KAPITEL 47
»Wir müssen hier raus!«
Meine Hände zitterten. Mein Herz schlug gegen den Brustkorb. Ich sah nur noch das kleine Loch, aus dem in Kürze der Tod kommen würde.
His Wangen waren so rot wie sein purpurfarbener Smoking. »Denkt ihr auch, was ich denke?«
»Wir haben nicht gemogelt!« Shelton war den Tränen nahe. »Wir haben das Spiel ohne Hilfe gewonnen!«
Ben lief in den Korridor und warf sich mit der Schulter gegen das Gitter.
Chance wich überrascht zurück. »Was machst du, Mann?«
»Uns hier rausholen?«, brüllte Ben.
»Es rührt sich keinen Millimeter.« Chance klang erschöpft. »Diese Klemmen müssen aus Kohlefasern sein oder so. Ich kann sie nicht einmal weghämmern.«
»Mach’s trotzdem!«, rief Ben. »Sonst werden wir hier unten sterben, Claybourne!«
Das Hämmern ging weiter, heftiger als vorher.
In dem Apparat drehte sich immer noch einer der tödlichen Behälter und schob sich damit gegen eine schmale Tülle. Auf dem Bildschirm verschwand die letzte Nachricht des Spielleiters.
Plötzlich glitt die zweite Plexiglasscheibe zur Seite.
An ihrer Stelle erschien ein Metallgriff.
»Verflucht!«, sagte Jason.
Ich betrachtete den seltsamen Mechanismus. Er sah aus wie der Griff einer Schaufel. Es gab runde Pfeile darauf, die entweder den Uhrzeigersinn oder die Gegenrichtung angaben.
»Man muss es drehen«, sagte ich und nahm am Rande wahr, dass sich Ben wieder zu uns gesellt hatte.
»Wie ein Ventil?«, fragte Hi. »Aber wozu?«
Ich dachte gerade über diese Frage nach, als ich ein leises Zischen hörte.
»Weg hier!«, schrie ich.
Alle wichen zurück, nur ich nicht. Wir hatten keine andere Wahl.
Ich nahm den Griff und drehte ihn so weit im Uhrzeigersinn, wie ich konnte.
»Du hast es geschafft!« Jason trat gegen die Apparatur. »Das Loch ist dicht!«
»Aber seht euch die Schläuche an!« Shelton zeigte zu den Röhren, die aus der Kiste des Spielleiters führten. Dunkelgrüne Dämpfe wirbelten hindurch und bewegten sich aufwärts zu den Leitungen der Klimaanlage.
Plötzlich wurde mir die kranke Wahrheit klar.
Wir saßen in der Zwickmühle.
»Das Gas strömt aus.« Meine Stimme klang hohl. »Und wir müssen entscheiden, wohin.«
»Wie?«, fragte Shelton heiser.
»Der Griff. Wenn man ihn nach rechts dreht, strömt das Gas in die Rohre zur Klimaanlage und wird in den Ballsaal geleitet. Wenn man nach links dreht, wird es hier unten abgelassen.«
Shelton fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Hier?«
»Der Spielleiter will Blut sehen, so oder so.« Hi begriff die schreckliche Entscheidung, die wir zu treffen hatten. »Aber wir müssen entscheiden, wessen.«
Ben ballte hilflos vor Wut die Fäuste. »Ich bringe ihn um.«
»Also heißt es: Sie oder wir?« Shelton war der Panik nahe. »Wir müssen das entscheiden?«
Jason blickte mich an. »Wir können die Menschen da oben nicht durch Gas sterben lassen. Niemals.«
Ich nickte. »Auf gar keinen Fall.«
Der Spielleiter dachte, er hätte uns in die Ecke gedrängt und uns jeden Ausweg versperrt.
Aber er wusste nicht, wozu wir fähig waren.
Wozu die Virals fähig waren.
Diesmal zögerte ich nicht. Ich nahm die ganze Kraft, die mir geblieben war, zusammen und drehte den Griff gegen den Uhrzeigersinn.
