KAPITEL 11

»Castle Pinckney?« Shelton klang skeptisch. »Das steht doch schon seit Ewigkeiten leer.«

»Die Koordinaten passen genau«, sagte Ben entschieden. »Das kann kein Zufall sein.«

»Aber dort draußen gibt es nichts.« Shelton runzelte die Stirn. »Nur einen Haufen alter Steine.«

»Ein Teil der Gebäude steht noch.« Der Bauch von Hi füllte ein Viertel meines Bildschirms, als er etwas über seinem Schreibtisch suchte. »Ich habe irgendwo ein Buch.«

»Es dürfte ein guter Platz für ein Versteck sein.« Ich startete eine Suche nach Bildern. »Was wissen wir denn über das Castle?«

»Augenblick mal«, rief Hi, der aus seinem Bildschirmviertel verschwunden war. »Ich habe es wohl im Schrank.«

Meine Suche zeigte nicht sehr einladende Ergebnisse.

Castle Pinckney war eindeutig verlassen und die Vernachlässigung ließ sich nicht übersehen. Das verfallene Fort lag auf einer winzigen Insel in der Mitte des Hafens von Charleston und bestand nur noch aus einem Wirrwarr eingestürzter Gemäuer und brusthohen Unkrauts. Einigermaßen gut erhalten war die runde Außenmauer mit den zwei Ausbuchtungen. Innerhalb der Mauern breitete sich wie ein wirrer Bart ein verwilderter Wald aus. Dunkle Ranken krochen über den bröckelnden grauen Stein und hatten die Festung in ihren schattigen Würgegriff genommen.

Obwohl die Insel nur ein paar Hundert Meter von der Halbinsel entfernt war, auf der sich die City befand, hatte man die Festungsruine im Laufe der Zeit vergessen. Hier trieb sich so gut wie nie jemand herum.

Hi war wieder im Bild und blätterte in einem Lexikon. »Zuerst haben die Briten dort Piraten aufgehängt. Im Jahr 1781 hat George Washington den Bau eines Forts angeordnet.« Blättern. »Die Konföderierten haben Castle Pinckney als Kriegsgefangenenlager benutzt. Anschließend wurde es zur Artilleriestellung und schließlich zum Leuchtturm.«

»Jetzt ist der auch stillgelegt.« Shelton machte eine wegwerfende Geste. »Eine Geisterstadt.«

»Ich bin dort schon oft vorbeigefahren«, sagte Ben. »Nichts los da.«

»Das perfekte Versteck.« Hi schnalzte mit der Zunge. »Gut gemacht, Señor Spielleiter.«

»Gut.« Shelton seufzte tief. »Vielleicht sollten wir einen Besuch dort auf unsere To-do-Liste setzen.«

Mein Blick wanderte über die Bilder auf meinem Bildschirm. Castle Pinckney strahlte etwas Düsteres, Unheilverkündendes aus. Einsamkeit.

Ich hing an der Angel.

Ein Blick auf die Uhr – 18:15. Noch reichlich Tageslicht.

»Ich bin in zehn Minuten am Steg«, sagte ich.

»Abgemacht!« Hi drehte seinen Stuhl, legte einen Schuh auf die Tischkante und schnürte sich den Adidas zu.

»Wartet! Was?« Shelton hob beide Hände. »Heute Abend? Warum?«

»Wir haben noch über eine Stunde, bis es dunkel wird.« Ich band mein Haar zum Pferdeschwanz zusammen. »Zeigen wir Mr Spielleiter mal, wie schnell die Virals Rätsel lösen können.«

Ben überlegte kurz und zuckte dann mit den Schultern. »Ich mache die Sewee fertig.«

»Am Entscheidungsfindungsprozess müssen wir noch arbeiten.« Shelton schüttelte den Kopf. »Im Augenblick springen wir alle hinter Tory die Klippe runter.«

»Oh, buhu«, heulte ich spöttisch. »Setz dich in Bewegung.«

»Wir kriegen dich, Clown!« Hi klatschte in die Hände. »Tory, vergiss den Zettel nicht. Wir wissen immer noch nicht, was das Bild zu bedeuten hat.«

»Ich habe es schon.«

Die drei Gesichter verschwanden, als ich meinen Laptop zuklappte.

»Ich geh mit Coop spazieren!«

Kit schob den Kopf aus der Küche. »Jetzt?«

Ich nickte und hoffte, es würden keine weiteren Fragen folgen.

Kit enttäuschte mich nicht. »Okay, aber wenn es dunkel wird, bist du wieder zu Hause. Morgen ist Schule.«

»Versprochen, tschau!«

Coop und ich sausten die Vordertreppe hinunter und liefen auf kürzestem Weg zum Steg. Ich hörte, dass eine andere Haustür aufging. Als ich mich umdrehte, kam Shelton aus seinem Haus.

»Ernsthaft, Brennan.« Shelton hatte sich umgezogen: weiße Nike-Sporthose und ein schwarzes Walking-Dead-Kapuzenshirt. »Also, demnächst bitte keine abendlichen Spontanaktionen mehr, ja?«

»Wie du meinst.«

»Hoffentlich.« Damit ließ er das Thema auf sich beruhen.

Ich nahm Shelton nicht allzu ernst. Obwohl es keiner von den Jungs zugegeben hätte, gefiel es ihnen eigentlich, von mir angeführt zu werden. Meistens. Irgendwer muss ja sagen, wo es langgeht.

Hi und Ben waren schon an Bord. Wir fuhren los, umrundeten Morris Island und erreichten Charleston Harbor.

Es war ein angenehm warmer Abend. Möwen glitten hoch über unseren Köpfen dahin und bewegten sich mit der Sewee, als wir Fort Sumter passierten und weiter Richtung Stadt fuhren.

