KAPITEL 10
Ein Summen in meiner Tasche schreckte mich auf.
Eine Nachricht von Kit. Ich sollte meinen Allerwertesten zum Abendessen nach Hause bewegen.
»Ich muss los, Jungs. Scannt mir jemand das Bild ein und schickt es mir per E-Mail? Dann kann ich heute Abend drüber nachdenken.« Ich sah Hi an. »Und vergesst nicht, die Bunkertür zu schließen. Es darf keine Feuchtigkeit reinkommen.«
»Mach einmal einen Fehler«, murmelte Hi und legte Papier in den Drucker. »Und er wird dir ewig unter die Nase gerieben.«
»Kannst du mich zurückfahren?«, fragte ich Ben. Er nickte. Hi und Shelton würden die anderthalb Meilen zu unserer Siedlung laufen müssen.
»Keine Sorge.« Shelton spannte seinen mageren Bizeps an. »Bis morgen habe ich die Nuss geknackt.«
»Das bezweifele ich nicht.« Ich hielt den Daumen hoch.
Coop, Ben und ich krabbelten nach draußen und stiegen zur Bucht hinunter. Eine Viertelstunde später vertäuten wir die Sewee am Anleger von Morris Island.
»Bis dann, Tory.« Ben ging zu dem Haus, in dem er mit seinem Vater wohnte. »Ich sehe mir auch mal diese Zahlen an. Shelton ist nicht der Einzige, der gute Ideen hat. Bleib eingeloggt.«
»Mache ich. Danke fürs Mitnehmen.«
Ich klatschte mir auf den Schenkel, damit Coop zu mir kam, und ging zu unserer Haustür. Und zögerte.
»Was meinst du, mein Guter?« Ich kraulte ihm die Schnauze. »Ob Kit uns heute wieder ihre Anwesenheit aufzwingt?«
Coop legte den Kopf schief. Die weiche rosa Zunge schob sich zwischen den Zähnen hervor.
»Unglücklicherweise bin ich der gleichen Meinung. Trotzdem müssen wir rein.«
Unsere Hundeinstinkte hatten uns nicht getäuscht. Whitney wirbelte in einem gelben Strandkleid durch das Esszimmer und deckte den Tisch.
Zumindest gibt es gutes Essen.
»Whitney. Schön, dich zu sehen.« Ich ließ mich auf die Couch plumpsen. Coop legte sich an meinen Füßen hin. »Wie lange ist es her? Vierundzwanzig Stunden?«
Whitney lächelte, denn ihr Ironie-Detektor war wie gewöhnlich defekt.
Kit war der Sarkasmus nicht entgangen. »Tory. Wasch dich mal. Sofort.«
Ich verdrehte die Augen und trottete nach oben. Blieb jedoch auf halbem Weg stehen und wandte mich um. An der Wand neben mir hing eine riesige weiße Leinwand mit dem Bild eines seltsam geformten Hundes.
»Was soll denn das sein?«
Whitney erschien unten an der Treppe. »Oh! Das ist mein Lieblingsbild, Schatz. Ein Blue Dog von Dan Kessler. Ist es nicht wundervoll?«
Das gefiel mir tatsächlich. Trotzdem ging mir eine Frage nicht aus dem Kopf.
Warum hängt es hier? Warum hängt es hier? Warum hängt es hier?
Schweigend ging ich weiter.
Während ich mich wusch, setzten sich einzelne, unangenehme Beobachtungen zu einem Bild zusammen. Ein Gemälde. Eine Vase. Kissen in Pink und Grün. Whitneys unangekündigter Aufenthalt in unserem Haus.
Wie Schimmel den Keller eroberte Kits blonde Freundin in aller Stille mein Reich.
Nicht. Sehr. Schön.
Ich starrte in den Badezimmerspiegel. Mein Spiegelbild starrte zurück. Eine ausweglose Situation.
»Tory!« Kit klang verärgert. »Wir warten auf dich!«
»Kotz.«
Ich ging zum Tisch, als Whitney das Essen auftrug. Krabbenpuffer, Maiskolben, Blattkohl, Pfirsichpastete.
Köstlich.
Die Erwachsenen wollten mich in eine Unterhaltung verstricken, aber die heimliche Vermehrung von Whitneys Einrichtungsgegenständen hatte mich misstrauisch gemacht. Nachdem ich mein Essen verschlungen hatte, verzog ich mich nach oben und schloss mich in meinem Zimmer ein.
