KAPITEL 48

»Wie bringt ihr euch immer wieder in solche Schwierigkeiten?«

Jasons Worte rissen mich aus dem Dämmerzustand. Es hatte eine Pause im Gespräch gegeben, und Chance’ Polstersessel war einfach zu bequem, wenn man so müde war wie ich.

»Du hast die Geschichte doch gehört«, murmelte Shelton. »Ist doch nicht unsere Schuld, wenn irgendein Irrer auf solche verrückten Spiele steht.«

»Wir haben gewonnen.« Ben öffnete die Augen nicht. »Niemand wurde verletzt. Das ist die Hauptsache.«

»Ich gehe mal davon aus, dass es keine antike Registrierkasse gibt, die irgendein Spezialöl brauchte?«, fragte Jason.

Keiner machte sich die Mühe, ihm zu antworten.

Viertel vor Mitternacht in der Claybourne-Residenz. Wir sechs hatten uns in Chance’ Arbeitszimmer versammelt und ignorierten die Party ein Stockwerk unter uns.

Müde wanderte mein Blick durch den Raum. Ich hatte schlechte Erinnerungen an diesen Ort.

Hier hatte sich seit Hollis Claybournes Zeiten wenig verändert. Fenster und Bücherregale, die von der Decke bis zum Boden reichten. Rote Vorhänge. Ein Mahagoni-Schreibtisch von der Größe eines Panzers.

Mein Blick fuhr am schmiedeeisernen Laufgang entlang. Ich musste an den Tag denken, an dem mich Chance dort oben erwischt hatte. An unsere Konfrontation.

Eindeutig schlechte Erinnerungen.

Nicht jetzt. Konzentriere dich.

Zedernscheite knisterten im Kamin und ihre orangegelben Flammen erzeugten lange Schatten. Shelton, Ben und ich saßen der riesigen Feuerstelle gegenüber. Chance saß an seinem Schreibtisch. Jason hatte sich an einem Beistelltisch auf den Boden gelegt und hielt sich einen Eisbeutel an den Kopf. Auf dem Perserteppich lag Hi flach auf dem Rücken.

Ich hatte Jason und Chance über die Ereignisse der letzten beiden Wochen in Kenntnis gesetzt. Der Fund auf Loggerhead. Die Serie von Cashes. Das Spiel. Die wilden Fahrten durchs Lowcountry. Der Umschlag des Grauens. Für mich behalten hatte ich nur die Geheimnisse, die wir mit niemandem teilen durften.

Im Anschluss war eine Lawine von Fragen über mich hinweggerollt. Ich hatte geantwortet, so gut ich konnte.

»Wir rufen also nicht die Polizei?« Shelton nahm seine Brille ab und massierte seinen Nasenrücken. »Bin ich der Einzige, der sie bei Mord und Bombendrohung für zuständig hält?«

»Wir können das Risiko nicht eingehen«, erwiderte ich entschlossen. »Der Spielleiter ist vielleicht der Meinung, dass die Regeln weiterhin gelten.«

»Captain Psychopath kennt unsere Eltern, unsere Adressen, sogar Torys Hund.« Hi hatte die Hände über der Brust gefaltet und starrte auf die Eichenbalken unter der Decke. »Wer weiß, wozu er fähig ist, wenn wir reden. Dieser Kerl steht sogar auf Clowns, Mann.«

Ich holte tief Luft. »Wir schnappen uns diesen Scheißkerl selbst.«

»Und wie sollen wir das anstellen?«, quäkte Shelton.

»Mir fällt schon was ein.« Ganz bestimmt.

»Bist du sicher, dass das Gas nicht entweichen kann?«, fragte Jason zum dritten Mal.

»Ja«, antwortete ich. »Ich habe es im Internet überprüft. Brommethan ist schwerer als Luft, und es sammelt sich einfach im Elektroraum. Und wenn jemand runtergeht, wird ihm der Gestank auffallen. Die Gefahr nicht gleich zu melden, sollte kein Risiko bedeuten.«

Jedenfalls hoffte ich das.

Der Spielleiter gehörte jetzt mir. Ich wollte Blut sehen.

Von unten hallten Musik und Lachen herauf. Niemand beachtete es. Glas zerbrach klirrend. Chance zuckte nicht mit der Wimper.

Vor zwei Stunden hatte mein Feueralarm eine milde Panik ausgelöst. Rotwangige Debütantinnen waren mit gefährlich hohen Absätzen über den Rasen gestöckelt. Eskorten hatten ihre Debütantin gesucht. Eltern und Geschwister suchten nach einander. Chance hatte Madison gesucht und uns andere gnädigerweise allein gelassen. Shelton hatte den benommenen Jason zur Seite geführt, bis er wieder richtig zu sich gekommen war.

Whitney hatte einen Anfall bekommen, als sie mich gesehen hatte. Wirres Haar. Schmutziges Kleid. Die Eskorte ohne Jackett. Kit hatte eine Erklärung verlangt.

Gott sei Dank war Hiram eingesprungen.

Er gab ein improvisiertes Märchen voller Kummer und Leid zum Besten. Wir hatten plötzlich im Dunkeln gestanden und waren orientierungslos einem Fluchtweg gefolgt. Dann waren wir wie Dominosteine alle nacheinander eine dunkle Treppe hinuntergepurzelt.

Die Geschichte war bizarr, verwirrend und äußerst unglaubwürdig.

Aber man hatte sie uns abgenommen.

Whitney hatte sich wie ein Lazarettarzt auf mich gestürzt, Flecken vom Kleid geputzt und geordnet und mich dann mit ihrem Make-up nachgeschminkt. Als ich beiläufig um Erlaubnis bat, später noch zu Chance’ Party zu gehen, hatte Kit sofort zugestimmt.

