KAPITEL 58
Draußen tobte der Hurrikan.
Drinnen tobten meine Gefühle.
Wir saßen in einem Flur des Charleston Memorial Hospitals und suchten wie so viele andere Zuflucht vor dem Sturm.
Obwohl eigentlich nur eine Notmannschaft Dienst hatte, war das Krankenhaus voller Ärzte, Patienten und Schutzsuchender, die der Orkan hier gefesselt hatte. Ein Krankenhaus wird selten vollständig evakuiert, und das CMH gehörte zu den wenigen Gebäuden in der Innenstadt, das über einen eigenen Stromgenerator verfügte.
Ich zupfte an meinem Verband und wollte immer noch nicht wahrhaben, dass ich eine Schussverletzung erlitten hatte. Natürlich hatte ich es Kit nicht erzählt. Die erschöpften Mediziner auch nicht – ein Versäumnis, auf das ich sie bestimmt nicht hinweisen würde. Coop schlief neben mir. Er war von den Ereignissen des Tages völlig erschöpft.
Shelton und Hi erzählten die Geschichte. Kit hatte sie von mir hören wollen, aber ich schwieg stur, bis das Duo zu reden begann. Kits Augen wurden immer größer, als er der fast vollständigen Version dessen lauschte, was wir in den vergangenen zwei Wochen erlebt hatten.
Kit hatte mir auch schon erklärt, wie er uns gefunden hatte.
Nachdem Kit meinen Zettel entdeckt hatte, war er vor das Haus gelaufen und hatte gesehen, wie die Sewee auf den Atlantik hinausfuhr. Die Väter wollten zuerst mit der Hugo hinter uns herfahren.
Doch schließlich hatte Kit den Boss herausgekehrt und seinen Angestellten die Evakuierung von Morris befohlen. Er selbst war mit seinem Toyota in die Stadt gefahren und hatte sämtliche Register gezogen, damit die Polizisten ihn die Brücke passieren ließen. Als er die Halbinsel erreicht hatte, wusste er zunächst nicht, wo er weitersuchen sollte.
Dann war Katelyn eingetroffen.
Kit befürchtete das Schlimmste und versuchte es im Krankenhaus, wo ihm ein Arzt schwor, er habe eine Gruppe Teenager gesehen, die die Calhoun Street entlanggelaufen seien. Da Kit keinen besseren Plan hatte, fuhr er bis zu den umgestürzten Bäumen und dem rauchenden schwarzen Pick-up.
Dort hatte er die Schüsse gehört. Voller Angst war er zu Fuß weitergelaufen und schließlich am Marion Square gelandet.
Als er mich sah, hatte Kit meinen Namen gerufen.
Aber ich hatte mich nicht umgedreht, sondern war in die andere Richtung davongerannt.
Kit wollte mir hinterher, doch eine fliegende Mülltonne hatte ihn umgehauen. Er ging auf die Knie und musste erst wieder zu sich kommen. Als er wieder stand, war ich verschwunden. Dann hatte er auf dem Platz einen Mann gesehen, der mit einem Gewehr auf Hi zielte. Der Angriff war dann ein reiner Reflex gewesen.
Seitdem hatte Super-Dad mich nicht mehr aus den Augen gelassen.
Ich hörte kaum zu, während Hi und Shelton erzählten. Stattdessen sah ich Ben an.
Er sagte nichts. Wich meinem Blick aus. Schließlich erhob er sich und schlenderte den Gang entlang.
Ich folgte ihm. Coop wollte mitkommen, doch ich scheuchte ihn mit einer Hand zurück. Der Wolfshund war zwar nicht begeistert, aber er legte sich zu Hi und schloss die Augen.
»Lauf nicht wieder weg!«, rief mir Kit hinterher. »Du verlässt dieses Krankenhaus nicht!«
Ich drehte mich um. »Dad, es ist vorbei.«
Kit starrte mich eindringlich an und nickte.
Eine Stunde zuvor hatten wir einen Polizeiwagen gesehen, der losgeschickt worden war, um die Explosion des Pick-ups zu untersuchen. Die Polizisten hatten uns alle ins CMH gefahren. Nachdem sie unsere Geschichte gehört und die Waffen gesehen hatten, wurde der Spielleiter verhaftet. Die Ermittlungen mussten allerdings bis nach dem Sturm warten.