Mein Mac war aus dem Ruhezustand erwacht und auf dem Bildschirm blinkte eine neue Nachricht. Ben. Er bat um eine Videokonferenz. Ich startete iFollow und stellte fest, dass ich mich als Letzte eingeklinkt hatte.
Ben füllte das linke obere Viertel meines Monitors. Wie gewöhnlich saß er in Shorts im Hobbyraum seines Vaters, in dem mal wieder Chaos herrschte. Überall um ihn herum lagen alte Zeitschriften, Bootsteile, Campingausrüstung und Angelzeug auf verschiedenen Haufen.
Sheltons Brillengesicht befand sich rechts von Ben und wurde von zwei Avatar-Postern an der Wand eingerahmt. Obwohl es noch nicht einmal sechs Uhr war, trug er schon einen Pyjama.
Hi nahm das Fenster unter Shelton ein. Er saß an seinem Schreibtisch mit einem »Wolfman’s Got Nards«-T-Shirt und stopfte Nacho Cheese Doritos in sich hinein. Im letzten Rechteck schaute mir mein eigenes Bild entgegen.
»Sie ist da.« Shelton klang ungeduldig. »Verrätst du uns jetzt, was los ist?«
»Ich wollte mich nur nicht wiederholen«, antwortete Ben, doch seine dunklen Augen funkelten vor Aufregung.
»Dann raus damit«, verlangte Hi. »Ich verpasse Verdammt lecker.«
Ben kam gleich zur Sache. »Ich habe das Rätsel mit den Koordinaten gelöst.«
»Nein!« Shelton war verblüfft und neidisch. »Wie?«
Ein schmallippiges Lächeln huschte über Bens Gesicht. »Heute hatte ich mal den Geistesblitz.«
»Na, erzähl endlich!« Ich war ganz Ohr.
»Mir ging etwas durch den Kopf, das Hi gesagt hatte.«
»Wer sonst«, warf Hi ein.
»Ausnahmsweise«, fuhr Ben fort, »hattest du in diesem Fall recht. Die Zahlen mussten Koordinaten sein. Das Problem war nur, dass sie keinen Sinn ergaben.«
»Nur, wenn wir in Afrika Dünensurfen wollten«, scherzte Shelton.
Ben beachtete ihn nicht. »Was wisst ihr über Koordinatensysteme?«
»Nicht viel«, räumte ich ein. »Es gibt Längengrade und Breitengrade. Damit kann man auf einer Karte einen Punkt festlegen. Das ist schon alles.«
»Richtig«, sagte Ben. »Koordinaten sind Zahlen, mit denen eine genaue Position festgelegt wird. Am meisten verbreitet sind Längengrad, Breitengrad und Höhe.«
»Breitengrade verlaufen von Osten nach Westen«, fügte Hi hinzu. »Längengrade von Norden nach Süden beziehungsweise von Pol zu Pol.«
Ben nickte. »Nun, jedes System braucht allgemeine Bezugspunkte, um zu funktionieren. Für unseren Globus sind das der Äquator und der Nullmeridian.«
»Das weiß doch jedes Kind.« Shelton putzte sich die Brille und setzte sie wieder auf. »Der Äquator teilt Nord und Süd, der Nullmeridian Ost und West.«
»Verläuft der Nullmeridian nicht durch eine Sternwarte in England?«, fragte Hi.
