischte unsichtbare Stäubchen vom Revers seines Jacketts. Selbst Ferald schien es eilig zu haben, sich wieder auf den Weg zu machen. Nur Asher war gelassen.

»Professor Asher«, sagte Ferald, seinen Gast leicht anstupsend, »wir sollten Professor Van Tassel nicht länger aufhalten.«

Asher bot mir die Hand. »Es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Herr Kollege.«

»Ganz meinerseits«, gab ich zurück.

Ich muß eine Pause machen, meine Augen schmerzen von der Anstrengung des Schreibens in einem fahrenden Zug. Es ist sehr warm geworden in meinem Abteil, aber es steht immer gekühltes Wasser in Trinkwasserbrunnen zur Verfügung, und auf Bestellung wird einem jederzeit ein Krug Eistee gebracht. So ist es also halbwegs auszuhalten in dieser Hitze Nordkarolinas. (Ich hatte keine Ahnung, daß es im September so schwül sein kann.) Um mir etwas Abkühlung zu verschaffen, bin ich heute morgen zum Aussichts- und Büchereiwagen durchgegangen, der sich ganz am Ende des Zugs befindet; dort setzte ich mich zu einigen Mitreisenden und sah mir die Umgebung an. Das Land blieb hinter mir zurück, während wir mit einem Tempo von fast hundert Stundenkilometern dahinbrausten, und mir kam unwillkürlich der Gedanke, daß der Eindruck ähnlich ist wie beim Niederschreiben einer Erinnerung: Man versucht, schreibend die Gegenwart zu erreichen, indem man sich möglichst an eine Chronologie hält, und bemüht sich, die Vergangenheit zu bannen, die vorüberfliegt und in immer weitere Ferne rückt – um schließlich am Fluchtpunkt zu verschwinden.

Alles, was er wollte: Roman
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