Nachdem die Feuerwehr den falschen Alarm bestätigt hatte, kehrten alle in den Ballsaal zurück. Die verbliebenen Debütantinnen wurden in voller Pracht präsentiert, wodurch Herzattacken und Verzweiflungsausbrüche abgewendet werden konnten.

Danach folgte der Tanz. Ich hielt drei Tänze durch – zweimal mit Kit und einmal sehr verlegen mit Jason, einfach nur, damit man uns gesehen hatte. Der Rest meiner Leute saß auf Stühlen an der Wand. Ich behielt Chance im Auge, der Madison über das Parkett führte.

Schließlich war der Ball zu Ende. Ich überreichte meinen Jungs die mit Monogramm versehenen Manschettenknöpfe und Kit fuhr uns zur Claybourne-Residenz. Die Party sollte bis tief in die Nacht gehen. Chance hatte sogar einen Mietwagen besorgt, der die Gäste nach Hause fahren würde.

Kit wünschte mir viel Spaß. Er würde den anderen Eltern Bescheid sagen.

Sobald wir bei Chance eingetroffen waren, hatte er Antworten verlangt. Er führte uns nach oben und überließ es einem Butler, sich um die anderen Gäste zu kümmern.

Jetzt war eine Stunde vergangen und wir saßen immer noch hier. Unten tobte eine wilde Party. Die halbe Schule hatte sich versammelt.

Aber nach Party war uns überhaupt nicht zumute.

Chance rührte sich. »Wie habt ihr das Gitter verbogen?«

»Adrenalin.« Hi setzte sich auf. Spannte die Muskeln. »Der menschliche Körper ist zu erstaunlichen Leistungen fähig.«

»Wir waren zu viert.« Shelton inspizierte seine Schuhe. »Das war sicherlich ausschlaggebend.«

»Vier.« Jason sah Ben an. »Weil ich bewusstlos war. Bin gegen einen Pfeiler gelaufen. An den ich mich nicht erinnere.«

Ben zuckte mit den Schultern. »Kann doch niemand was dafür, dass du ein Tollpatsch bist.«

Jason beäugte mich misstrauisch. »War es tatsächlich so, Tory?«

»Ja«, log ich. »Du bist gestürzt, hast von diesem Zeug eingeatmet, nur noch gehustet und dann dein Bewusstsein verloren. Der Gang war schmal und dunkel. Zu viel Chaos.«

»Irgendwie klingt das plausibel.« Jason überprüfte sein Kinn, indem er den Unterkiefer nach rechts und links schob. Dann grinste er schief. »Das ist schon das zweite Mal, dass ich in deiner Anwesenheit k. o. gehe, Miss Brennan. Du bist echt gefährlich.«

Chance ging zum Kamin, hockte sich hin und stocherte im Feuer. Er sprach, ohne sich umzudrehen.

»Ich habe zehn Minuten mit einem Brecheisen auf diese Klemmen eingehauen. Die waren massiv und größer als eine Faust. Ich habe nicht mal eine Delle hineinbekommen.«

Chance erhob sich und drehte sich zu uns um. »Und ihr vier reißt dieses Gitter einfach aus der Führung. Dann habt ihr die Führung auch noch aus der Wand gerissen und die Metallstangen verbogen wie Strohhalme. Wie? Wie soll das gehen?«

»Ich habe mal gelesen, in Ulan Bator hat ein Kerl einen chinesischen Panzer angehoben, nachdem …«

»Ach, sei still, Stolowitski. Tory soll es erklären.«

Ich setzte mich auf und erwiderte fest: »Was soll ich denn noch erklären?«

»Also, das ist eure Geschichte? Ein unglaublicher Adrenalinstoß? Hormone als Retter?«

»Was sollte es denn sonst sein?«

Chance zeigte auf Jason, sah aber mich dabei an. »Und der arme Jason ist gegen einen Pfeiler gelaufen und hat deswegen diese übermenschliche Leistung verpasst?«

Ich nickte. Erwiderte sein Starren.

»Und ich war auch nicht da«, fuhr Chance fort. »Weil ihr mir eingeredet habt, ich sollte im Treppenhaus nach dem Schlüssel suchen. Das klang schon zu dem Zeitpunkt irgendwie unwahrscheinlich, aber ich war erschöpft und hatte auch keine bessere Idee. Glücklicherweise hattet ihr die Geistesgegenwart, mich … davonzuschicken.«

»Worauf willst du eigentlich hinaus?« Jason nahm sich den Eisbeutel vom Kopf. »Wir sind da rausgekommen. Sei doch froh.«

»Worauf ich hinauswill, Jason? Diese Geschichte strotzt nur so von Lügen.« Chance’ Miene wurde hart. »Ein neuer Eintrag auf einer langen Liste von Schwindeleien. Und diesmal kein sehr guter.«

»Jetzt bleib mal ganz cool«, warnte Ben aus dem Sessel neben mir. »Dein Ton gefällt mir nicht.«

Chance ignorierte ihn und konzentrierte sich ganz auf mich. »Ich will die Wahrheit hören, Tory. Die wirkliche Geschichte. Eine Erklärung der Ereignisse, die jetzt schon, wie wir beide wissen, seit Monaten laufen.«

»Es war alles so, wie ich gesagt habe.« Ich hielt seinem Blick stand. »Jason ist gegen den Pfeiler gelaufen. Wir anderen haben zusammengearbeitet und es geschafft, das Gitter herauszureißen. Ob du es nun glaubst oder nicht, eine andere Version gibt es nicht. Von niemandem.«

Wir starrten uns eine Ewigkeit in die Augen.

Dann grinste er.

»Also schön.«

Chance fuhr herum und verließ den Raum.