»Greenwich«, bestätigte Ben. »Von dort aus wird gemessen, wie weit sich ein Ort östlich oder westlich befindet.«
»In Grad, nicht?«, riet ich. »Osten ist positiv und Westen negativ.«
»Wirklich oberschlau«, meinte Ben. »So werden die Längengrade berechnet – in Grad östlich oder westlich von Greenwich.«
»Die Breitengrade funktionieren genauso«, ergänzte Hi. »Norden ist positiv, Süden negativ.«
»Aber eins muss man wissen« – Ben beugte sich zu seinem Bildschirm vor –, »bei der Auswahl des Nullmeridians spielten wissenschaftliche Kriterien keine Rolle. Es ist nicht wie beim Äquator, der genau zwischen den Polen verläuft und sich deshalb nicht anderswo befinden könnte. Beim Nullmeridian sind die Kartografen einfach übereingekommen, eine alte Sternwarte in England als allgemeinen Bezugspunkt zu bestimmen.«
»Echt?« Das haute mich um. »Wann?«
»Ungefähr um 1880«, murmelte Hi mit vollem Mund. Natürlich hatte er es gewusst. »Damals fand in den Vereinigten Staaten eine Konferenz statt und die meisten Länder stimmten für Greenwich. Seitdem ist es dabei geblieben.«
»Die Sache ist die«, fuhr Ben fort, »die Entscheidung wurde willkürlich gefällt. Vor der Konferenz benutzten die Kartografen verschiedene andere Orte als Nullmeridian. Rom. Paris. Rio. Mekka. Die meisten Länder hatten ihren eigenen.«
»Bringt uns das irgendwie weiter?« Shelton unterdrückte ein Gähnen. »Wir haben die Zahlen schon als Koordinaten ausprobiert. Sie schicken uns in die verdammte Sahara!«
»Angenommen, es wären Koordinaten.« Ben hielt seine Kopie des Hinweises hoch. »Die erste Zahl wäre der Breitengrad. 32.773645. Die zweite wäre der Längengrad. -00.065437.«
»Und am nächsten an diesen Koordinaten liegt die Stadt …« Hi sah nach unten. Sein Gesicht war mit orangefarbenen Essensresten verschmiert. »… Bou Semghoun. Eine Oasenstadt in der Region Ghardaia in Algerien. Glaubt ihr, die haben dort Satellitenfernsehen?«
Bens Augen glitzerten. »Wisst ihr, was sonst noch auf dem Breitengrad 32.773645 liegt?«
»Was denn?« Ich bekam eine Gänsehaut.
»Die Innenstadt von Charleston.« Ben klatschte in die Hände. Hurra.
»Hör auf!« Hiram riss die Augen auf. »Woher weißt du das?«
»Vom Angeln.« Ben grinste breit. »Wenn ich eine gute Stelle finde, speichere ich die Position im GPS der Sewee. Die Länge 32.77 habe ich schon hundert Mal gesehen. Eigentlich hätte es mir gleich auffallen sollen, aber der Rest der Zahlen hat mich durcheinandergebracht.«
»Trotzdem brauchen wir noch einen Längengrad«, warf Shelton ein. »Ohne beides finden wir gar nichts.«
Ben grinste noch breiter. »Den habe ich auch.«
»Raus damit«, verlangte ich.
»Deshalb habe ich ja die ganze Geschichte mit dem Nullmeridian erzählt«, sagte Ben. »Null Grad Länge muss ja nicht zwangsläufig auf Greenwich bezogen sein. Anders als null Grad Breite, die immer vom Äquator ausgehen.«
Ich begriff, worauf Ben hinauswollte. »Diese geografische Länge kann sich auf einen anderen Nullmeridian beziehen. Auf einen völlig anderen Bezugspunkt!«
Ben lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Bingo.«
»Aber das könnte überall sein«, jammerte Shelton. »Praktisch jeder Punkt auf der Erde.«
»Warte, warte!« In seiner Aufregung verteilte Hi seine Nachos auf der Tastatur. »Der Hinweis war im Geocache verborgen. Auf Loggerhead! Und das wäre der einzige Bezugspunkt, den wir vom Spielleiter bekommen haben.«
»Hi hat’s erfasst«, brummte Ben. »Manchmal kann ich es kaum ertragen, wie schlau ihr seid.«
Allein in seinem Zimmer, mimte Hi eine Siegerpose.
»Also benutzen wir die erste Zahl ganz normal als Breite.« Die Punkte verbanden sich langsam zu einem Bild. »Dann nehmen wir an, dass die zweite Koordinate die geografische Länge ist, aber mit dem Cache auf Loggerhead als Nullmeridian.«
Ben nickte. »Das ist unser neuer Bezugspunkt.«
»Ben, du bist genial!«
Plötzlich wurde Ben ganz rot. »War gar nicht so schwer. Eigentlich ganz leicht.«
»Und wohin führt uns die geografische Länge« – ich las rasch ab – »-00.065437?«
»Ihr habt E-Mail.« Ben klickte mit seiner Maus.
Die Nachricht war praktisch sofort da. Ich öffnete den Anhang, ein JPEG, auf meinem Bildschirm.
Und wusste Bescheid.