Es würden Fragen folgen. Aussagen. Das ganze Drum und Dran.
Mein persönliches Verhör konnte allerdings nicht warten.
Ich fand Ben auf einem Hocker in einem leeren Behandlungsraum. Er hatte den Kopf in die Hände gelegt.
Und wartete auf mich.
»Ich habe es gesehen.« Er hatte keinen Sinn, ein Blatt vor den Mund zu nehmen.
Ben blickte nicht auf. »In meinen Gedanken?«
»Ja. Du hast den Spielleiter an Bord der Sewee getroffen.«
»Zweimal.« Ben richtete sich auf, sah mir jedoch nicht in die Augen. »Er heißt Simon Rome. Jedenfalls hat er den Namen im LIRI benutzt.«
Ich hatte gedacht, ich wäre darauf vorbereitet gewesen. Aber ich hatte mich geirrt.
»Ben, nein! Warum?« In dem kleinen Raum fühlte ich mich schrecklich beengt.
»Niemand sollte zu Schaden kommen!« Ben holte aus und trat gegen einen Mülleimer. »Es war ja nur ein dummes Spiel!«
Er wandte sich ab. Seine Schultern zitterten. Ich spürte, dass er weinte.
Ich holte tief Luft. »Erzähl doch einfach.«
Ben schniefte und rieb sich die Augen. Dann sah er mich an. Er war völlig am Boden zerstört.
»Na, los«, flüsterte ich und war selbst den Tränen nahe.
Ben ließ sich auf den Hocker fallen und sagte nichts.
Ich setzte mich ihm gegenüber und beugte mich vor. »Erzähl schon«, wiederholte ich noch einmal.
»Ich habe Rome am Anleger vom LIRI kennengelernt«, erzählte Ben. »Er war der neue Aushilfstechniker und arbeitete erst seit einigen Monaten am Institut. Nachdem ich ihn alle paar Tage mal getroffen habe, wurden wir so etwas wie Freunde.«
»Warum hast du ihn nie erwähnt?«
»Keine Ahnung.« Ben strich mit einem Sneaker über den Boden. »Anders als du habe ich nicht viele Freunde. Es ist eben nett, manchmal mit anderen rumzuhängen. Mit jemandem, der älter ist.«
Anders als ich? Was meinte Ben?
»Ich habe ihm … viel erzählt.« Ben wurde rot. »Persönliche Dinge. Danach kam er plötzlich mit seiner großartigen Idee an.«
Obwohl ich zu gern gewusst hätte, welche persönlichen Dinge Ben dem Spielleiter erzählt hatte, wollte ich ihn nicht unterbrechen. »Großartige Idee? Das Spiel?«
»Es sollte nur ein Spaß werden«, sagte Ben verbittert. »Eine Reihe von Rätseln. Und das Beste war, ich hätte dabei klug und cool ausgesehen. Wir wollten uns diese schwierigen Spiele ausdenken und ich könnte dann die Hinweise lösen und als Held dastehen.«
»Aber warum?« Ich verstand es nicht. »Du brauchst uns doch nicht zu beeindrucken. Wir kennen dich. Du bist unser Freund. Unsere Familie.«
Eine Weile lang sagte Ben nichts. Dann: »Ich bin so dumm.«
Ich wollte antworten, aber er ließ mich nicht zu Wort kommen.
»Ich habe Hi dazu animiert, den Metalldetektor zu kaufen. Er glaubte, es sei seine Idee gewesen. Stimmt aber nicht. Dann habe ich zwar über das Geocaching gelästert, aber ich wusste, am Ende würde er mitmachen wollen. Das hat auch geklappt. In null Komma nichts hatte ich euch alle zum Loggerhead-Cache geführt.«
»Der Geheimniskasten. Die kodierte Nachricht.«
»Der Geheimniskasten war leicht. Und die Nachricht würde Shelton entziffern. Doch das Beste habe ich für mich aufgehoben.« Seine Stimme wurde spöttisch. »Seht euch nur den Ben an! Er hat das Rätsel mit den verschobenen Koordinaten gelöst. Er ist einfach großartig. Auf nach Castle Pinckney!«
Er trat gegen einen Schrank. »Ich bin ein Idiot!«
»Der zweite Cache ist explodiert.« Mein Ton wurde schärfer. »Coop wurde sogar verletzt.«
Kläglich schüttelte Ben den Kopf. »Da wusste ich, dass mich der Kerl hinters Licht geführt hatte.«
Ich wartete, bis Ben weitererzählte.