Kurz vor der Halbinsel tauchte die winzige Insel auf. Das Ufer des niedrigen Felsens bestand aus einem trostlosen Stück Strand. Wo das Gelände etws höher war, stand ein verwittertes Steingebäude. Castle Pinckney.

Oder was davon noch übrig war.

Der unebene Boden war mit Gebäudetrümmern übersät. Ganze Bäume wuchsen aus dem bröckelnden Mörtel der Außenmauer. Alles war mit Pelikankot bedeckt und sah aus, als würde es umfallen, wenn man dagegenpustete.

»Was für eine Ruine«, schnaubte Ben und lenkte das Boot näher ans Ufer.

»Warum ist es eigentlich nie restauriert worden?«, fragte ich. »Sonst steht ihr Südstaatler doch so auf die Erhaltung von Bürgerkriegsdenkmalen.«

»Ich glaube, du meinst den Krieg gegen die Aggressoren aus dem Norden«, gab Hi in bestem Südstaatenslang zurück und zuckte dabei nicht mit der Wimper. »Als die Unionstruppen in unsere heilige Heimat einmarschierten und dem armen Süden die Freiheit nahmen. Vor allem die Leute aus Boston. Du bist doch auch aus Boston.«

Ich verdrehte die Augen. »Ich bin aus Westborough. New England besteht nicht nur aus Boston, auch wenn ihr euch das hier unten so vorstellt.«

»Eine Yankee-Stadt ist wie die andere«, meinte Hi und zwinkerte. »Fabriken und Kohlebergwerke.«

Ich gab kein Kontra mehr. Hi machte nur Spaß. Vor den anderen wollte ich nicht an meine Heimat erinnert werden, denn Erinnerungen an mein altes Zuhause führten unweigerlich zu Erinnerungen an meine Mom, und das führte allzu häufig zu Tränen. Beste Freunde hin oder her, ich hasste es, vor Jungen zu heulen.

»Die Restauration von Pinckney wurde schon x-mal vorgeschlagen, aber es gibt kein Geld dafür.« Shelton sprang in die Brandung und half Ben, die Sewee näher an den Strand zu ziehen. »Sumter und die äußeren Forts wurden immer bevorzugt, obwohl Pinckney älter ist.«

Ein paar Meter vor dem Strand, der mit Seegras bedeckt war, warf Ben den Anker aus. Wir zogen die Sneakers aus und wateten an Land, zogen die Schuhe wieder an und gingen zu einer Wiese vor der Ruine. Als Coop eine Schar Möwen entdeckte, jagte er los. Die Vögel stoben auseinander.

Die Außenmauer des Forts war ungefähr vier Meter hoch und wurde immer wieder von rechteckigen Öffnungen durchbrochen, wo ursprünglich Fenster gesessen hatten. Die runde Festung, die einen Durchmesser von gut dreißig Metern hatte, besaß nur einen einzigen Zugang in der Mitte.

Wir betrachteten das alte Fort. Es starrte uns düster an.

Shelton sagte: »In dieses Kartenhaus setze ich keinen Fuß.«

Ich holte den Hinweis vom Spielleiter aus der Tasche und erhoffte mir Inspiration. Leider hatte ich kein Glück. Die Zeichnung, die einem Grinsen ähnelte, blieb mir ein Rätsel.

»Denkt doch mal nach.« Eine leichte Brise ließ das Papier flattern. »Was übersehen wir?«

Die Mauer ragte hoch vor uns auf, die leeren Fenster im Abstand von jeweils gut vier Metern sahen aus wie eine Reihe schwarzer Zähne. Das Fort schien uns düster anzustarren wie ein Halloweenkürbis.

Nein, kein Starren. Die Fenster sahen aus wie ein grausiges Grinsen.

Und dann fiel der Groschen.

»Natürlich!« Ich winkte mit dem Blatt. »Die Zähne« – ich machte Anführungszeichen in die Luft – »in dem Bild passen zu den Fenstern!«

»Wow, du hast recht!«, sagte Hi. »Also muss der Außenzahn …«

»… das Versteck des Cache sein!«, beendete ich den Satz. »Los!«

Wir gingen im Uhrzeigersinn um die Mauer und zählten die Öffnungen links vom Durchgang. Bei Nummer fünf blieben wir stehen.

»Hier.« Ich blieb vor einer Lücke von einem Meter mal anderthalb Meter stehen. »Das passt zu dem äußeren Rechteck in der Zeichnung.«

Aus dem Fort wehte uns kühle, trockene Luft entgegen. Im schwindenden Licht der Abenddämmerung klaffte das Fenster wie eine schwarze Höhle. Obwohl ich mir Mühe gab, konnte ich nur ein kleines Stück hineinsehen.

»Dieser Teil scheint nicht so stark verfallen zu sein«, stellte Hi fest.

»Das Mauerwerk wird stabiler«, stimmte Shelton zu, »aber es könnte trotzdem gefährlich sein, hineinzukriechen. Die Festung ist so alt, da wächst ja schon ein Wald drauf.«

Ben packte mit beiden Händen die Fensterbank und zog daran. Dann trat er gegen die Mauer. Und zog noch einmal. »Das ist offensichtlich fest.«

»Eins a Statikprüfung, Ben«, witzelte Hi. »Die bringt uns weiter.«

»Hast du eine bessere Idee? Oder sollen wir nach Hause fahren?«

»Ich habe tatsächlich eine Idee.« Hi senkte den Kopf. Kurze Pause, dann bebte sein Körper. Er schnaubte. Hustete. Spuckte.

Als er sich aufrichtete, brannte goldenes Feuer in seinen Augen.

Ich nickte. »Gute Idee.«

Mit geschlossenen Augen versenkte ich mich.

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