In den Schläuchen wurden die grünen Dämpfe dünner und verschwanden. Das Loch unten in der Kiste ging wieder auf.
»Zurück!« Hi zerrte Shelton, der völlig gelähmt war, nach hinten zur Tür. »Komm, Tory! Ben!«
Ich erstarrte. Dicker grüner Nebel strömte aus der Öffnung und breitete sich auf dem Boden aus. Schwerer als Luft wirbelte er zunächst in die untere Ecke, ehe er in Richtung Tür kroch.
Wir hatten noch Minuten. Höchstens.
Beweg dich!
»In den Korridor!«, brüllte ich.
Die Jungs musste man nicht antreiben. Ich rannte durch die Tür hinter ihnen und zog sie zu, wodurch ich den Klimaanlagenraum absperrte.
»Ich brauche ein Jackett!«, befahl ich.
Hi riss sich sein Samtmonstrum vom Leib und stopfte es in den Spalt. Die provisorische Dichtung würde das Gift nicht lange aufhalten, uns aber vielleicht rettende Sekunden verschaffen.
Ich drückte mich ans Gitter. »Chance, uns läuft die Zeit davon. Bekommst du es auf?«
Chance war schweißnass, sein Anzug war völlig verdreckt. Von seinen Fingern tropfte Blut, trotzdem schwang er ein rostiges Brecheisen.
Kling!
Er sah mich mit Schmerz in den Augen an. »Es tut mir so leid. Diese Klemmen sitzen einfach unglaublich fest. Ich weiß nicht, was ich noch versuchen soll.«
»Sieh dich um! Vielleicht gibt es einen Schlüssel.«
»Es gibt keinen. Ich habe mich schon umgeschaut.«
»Schau im Treppenhaus nach. Da könnte er versteckt sein. Beeil dich!«
Chance nickte und taumelte außer Sicht.
Einen sind wir los.
Ein stechender Geruch breitete sich in der Luft aus. Hi und Shelton fingen an zu husten.
Ich sah, dass Ben mich beobachtete. Er verstand meinen Plan und, angesichts seines Seitenblicks, auch das Problem dabei.
»Hiram, stell das Licht aus«, sagte Ben.
»Wie?« Hi keuchte und schnaufte. »Warum …«
Ben blickte andeutungsvoll auf Jason.
Hi erwiderte: »Aber wie … er wird es trotzdem merken …«
Der Hauch eines Lächelns erschien auf Bens Lippen. »Vertrau mir.«
Hi nickte und flüsterte Shelton etwas ins Ohr.
»Ja!« Shelton sprang zum Schalter.
»Was zum Teufel?« Jason brüllte Shelton an. »Wir brauchen das Licht! Wir müssen …«
Bong!
Bens Ellbogen krachte gegen Jasons Schläfe.
Ich fing Jason auf, als er umkippte.
»Das war dein Plan?«, kreischte Hi. »Ihn bewusstlos zu schlagen?«
»Hat doch funktioniert«, sagte Ben.
»Kann mir mal einer helfen!«, knurrte ich.
Die Jungs nahmen Jason und legten ihn auf den Boden.
Es gab keine unerwünschten Zeugen mehr.
Brennende Kehle. Stechende Augen. Schwindel im Kopf. Schwarze Punkte treiben durch mein Sichtfeld. Ich spähte so weit wie möglich in den Elektroraum. Chance war nirgendwo zu sehen.
»Fertig?«
»Fertig!« Drei Stimmen sprachen wie eine.
Ich packte das Gitter unten mit beiden Händen.
Hi gesellte sich rechts zu mir, Ben und Shelton formierten sich links.
Ich schloss die Augen.
KLICK.
Der Schub brannte wie tausend Sonnen und elektrifizierte meine Sinne.
Meine Nase verstärkte den ätzenden Geruch, der mich beinahe überwältigt hätte. Meine Augen überwanden die Dunkelheit. Meine Ohren hörten das Zischen des Giftgases, das durch His Jackett hindurch unter der Tür hereinströmte.