»Das Spiel sollte nicht gefährlich sein. Dann passierte die Sache in Castle Pinckney. Dieses Ungeheuer hat den Cache in Brand gesetzt und in Battery Park eine Bombe hochgehen lassen. Wie du dir vorstellen kannst, war das alles nicht so abgesprochen. Auch das iPad hatte ich noch nie gesehen, genauso wenig die Zeichnung oder die chemische Gleichung. Und Rome drohte plötzlich, Menschen zu verletzen oder zu töten …«
Ich hob die Hände. »Warum hast du nichts gesagt? Oder uns gewarnt?«
»Ich war geschockt. Es war mir peinlich. Sobald wir zu Hause waren, habe ich versucht, die Handynummer anzurufen, die er mir gegeben hatte, aber die funktionierte nicht mehr. Als ich im LIRI angerufen habe, hieß es, er sei im Urlaub. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.«
Ich dachte daran, wie oft Ben in letzter Zeit nicht dabei gewesen war. Und sich eigenartig benommen hatte. Wie sehr er sich erschreckt hatte, als ich in Castle Pinckney in seine Gedanken vorgedrungen war.
Das alles hatte ich mit seinen Launen oder dem Streit mit Jason erklärt. Dass etwas Tiefergehendes dahinterstecken könnte, hatte ich nie vermutet.
»Die Dinge gerieten außer Kontrolle.« Bens Knie wippte auf und ab. »Ich … ich dachte … und hoffte, dass ich es schaffen würde, alles irgendwie zu stoppen. Dass es aufhörte.«
»Die Selbstschussanlage. Kit sagt, das LIRI habe nie eine besessen.«
»Ich war genauso geschockt wie du. Rome hatte mit mir nie über Waffen gesprochen. Als du erzählt hast, was er bei dem Gespräch im Café gesagt hatte, wusste ich nicht, was ich davon halten sollte. Mir war klar, dass Rome die Waffe im LIRI gestohlen haben konnte, denn er hatte dort gearbeitet. Doch dass er von vorne bis hinten komplett gelogen hat, überrascht mich nicht. Jetzt nicht mehr.«
»Der Spielleiter hat einen Mann ermordet, Ben.« Ich zwang ihn, mir in die Augen zu sehen. »Eric Marchant wurde kaltblütig umgebracht. Und zwar nur, um uns zu verwirren.«
» Nein!« Bens Hände zitterten. »Es sollte doch niemand … Es war lediglich ein blödes Spie l!«
Mir fiel etwas ein. »Du warst beim Treffen mit Marchant dabei. Auf dem Schießstand.«
Er schnaubte. »Warum habe ich mich wohl übergeben?«
»Das war nach Castle Pinckney.« Die Erkenntnis fachte meine Wut an. » Nachdem ein Behälter in Coops Maul explodiert ist. Nachdem der Spielleiter den Hochzeitspavillon in die Luft gejagt hat. Nachdem die Selbstschussanlage auf mich gefeuert hatte!«
Ben sah zur Seite.
