KAPITEL 8

» Himitsu-Bako.«

Shelton schwenkte das Papier, das wir im Geocache gefunden hatten.

»Himso Backo?« Hi verzog verwirrt das Gesicht. »Was soll das sein?«

» Himitsu-Bako«, wiederholte Shelton. »Das ist Japanisch und bedeutet so viel wie ›persönlicher Geheimniskasten‹. Genau darum müsste es sich handeln.«

»Es ist also etwas drin.« Ich schnappte mir das Blatt, ein bisschen verlegen, weil ich es vergessen hatte. »Und diese Wörter sind ein Hinweis darauf, wie man es öffnet?«

»Genau.« Shelton erhob sich und ging zum Computer. »Ich habe gegoogelt. Diese Trickschachteln gibt es seit dem neunzehnten Jahrhundert in Japan. Sie stammen aus Hakone und waren als Spiel gedacht. In der Regel enthalten sie einen Glücksbringer.«

»Gute Arbeit, Wikipedia«, witzelte Hi. »Und wie öffnen wir das Ding?«

»Das ist nicht ganz so einfach.« Shelton kam zurück an den Tisch. » Himitsu-Bako lassen sich nur durch eine bestimmte Abfolge von Handgriffen öffnen. Bei manchen muss man an der richtigen Stelle drücken, bei anderen sind verschiedene Bewegungen gleichzeitig erforderlich. Jedes ist einzigartig. Der Trick besteht darin, die Abfolge herauszufinden.«

Ich starrte die grinsenden und tanzenden Clowns an. Sie schienen höhnisch zurückzustarren.

»Sind die immer aus Metall?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete Shelton. »Normalerweise aus Holz. Hier haben wir eine moderne Version.«

»Faszinierend.« Ben lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Und was nun?«

»Ich hätte da ein paar Ideen.« Shelton blickte Ben durch die dicken Brillengläser an. »Es sei denn, jemand anders hat sich etwas überlegt.«

Ben hob beide Arme. »Dein Auftritt, Maestro.«

»Genau.«

Während Shelton den Behälter vor sich stellte, schauten wir anderen ihm schweigend zu.

»Ich fange mit etwas Einfachem an«, sagte Shelton. »Vier Ecken.« Er drückte auf zwei nebeneinanderliegende und auf das Paar gegenüber. Nichts. Er drehte den Behälter und versuchte es erneut. Nix.

Shelton schnaubte. »Oben und unten.«

Er hielt den Behälter zwischen den Handflächen, drückte zu und versuchte, die Flächen gegeneinander zu verschieben. Wieder nichts.

»Seite an Seite.«

Nix.

»Die Oberseite drehen.«

Njet.

»Unten ziehen.«

Keine Wirkung.

Alle Bemühungen waren vergeblich. Der Behälter blieb verschlossen.

Enttäuscht ging Hi zum Computer. »Ich sehe mal nach meinen Mails.«

»Das bringt mich um«, murmelte Ben.

Shelton ignorierte sie. »Nur drei Seiten bewegen sich. Dieses rechteckige Teil – weder oben noch unten – und die beiden kurzen, vertikalen Seiten.«

»Hilft das weiter?« Ich ließ mir meine Ungeduld nicht anmerken. »Vielleicht könnte man das in eine Suche mit einbeziehen.«

»Bin schon dabei«, rief Hi.

Kurz darauf surrte der Drucker. Hi zog die Seite aus dem Fach und reichte sie Shelton.

Shelton überflog die Anweisungen und zuckte mit den Schultern. »Könnte funktionieren.«

Er drehte den Behälter, sodass er ihn längs vor sich hatte, und drückte vorsichtig auf die linke Seite. Das Metall gab ein paar Millimeter nach. Shelton hielt fest und schob mit der anderen Hand die Oberseite nach rechts.

»Drück mal mit dem Finger hierhin.«

Während ich den Deckel hielt, wechselte Shelton die Seiten und presste nun rechts, so wie er es vorher links gemacht hatte. Als das erledigt war, zog er die Oberseite wieder nach links.

Diesmal löste sich der Deckel vollständig.

Der Behälter war offen.

»Ja!« Ich verpasste ihm einen Fauststoß. »Und gute Arbeit, Hi.«

»Über diese Kästchen findet man hier jede Menge.« Hi überflog die Liste von Suchergebnissen. »Mann, wie haben die Menschen bloß früher ohne Internet gelebt?«

»Die mussten noch selbst nachdenken«, antwortete Ben. »Mogeln war nicht so einfach.«

Ich beachtete das Gerede nicht, griff in den Behälter und holte einen dicken cremefarbenen Umschlag heraus. Wie der andere war er mit dem schon bekannten geschwungenen S, tanzenden Clowns und einem Wachssiegel versehen.

»Unser Cachebesitzer hat einen einzigartigen Sinn für Stil«, sagte Hi. »Und scheut keine Kosten.«

Plötzlich kam Coop herein, blieb stehen und knurrte.

»Coop, nein!« Ich versuchte, seine Schnauze zu streicheln, aber er wich zurück, bellte und schnappte nach dem Umschlag.

»Aus!«, sagte ich scharf. Seine Reaktion gefiel mir nicht. »Böser Hund!«

Coop knurrte noch einmal, ging in die Ecke und setzte sich. Er hielt zwar still wie befohlen, starrte den Umschlag jedoch unentwegt an.

»Bestimmt hasst er Clowns«, sagte Shelton.

»Wer könnte ihm das verübeln?«, erwiderte Hi.

»So habe ich ihn noch nie erlebt.« Kopfschüttelnd riss ich das Siegel auf und zog zwei weitere Bögen festes Schreibpapier heraus.

