KAPITEL 22
Die Sewee glitt durch die Brandung und Gischt spritzte unter ihrem Bug auf.
Zehn Uhr abends. Wir hatten so lange wie möglich gewartet.
Schließlich konnten wir nicht auf dem bekanntesten Golfplatz der Stadt herumlaufen, während dort draußen noch jemand spielte oder sich um die Anlage kümmerte. Doch die Zeit lief gegen uns.
In zwei Stunden ging der Countdown zu Ende. Unsere Aufgabe, worin auch immer sie bestand, musste vorher erledigt werden.
Wir trugen dunkle Sportkleidung. Nichts Finsteres – der Ocean Course war beliebt und selbst spät am Abend würde uns vielleicht irgendjemand über den Weg laufen. Da war es wenig sachdienlich, wenn man aussah, als wollte man auf Diebestour gehen.
Ich saß am Bug und hielt Coop im Arm. Eigentlich hatte ich den Wolfshund nicht mitnehmen wollen, doch sein Winseln hatte meine Flucht gefährdet. Kit hatte weitergeschnarcht, trotzdem hatte ich entschieden, keinen weiteren Lärm vom Hund zu riskieren.
Ben saß natürlich am Steuer. Er hatte die Route über das Meer vorgeschlagen, weil die in der Dunkelheit weniger riskant war als der verschlungene Intracoastal Waterway, die Küstenwasserstraße. Unser Ziel war relativ nah, nur zwei Inseln entfernt.
Hi und Shelton hatten sich ans Heck gehockt. Wir schwiegen. Sich so früh aus dem Haus zu schleichen, war schwieriger als nach Mitternacht, wie bei unseren sonstigen Streifzügen, und die Jungen wirkten nervös.
Die Mondsichel spendete uns Licht. Es wehte eine milde, aber kräftige Brise. Ich trug eine blaue LIRI-Windjacke, die ich im Boot gelassen hatte.
An Folly Beach vorbei erreichten wir die Fahrrinne des Stono River, als sich vor uns ein dunkler Schemen am Horizont abzeichnete.
Kiawah ist eine lang gestreckte, schmale Düneninsel, die vor allem für den gehobenen Tourismus genutzt wird. Mit etwa tausend ständigen Bewohnern ist der schlanke Landstreifen eine relativ ruhige Gegend. Zwischen dem Wald im Zentrum und dem Atlantik liegen fünf Weltklasse-Golfplätze.
Der Ocean Course ist der berühmteste.
Ben steuerte an der Küste entlang und passierte eine Reihe gepflegter Löcher. Kurz darauf entdeckten wir ein großes Gebäude gleich hinter der vordersten Dünenreihe.
»Ich fahre so nah wie möglich ran«, sagte Ben leise.
»Achtzehn ist gleich am Strand«, flüsterte Hi. »Nahe am Clubhaus. Dort dürfte sich um diese Uhrzeit niemand mehr herumtreiben.«
Das dreigeschossige Clubhaus war u-förmig angelegt und hatte zum Ozean hin riesige Fenster. Die Außenbeleuchtung brannte und erhellte ein Übungsgrün. Halogenlampen und Mondlicht sorgten für gute Sicht.
»Hoffentlich ist niemand mehr da«, sagte Shelton. »Im Clubhaus hätte man ja einen Platz in der ersten Reihe.«
Ben stellte den Motor ab und warf den Anker. Wir zogen die Schuhe aus und wateten ans Ufer. Coop platschte neben mir her. Als wir über eine niedrige Sandbank kamen, war ich erleichtert, dass in der Umgebung keine Wohnhäuser standen. Solange sich niemand im Clubhaus aufhielt, würde es keine Probleme geben.
Das Grün war flach, oval und perfekt gepflegt. Auf der anderen Seite gab es einen tiefen Sandbunker. An der Spitze wurde es von einem kurzen Stück Hecke ein wenig vom Clubhaus abgeschirmt.
Hi ging direkt zum Loch und griff hinein.
»Nichts.« Er schlug sich mit der Faust ans Bein. »Was für eine Enttäuschung.«
In der Hoffnung, Hi habe sich geirrt, überprüfte ich das Loch. Lächerlich, aber ich war sicher, dass wir hier richtig waren.
»Na, das hat ja nicht lange gedauert«, sagte Shelton. »Verschwinden wir, bevor irgendwelche Wachleute auftauchen.« Hi nickte, doch Ben und ich rührten uns nicht.
»Es muss hier sein«, beharrte ich. »Der Hinweis hat uns genau zu diesem Punkt geführt.«
»Falls wir ihn richtig verstanden haben«, konterte Shelton. »Wer weiß, vielleicht sind wir reingelegt worden. Dieser Spielleiter ist zu allem fähig.«
Ist er nicht. Ich liege richtig. Wir haben unsere Stelle. Ich spüre es.
Irgendetwas passte nicht zusammen. Aber was?