»Du hast dich über mich lustig gemacht, als ich darüber nachdachte, dass der Spielleiter vielleicht im LIRI arbeiten könnte.« Mein Zorn schwoll an, während sich eine Enthüllung zur anderen gesellte. »Und als ich mir darüber Gedanken gemacht habe, wir könnten eigens für das Spiel ausgesucht worden sein? Du wusstest es und hast mir ins Gesicht gelogen. Uns allen!«
»Ich bin in Panik geraten!« Ben sprang auf und ging in dem kleinen Raum hin und her. »Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Als ich zurück war, habe ich noch einmal versucht, Rome zu erreichen. Ich wollte von ihm verlangen, das Spiel zu beenden. Deshalb habe ich euch vorgeschickt, nachdem wir die Suche in Auftrag gegeben hatten. Aber ich konnte seine Personalakte nicht finden. Sie war verschwunden.«
»Du hättest es uns erzählen sollen.«
»Ihr hättet mich nicht mehr helfen lassen!«, gab Ben aufgewühlt zurück. »Dieser ganze Albtraum war meine Schuld! Ich musste diesen Psycho finden und dem Spuk ein Ende bereiten. Wenn ich euch die Wahrheit gesagt hätte, dann hättet ihr mich ausgeschlossen. Und dann … haben wir die Leiche gefunden und … und …« Er schüttelte den Kopf. »Es war zu spät. Es war Wahnsinn. Da konnte ich nur noch versuchen, das Schlimmste zu verhindern.«
Ich hob die Hand. Mehr Geständnisse konnte ich nicht verkraften.
Wissentlich oder nicht: Ben hatte dem Monster geholfen. Einem Mörder. Er hatte die Wahrheit schon tagelang gewusst und uns nichts gesagt. Er hatte gelogen. Selbst noch, als das Spiel unser Leben bedrohte.
»Sag mir den Grund, Ben. Warum wolltest du uns überhaupt reinlegen?«
Ben blieb stehen. Er sah mir in die Augen. »Weißt du es wirklich nicht?«
Verwirrt schüttelte ich den Kopf.
»Um dich zu beeindrucken, Victoria Brennan.« Seine Stimme wurde brüchig. »Du solltest mich für etwas Besonderes halten.«
Seine Worte hauten mich um.
Oh, Ben.
Er hatte diesen Irrsinn meinetwegen angezettelt?
»Du hast immer so viel Zeit mit Jason verbracht«, sagte Ben leise und starrte auf die Schuhe. »Du warst ständig mit diesem gut aussehenden Kerl unterwegs. Cotillion hier. Spendensammeln da. Ich hasste es. Ich hasste ihn. Als ich es Rome erzählt hatte, riet er mir, dich zu beeindrucken. Ich müsse mir etwas ausdenken, damit du mich wahrnimmst.«
»Ich nehme dich wahr, Ben.« Ich stand auf und ergriff seine Hand. »Ich habe dich immer wahrgenommen. Du gehörst zu meinem Rudel.«
Er zog die Hand weg. »Und wenn es mir nicht genügt, nur zu deinem Rudel zu gehören?«
Ich war sprachlos.
Unbehagliche Stille breitete sich aus.
Dann steckte Kit den Kopf zur Tür herein. »Tory?«
»Ja?«
»Den schlimmsten Teil vom Hurrikan haben wir hinter uns. Die Polizei will jetzt mit uns sprechen.« Kits Blick ging zwischen mir und Ben hin und her. Ich war sicher, er spürte die Anspannung, hörte vielleicht sogar mein Herz klopfen. »Seid ihr bereit?«
War ich bereit? Was sollte ich sagen?
Ich traf eine Entscheidung.
»Ja.« Ich trat zur Tür. »Aber ich habe dem, was wir dir schon erzählt haben, nichts hinzuzufügen.«
Ich spürte, wie sich Ben umdrehte. Wie sein Blick auf meinem Rücken lag.
Ich könnte dich nicht ans Messer liefern. Nicht einmal dafür.
»Okay.« Kit klang misstrauisch. »Trotzdem müssen wir unsere Aussagen machen.«
»Nein, Tory.« Bens Stimme klang müde, aber entschlossen. »Ich muss die Wahrheit sagen. Die ganze Wahrheit.«
Ich fuhr zu ihm herum.
»Das ist doch überhaupt nicht notwendig!« Plötzlich wurde mir angst und bange. »Es würde doch keinen Unterschied ausmachen.«
»Für mich schon.« Ben richtete sich auf und nickte Kit zu. »Wenn Sie vorausgehen, Sir?«
Ben ging hinaus. Und ich kämpfte mit den Tränen.
Good Bye, mein Freund.