Auf den ersten war ein schwarzer Halbkreis gezeichnet, der aussah wie ein lächelnder Mund mit Zahnlücken. Unter dem tiefsten Punkt des Halbkreises befand sich ein großes schwarzes Quadrat. Zehn Rechtecke waren entlang des Kreisbogens eingezeichnet, fünf auf jeder Seite. Neun Rechtecke waren innen angebracht wie die Zähne eines Unterkiefers in einem Cartoon. Nur das letzte saß auf der Außenseite des Bogens. Wie ein schiefer Zahn.

Unter dem seltsamen Gebilde stand eine lange Reihe Zahlen quer über die Seite.

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»Na, super«, sagte Hi. »Noch so ein aussagekräftiger Hinweis.«

Die zweite Seite war wie ein Brief gestaltet, doch die Wörter ergaben keinen Sinn. Der einzig lesbare Teil war eine kunstvolle Unterschrift am Boden der Seite.

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»Wie bitte?« Shelton zupfte sich am Ohrläppchen. »Wer zum Teufel soll denn der Spielleiter sein?«

»Ein Idiot, der zu viel Zeit hat«, antwortete Ben.

Nachdenklich tippte ich mir an die Lippe. »Der Brief ist Kauderwelsch, aber offensichtlich enthält er Informationen.«

»Das ist ein Code«, sagte Shelton. »Die Nachricht ist wohl verschlüsselt.«

Ich sah mir die beiden Blätter an, überprüfte den Umschlag und durchsuchte den Behälter. Keine weiteren Hinweise. »Wie sollen wir das ohne Schlüssel entziffern?«

»Kein Problem!« Shelton rieb sich theatralisch die Hände. »So schwer ist das auch nicht.«

»Wir sind heute aber ganz schön selbstbewusst, Tiger, was?« Hi lehnte sich im Astronautenstuhl zurück. »Erzähl.«

»Hiermit.« Shelton tippte über eine kurze Reihe Buchstaben über der Unterschrift. Sviaorxshg.

»Sehr nützlich«, meinte Hi. »Klingt wie eine Stellung aus dem Kamasutra.«

»Aber es ist unser Schlüssel«, erwiderte Shelton selbstzufrieden. »Na, dieses Wort steht allein, genau über der Unterschrift, und es folgt nur ein Komma. Ein deutlicher Fingerzeig.«

Zehn Buchstaben, der erste groß, gefolgt von einem Komma.

Na, klar.

Ich stahl Shelton die Schau. »Herzlichst.«

»Das muss es sein, oder?« Shelton tippte sich an die Schläfe. Und wenn wir ein Schlüsselwort haben, können wir das Rätsel in ein Dechiffrierprogramm eingeben.«

»Internet, Mann.« Hi strahlte. »Da lacht einem das Herz.«

»Bist du sicher, das funktioniert?«, fragte Ben.

»Nein«, sagte Shelton, »aber vermutlich handelt es sich um eine einfache Chiffrierung durch Ersetzen von Buchstaben. Als ich noch klein war, hat mein Dad mir oft verschlüsselte Nachrichten dagelassen.«

Mein Mund ging auf und wieder zu. Hi schnaubte. Ben starrte Shelton an.

»Vielleicht solltest du es ein bisschen genauer erklären«, drängte ich.

»Also hier.« Shelton zeigte auf das Schlüsselwort. »Wir wissen alle, wie man ›herzlichst‹ buchstabiert, oder? Der zweite Buchstabe ist ein e.« Er zeigte auf den Brief. »In dem chiffrierten Wort ist es ein v. Das v steht also für ein e, und zwar überall in diesem Brief.«

Okay. Das sah ich auch.

»Eigentlich …« Shelton grinste, »… habe ich das Ding schon geknackt.«

»Blödsinn.« Ben war immer skeptisch. »Beweise?«

»Gerne doch.« Shelton nahm sich ein leeres Blatt Papier und listete das Alphabet auf. »Ich weiß, das E ist der fünfte Buchstabe. Welcher ist das V?«

»Der zweiundzwanzigste.« Meine grauen Zellen erkannten den Zusammenhang. »Fünfter von hinten.«

»Genau. Es ist eine Chiffrierung durch Umkehrung. Bei A und Z ist es ja ganz klar: der erste und der letzte Buchstabe. B wird dann zu Y, C zu X und so weiter bis zur Mitte. Überprüft es. Der letzte Buchstabe im Schlüsselwort ist G. Der ersetzt das T.«

»Gut«, sagte Ben. »Ich bin echt beeindruckt.«

»Ach was, dieses System ist primitiv.« Shelton begann, Buchstaben aufzuschreiben und den Brief zu entschlüsseln. »Eine Sekunde.«

Ich beugte mich vor und schaute zu. Shelton sah mich an.

»Lässt du mich kurz in Ruhe?« Er schob sich die Brille auf der Nase hoch. »Es ist schwieriger, wenn du mir auf die Finger guckst.«

Ich lehnte mich ein wenig gekränkt zurück, wollte aber nicht zum Bremsklotz werden. Also ging ich zu Coop und kraulte ihm den Kopf. Der Wolfshund war immer noch aufgeregt.

»Ist ja gut, Junge. Clowns sind doof, nicht?«

Ich streichelte ihn ein letztes Mal und setzte mich dann zu Hi an den Computer, um mit ihm Angry Birds zu spielen.

Fünf Minuten verstrichen. Und noch fünf.

»Fertig.« Shelton klang angespannt. »Ehrlich, das ist vielleicht ein schräger Brief!«

Aus der Ecke knurrte Cooper wieder.