Ich ignorierte das Bombardement der Sinne und konzentrierte mich auf etwas anderes.
Tief in mir suchte ich nach der Kraft des Wolfes.
Ich führte, das Rudel folgte mir. Leuchtende Linien verbanden unseren Geist und schwelten mit übermenschlicher Macht.
Ich jagte einen einzigen Befehl zu ihnen hinüber.
JETZT.
Mit vereinten Kräften stemmten wir uns gegen das Gitter. Es weigerte sich nachzugeben.
Ich spannte die Muskeln an und sammelte alle Kraft. Die Jungs taten das Gleiche. Das Hindernis bebte, bewegte sich aber nicht.
Der giftige Geruch wurde stärker und ich musste würgen. Ich spürte die Verzweiflung, die sich bei den anderen Virals breitmachte. Da wir verbunden waren, trafen mich ihre Gedanken wie Glassplitter.
… gleich kann ich nicht mehr …
… ich will hier nicht sterben …
Wir können nicht …
Wir haben verloren …
… alles meine Schuld …
NEIN!
Ich schob meine eigene Angst beiseite und suchte nach dem, was darunter lag.
Brodelnder, fauchender, stürmischer, alles verzehrender …
… Zorn.
Ich würde nicht zulassen, dass uns der Spielleiter umbrachte.
Das war noch nicht das Ende.
Neuronen feuerten. Brüllende Hitze stieß in meine Extremitäten vor.
Ich schickte die Energie nach draußen über die lodernde Verbindung zu meinem Rudel.
Die Jungs schrien.
Ich brauchte mehrere Sekunden, bis ich begriff, dass ich ebenfalls schrie.
Pure Kraft brandete in meine Brust. In meine Muskeln. Erfüllte mein ganzes Sein.
Viel zu viel. Ich musste die Kraft freisetzen. Musste die Energie fortlenken.
NOCH MAL!
Wie ein Mann rissen wir am Metall.
Das Gitter wackelte. Hob sich einen Zentimeter. Saß wieder fest.
Nein! ICH WERDE NICHT VERLIEREN!
Ich konzentrierte mich. Lenkte mehr und mehr Energie in die flammenden Linien.
Es gab einen Knall. Meine Arme wurden in die Höhe gerissen.
Metall wurde kreischend verbogen.
Ich öffnete die Augen und starrte schockiert vor mich hin.
Das untere Drittel des Gitters war eingeknickt, die Stahlstangen waren verdreht wie überdehntes Knetgummi. Die Führung war aus der Wand gerissen.
»Los! Los! Los!«, rief ich.
Shelton und Hi krabbelten unter dem Gitter durch, streckten die Arme zurück und zogen Jason nach drüben. Ben und ich schoben. So quetschten wir den Bewusstlosen unter dem Hindernis hindurch. Dann krabbelten Ben und ich in die Freiheit.
Wir sprangen auf und schleppten Jason durch den Elektroraum. Nachdem wir den giftigen Geruch hinter uns gelassen hatten, sanken wir zu Boden und schnappten nach Luft.
Ich sah auf, als Chance vom Treppenhaus zurückkam. Er erstarrte, betrachtete das verbogene Gitter und war geschockt.
Ich schloss die Augen und schickte den anderen eine Nachricht: Schub beenden!
KLACK.
Die Verbindung brach ab. Plötzlich spürte ich keine Kraft mehr in den Gliedern.
»Ich gebe Alarm.« Chance drehte sich um und wollte loslaufen.
»Nein.«
Alle Blicke richteten sich auf mich.
