KAPITEL 56
Die Flammenlinien loderten in meinem Unterbewusstsein.
Sie knisterten intensiver und lebendiger als je zuvor.
Ich übermittelte Hi und Shelton eine Botschaft.
Weg vom Wagen!
Meinem Instinkt folgend, leitete ich Coops Bilder an sie weiter und fügte meine Befürchtungen hinzu.
Die Wucht meiner Nachricht haute sie um. Sie dachten nicht lange nach. Beide drehten sich um und sprangen in die Büsche am Straßenrand.
Der Pick-up explodierte in einem gigantischen Feuerball und hob fast zwei Meter vom Boden ab. Metall- und Plastiksplitter wurden in alle Richtungen geschleudert. Die Druckwelle traf mich und warf mich auf das Pflaster. Ich beachtete den Schmerz nicht, sondern rannte los zu der Stelle, wo ich meine Freunde zuletzt gesehen hatte.
Bitte, euch ist doch nichts passiert, bitte …
Coop hetzte an mir vorbei und sprang in die versengten, brennenden Büsche. Diesmal trug das Wasser den Sieg über das Feuer davon. Der prasselnde Regen löschte die Flammen. Eine Rauchwolke stieg auf.
»Hi? Shelton?« Ich watete durch knietiefen Dampf, der über die Straße zog. »Wo seid ihr?«
»Nimm den Köter weg!«, rief jemand vor mir.
Der Rauch verzog sich. Hi lag auf dem Rücken, bis zum Kinn in einer tiefen Pfütze versunken. Coop setzte ihm zwei Pfoten auf die Brust und leckte ihm das Gesicht ab.
Rechts von mir stöhnte jemand. Ich drehte mich um und sah Shelton, der sich gerade aus der Pfütze erhob.
»Ein Pick-up explodiert und du ertrinkst dabei«, jammerte er. »Wie hoch sind die Chancen?«
Trotz ihrer Benommenheit hatten die Jungen noch Feuer in den Augen.
»Irgendwer verletzt?«
Kopfschütteln.
»Dann hoch mit euch! Wir müssen Ben einholen!«
Ich watete zurück zur Straße und Shelton und Hi folgten. Coop rannte wieder voraus, aber diesmal rief ich ihn zurück.
Bei Fuß. Warte.
Coop stellte die Ohren auf. Er wendete und lief neben mir.
»Wir machen das zusammen«, befahl ich laut.
Ich ließ meinen durchnässten Freunden Zeit, wieder zu Atem zu kommen. Shelton hustete. Hi blies sich Rotz aus der Nase. Schließlich waren sie so weit. Wir rannten den Block hinauf und hielten nach Ben und dem Spielleiter Ausschau.
Minuten verstrichen und wir fanden keine Spur.
»Der Wind wird schwächer«, sagte Shelton und schnappte nach Luft. »Vielleicht ist der Sturm vorbei.«
»Katelyn ist noch nicht durch.« Hi zeigte auf ein riesiges Loch in den Wolken. »Das Auge zieht über uns hinweg. Den zweiten Teil des Babys haben wir noch vor uns.«
Als wir uns der Einkaufsmeile näherten, hatte der Wind ganz aufgehört. Eine geisterhafte Stille lag über der Stadt. Nach dem Chaos der letzten Stunden war die Ruhe eher nervenaufreibend.
Wir schauten zu, wie Katelyns Auge über uns hinwegzog.
»Der Hurrikan bewegt sich mit einer Affengeschwindigkeit«, sagte Hi. »Die Pause dauert nicht ewig.«
Wir überquerten die King Street und kamen gerade bei Gap vorbei, als aus einem Eingang eine Hand hervorschoss. Erschrocken schlug ich danach.
»Immer mit der Ruhe!« Bens gelbe Augen leuchteten im Schatten.
»Was machst du hier?«, wollte ich wissen.
»Pst. Er ist nur ein Stück weiter.« Ben schob sich aus dem Eingang, schlich bis zur Ecke des Gebäudes und zwang uns, ihm zu folgen.
»Er lauert uns auf.« Ben spähte hinüber zum Marion Square. »Ich habe gesehen, wie er über den offenen Platz gelaufen ist.«
»Holen wir ihn uns.« Ich war wütend. Auf Ben. Auf den Spielleiter. Auf mich selbst, weil ich Ben nicht sofort zur Rede stellte. »Er könnte fliehen, während wir hier reden.«
»Das Monster, das wir jagen, ist ein Meisterschütze.« Ben behielt den Platz im Auge. »Was, glaubst du, hat er in seiner Tasche?«
»Dieser Platz ist bestens für einen Hinterhalt geeignet.« Hi spähte ebenfalls um die Ecke. »Und im Augenblick ist es windstill.«
Shelton zeigte mit dem Finger auf Ben. »Der Spielleiter hat dich …«
»Nicht jetzt«, fauchte Ben. »Er ist ein Lügner und ein Mörder! Zuerst müssen wir ihn erwischen.«
Shelton verschränkte die Arme und war eindeutig nicht zufrieden mit Bens Antwort. Aber er hatte recht. Wir hatten eine Aufgabe zu erledigen. Wir mussten einen Mörder aufhalten. Die Antworten konnten warten.
»Bitte.« Ben flehte uns mit den Augen an. »Ich werde euch später alles erklären.«
»Okay«, sagte ich ruhig. »Aber du wirst dich nicht davor drücken können.«
Ben nickte und warf wieder einen Blick auf den Platz. »Wir brauchen einen Plan.«
Ich konzentrierte mich auf das Problem. »Was denkt ihr denn?«
»Ich denke, im Park liegt ein Scharfschütze auf der Lauer«, sagte Ben.