Ben beobachtete mich. »Was überlegst du?«
»Wir hatten zweiundsiebzig Stunden.« Während ich sprach, kristallisierte sich das Problem heraus. »Aber wir hätten den Hinweis zu jeder anderen Zeit entschlüsseln können. Wenn wir das Rätsel früher gelöst hätten und tagsüber gekommen wären? Der Spielleiter konnte schließlich nicht einfach etwas im Loch liegen lassen. Hier wird gegolft, und zwar jeden Tag.«
»Stimmt.« Hi spitzte die Lippen. »Also?«
»Wir haben uns nicht geirrt.« Ich spähte in das Loch. »Wir müssen nur ein bisschen tiefer gehen.«
»Sag nicht, du willst das Grün umgraben!« Shelton stampfte mit dem Fuß auf. »Nein, ich flehe dich an.«
»Brrr.« Hi strich sich über den Kopf. »Tory, das wäre übelster Vandalismus. In so einem Grün steckt jahrelange Arbeit. Das ist Zehntausende Dollars wert.«
Ben schwieg, seine Miene war unergründlich. Aber sein Körper war so straff gespannt wie das Fell einer Trommel.
»Der Hinweis führt direkt zum Loch«, erwiderte ich. »Also brauchen wir nur dort zu suchen.«
»Warte!« His Miene hellte sich auf. »Ich habe meinen Metalldetektor noch im Boot!«
Ben ließ sich ein Nicken abringen. »Hol ihn. Wir können den Rasen absuchen, ehe wir irgendetwas kaputt machen.«
»Gute Idee«, stimmte ich zu. »Los.«
Während Hi über die Dünen stapfte, trottete Ben zum Clubhaus und spähte hinein. Coop lief leise neben ihm her, ganz auf Pirsch jetzt.
Da wir nichts zu tun hatten, setzten Shelton und ich uns auf den Rasen. Minutenlang hörte ich nur das Rauschen der Wellen und das Surren der Mücken.
Shelton schlug sich auf den Arm. Kratzte sich. »Wenn Hi nichts entdeckt …«
»Dann geben wir auf.« Ich hob beide Hände. »Versprochen.«
»Ich verlass mich drauf. Es hat keinen Sinn, den Platz zu zerstören, nur weil wir sauer sind.«
Ben und Coop kehrten als Erste zurück und ließen sich neben uns nieder.
»Das Gebäude ist leer.« Ben kraulte Coop hinter den Ohren. »Der Hund ist der gleichen Meinung. Zumindest hat er sich nicht so benommen, als wäre jemand drin.«
Kurz darauf kehrte Hi mit seinem Gerät zurück.
»Überprüf den Bereich um das Loch«, sagte ich. »Wenn da nichts ist, suchen wir das ganze Grün ab.« Shelton und ich sahen uns an. »Und falls wir dort nichts finden, machen wir Schluss für heute.«
»Das gefällt mir.« Hi stellte an den Reglern herum und justierte die Stange. »Falls hier irgendetwas ist, macht das Baby …«
Ding! Ding! Ding!
Alle zuckten zusammen. Coop bellte.
»Das ging ja leicht.« Hi trat ein paar Schritte zurück und das Piepen hörte auf.
Ich war aufgeregt. »Warten wir erst einmal ab, was da unter dem Loch ding macht.«
»Besten Dank, Frau Oberschlau.« Hi stellte den Detektor ab.
Shelton gab die Mutter aller Seufzer von sich. »Wir müssen doch nicht graben?«
»Nur im Loch«, versprach ich. »Wenn wir vorsichtig sind, richten wir keinen Schaden an.«
»Dann lass uns vorsichtig sein.« Sheltons Blick schweifte über die Landschaft. »Coop könnte gerade gehört worden sein.«
»Ich hole die Kellen.« Ben lief in Richtung Sewee los.
Coop wollte ihm folgen, doch ich rief ihn zurück. Shelton hatte recht – das Bellen war nicht gerade hilfreich gewesen.
Binnen einer Minute war Ben mit meinem Rucksack zurück. Ich nahm eine Kelle heraus und setzte mir den Rucksack auf, um jederzeit aufbrechen zu können.
»Versuch, das Loch nicht größer zu machen«, sagte Ben. »Falls möglich.«
Vorsichtig stocherte ich, bis der Einsatz herausgeholt war und ich nackte Erde vor mir hatte. Dann kratzte ich mit der Kelle und hoffte, dicht unter der Oberfläche etwas zu finden. Leider hatte ich kein Glück.
»Das Loch ist einfach zu eng. Ich muss es schon ein bisschen erweitern.«
Shelton stöhnte. Ben trat von einem Fuß auf den anderen. Hi legte beide Hände auf den Kopf.
»Keine andere Möglichkeit?«, fragte Shelton.
»Nein. Aber ich weiß, wie es besser geht.«
Die Augen geschlossen.
Den Geist leer.
Fallen lassen.
KLICK.