Ich hustete und spuckte aus und räusperte mich. »Die Konsequenzen. Schon vergessen? Wir dürfen es niemandem sagen.«
»Welche Konsequenzen?«, wollte Chance wissen. »Wovon redest du?«
»Der Schweinehund, der für dies verantwortlich ist, hat gedroht, er würde unseren Familien etwas antun, wenn wir etwas verraten.« Meine Stimme krächzte wie ein Reibeisen. »Ich glaube nicht, dass er geblufft hat.«
»Aber wir müssen die Menschen oben warnen!« Shelton zeigte mit dem Finger zum Klimaanlagenraum. »Das Gas könnte aus dem Keller aufsteigen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Brommethan ist schwerer als Luft. Es steigt nicht hoch.«
»Ihr müsst von einem Arzt behandelt werden.« Chance kniete neben seinem früheren Mannschaftskameraden vom Lacrosse. »Jason ist bewusstlos, um Himmels willen! Das Gift könnte ihn umbringen.«
»Das war nicht das Gas.« Ben mied Chance’ Blick. »Er … ist gestolpert. Hat sich heftig gestoßen.«
»Hilf mir auf.« Ich war noch benommen, nachdem der Schub geendet hatte. »Ich habe einen Plan.«
Chance sah mich seltsam an, reichte mir aber die Hand.
Ich taumelte zur Treppe. »Kommt mit.«
Die Jungs wankten hinter mir her nach oben. Chance und Ben schleppten Jason. Auf dem Treppenabsatz neben der Tür zur Eingangshalle entdeckte ich, was ich suchte. Ohne zu zögern, löste ich den Feueralarm aus.
Sirenen schrillten. Blaue Lichter flackerten im Fluchttreppenhaus.
»Jetzt werden alle das Gebäude verlassen«, rief ich. »Und ein angebliches Feuer erklärt auch unser Aussehen. Niemand verliert ein Wort darüber, was dort unten passiert ist.«
»Das ist verrückt!«, jammerte Shelton. »Wir sollten sofort die Polizei rufen!«
»Wir schnappen uns diesen Psycho!« Die Worte gaben mir Kraft. »Der Spielleiter ist noch auf freiem Fuß. Vielleicht hält er uns für tot. Ich wette, im Augenblick beglückwünscht er sich gerade zum Sieg. Beweisen wir ihm, dass er sich die falschen Gegner ausgesucht hat.«
Als ich das alles gesagt hatte, beugte ich mich vor und übergab mich auf den Beton.
Draußen in der Eingangshalle hörte man eilige Schritte, die sich zum Ausgang bewegten. Bald war das Foyer von nervösen Gästen gefüllt, die hinausliefen.
Ich versuchte, mein mitgenommenes Kleid glattzustreichen. Gab es bald auf. Mit ziemlicher Sicherheit würde die Boutique es nicht zurücknehmen. Wir würden es bezahlen müssen. Whitney würde ausflippen. Bei dem Gedanken fühlte ich mich ein bisschen besser.
Die Jungs sahen genauso schlimm aus. Hatten die Jacketts verloren. Sich die Hosen aufgerissen. Die Hemden verschmiert. Alles war schweißnass. Hoffentlich war es draußen dunkel.
»So.« Ich faltete die Hände. »Machen wir diesem Albtraum ein Ende, okay? Vergesst nicht, für meine Eskorte gibt es noch Präsente.«
Hi und Shelton lachten. Ben schnaubte und half Jason auf die Beine.
»Hä?«, fragte Jason benommen.
»Nimm’s leicht, Tiger.« Ben klopfte ihm auf die Schulter. »Du bist gegen einen Pfeiler gelaufen.«
Chance lächelte nicht einmal. Er starrte mich unverwandt an.
Diesen Ausdruck hatte er schon gehabt, als er das verbogene Metall gesehen hatte. Das Gitter, das er mit der Brechstange erfolglos bearbeitet hatte.
Später.
Hi machte die Tür auf. »Ladys first.«
»Danke, Sir.«
Und ich bedankte mich mit einem vollendeten Knicks.
Die Jungs kicherten. Sie ordneten ihre schmutzige Kleidung so gut wie möglich und applaudierten höflich.
»Na, dann los.« Ich zwinkerte. »Auf dem Programm stehen noch Kuchen und Tanz.«
Wir mischten uns unter den Strom der verängstigten Ballgäste und schlichen hinaus in die Nacht.