»Ein schwer bewaffneter und sehr guter Scharfschütze«, fügte Shelton hinzu.
»Er hatte genug Zeit, um sich ein geeignetes Schussfeld auszusuchen«, meinte Hi. »Und sich in den Hinterhalt zu legen.«
Ich nickte. »Außerdem will er die Sache erledigen, solange das Auge über uns ist und er den Wind vernachlässigen kann.«
»Vorschläge?«, fragte Shelton.
Ben schlug in die Luft. »Wir scheuchen ihn auf und machen ihn fertig.«
»Großartig«, sagte Hi ausdruckslos. »Hast du auch eine Ahnung, wie?«
Ben schüttelte den Kopf. Alle sahen mich an.
Wieso wieder ich? Wie scheucht man einen Scharfschützen auf? Das Einzige, was ich über militärische Strategie wusste, hatte ich bei Band of Brothers gelernt.
»Ich hätte Call of Duty mitbringen sollen«, stöhnte Hi. »Aber meine blöde Mutter will nicht, dass ich Ego-Shooter spiele.«
Coop strich mir am Bein entlang. Als ich nach seinen Ohren griff, um sie zu kraulen, fiel mir die Antwort ein.
»Wir benutzen unsere Superkräfte. Gemeinsam. Und pirschen uns an wie ein Wolfsrudel.«
Hi holte tief Luft. »Okay, aber wenn du in meinem Gehirn die Festplatte durchsuchst, halt dich von der Internet-Chronik fern. Was du da findest, wird dir nicht gefallen.«
Ich beachtete ihn nicht, schloss die Augen und versenkte mich in mein Unterbewusstsein.
Auf einen Impuls hin streckte ich die Hände aus. Hi nahm eine, Shelton die andere. Ich spürte, wie Ben den Kreis auf der anderen Seite schloss. Und Coop stand in der Mitte.
Wir konzentrierten unsere Kraft.
Die Linien flackerten auf und pulsierten voller Energie.
Fünf flammende Linien, die uns miteinander verbanden.
Da das Rudel so nah zusammenstand, bogen sich die Linien surrend.
Ich wagte mich vor.
Plötzlich dehnten sich die Linien aus, wurden hohl und verformten sich zu Tunneln.
Das ist noch nie passiert.
Trotz des Regens stand mir Schweiß auf der Stirn.
Reflexartig lenkte ich meine Gedanken in den ersten Tunnel.
Hiram.
Es folgte ein schwebendes Gefühl und dann eine Art Klick.
Augen gingen auf. Ein Kopf drehte sich.
Ich starrte ein durchnässtes rothaariges Mädchen neben mir an.
Ich. Ich sehe mich selbst.
Hi hielt den Atem an. Erschrocken zog ich mich von ihm zurück.
Als sich das nächste Augenpaar öffnete, war ich wieder in meiner vertrauten Haut.
»Irre«, flüsterte Hi. »Echt irre.«
»Abgefahren«, sagte ich. »Aber das brauchen wir im Augenblick nicht.«
Konzentration. Du hast es schon einmal geschafft.
Ich betrachtete die flammenden Linien. Wieder nahm ich eine, drang jedoch nicht ein.
Licht bewegte sich zuckend an der Linie entlang. Bruchstücke von Gedanken drangen auf mich ein. Bilder. Gefühle.
Shelton.
Ich langte nach der nächsten Linie und schob die Kraft nach außen. Weitere Bruchstücke kamen zutage.
Hi.
Und noch eine. Das Nervenchaos von Ben gesellte sich dazu.
Ich wurde mit Gefühlen und Eindrücken bombardiert. Mit ihren Ängsten. Aber ich konnte es kontrollieren. Konnte ihre Gedanken berühren und ihnen Wörter und Bilder schicken.
Dann bemerkte ich eine Leerstelle, eine fehlende Verbindung. Der Kreis war noch nicht perfekt.
Vor meinem inneren Auge sah ich Coops Silhouette. Alle Linien verliefen durch ihn.
Coop ist der Schlüssel. Das Zentrum des Rudels.
Ich holte den Wolfshund mit in den Kreis.
Ein greller Blitz. Fusion. Fünf Seelen verschmolzen zu einer.
Coop heulte voller Entzücken.
Endlich war unser Rudel komplett.
Ich spürte eine telepathische Verbindung zu jedem der Virals.
Die fehlende Ebene. Das ist sie.
Die Jungs hatten es ebenfalls kapiert. Sie schickten sich gegenseitig Gedanken und waren völlig begeistert von diesem neuen Level der Verbindung. Von dieser mühelosen Kommunikation. Es war der Schub unseres Lebens.
Ohne nachzudenken, richtete ich meine Gedanken auf Ben. Spähte hinter seinen Schild.
Mein Gehirn empfing ein einziges Bild: Ben auf der Sewee, tief in ein Gespräch versunken.
Neeeeiiinnn!
Ich sah auf. Ben legte den Kopf schief und war nicht sicher, was passierte. Dann war die mentale Mauer wieder da und versperrte den Zugang zu seinen Gedanken.
Zu spät. Ich hatte die Wahrheit gesehen. Hatte Bens Gesprächspartner erkannt.
Die gestohlene Erinnerung versengte mir das Gehirn.
Ben hatte mit dem Spielleiter gesprochen.