KAPITEL 19
»Tory! Abendessen!«
Kotz.
Ich schob das iPad in eine Schublade. Keine Fortschritte, auch nachdem ich das Bild gescannt und hochgeladen hatte. Shelton suchte im Internet nach Übereinstimmungen.
»Tory!« Kits Stimme steigerte sich auf Stufe zwei.
»Komme!«
Ich steckte mein Haar hoch und lief nach unten. Natürlich war Whitney da. Mir hatte niemand gesagt, dass sie mit uns essen würde. Natürlich nicht.
Coop trottete zu mir und stupste meine Hand an.
»Guter Junge.« Ich zeigte in seine Ecke. »Platz.«
Coop gähnte, dann zog er sich ins Körbchen zurück, das im Wohnzimmer stand. Whitney beäugte ihn, da sie Angst hatte, der Wolfshund könnte sich von hinten an sie anschleichen. Bitte.
In letzter Zeit hatte ich mit Coop an seinem Benehmen gearbeitet. Kit hatte darauf bestanden – während der Mahlzeiten hatten Vierbeiner nichts am Tisch zu suchen. Ohne Ausnahme.
Coop gehorchte meistens. Wenn er Lust hatte.
Ich hatte nichts dagegen, wenn Coop Whitney ein bisschen ärgerte. Sie war eine aufgeblasene Heulsuse, die Hunde hasste. Aber das brachte Kit in Bedrängnis. Daher sollte ich es lieber nicht übertreiben.
Die richtige Gelegenheit kommt schon noch.
Kit war früh zu Hause, was uns beide überraschte. Er hielt eine Einkaufstüte vor der Brust und kündigte an, er werde grillen. Whitney hatte vor Freude gequiekt.
Somit war klar, was es zum Essen gab. Kit konnte Cheeseburger und damit erschöpften sich seine Kochkünste.
Ich schaute ihm hinterher, wie er mit einem Sack Holzkohle zum Gemeinschaftsgrill eilte. Mr Devers gesellte sich mit drei Steaks dazu und schließlich kam auch His Vater mit marinierter Hähnchenbrust.
Es war angenehme 24 Grad warm, einer dieser perfekten Oktoberabende im Lowcountry. Die Männer tranken ein paar Bier, während das Fleisch garte.
Ich war froh, dass Kit noch immer mit den Nachbarn zusammenkam. Er war ihr Boss, aber dadurch hatte sich auf Morris Island nichts geändert. Sie lachten und erzählten sich Geschichten, drei Väter, die sich spontan zum Grillen getroffen hatten und sich gut leiden konnten.
Das liegt nur an Kit. Er fühlt sich nicht als etwas Besonderes und das überträgt sich.
»Essen ist fertig.« Kit stellte drei Teller auf den Tisch.
Whitney jubelte wie eine Irre und ich schloss mich an.
Kit briet seine Burger nur halb durch. So rosa hatte Mom sie nicht gemacht, aber langsam gewöhnte ich mich daran. Der Saft tropfte mir vom Kinn, als ich einen großen Bissen nahm.
»Tory, Liebes, hast du eine Entscheidung getroffen?« Whitney nippte Pinot Grigio aus einem Kristallglas, das sie vermutlich aus ihrer Wohnung mitgebracht hatte. »Wer werden die Glücklichen sein?«
»Was für eine Entscheidung?«
»Deine Marshals.« Whitney verdrehte die Augen. »Ich frage dich erst zum dritten Mal danach. Der Ball ist nächsten Freitag.«
Sch… Schöne Bescherung. Das hatte ich vollkommen verdrängt.
In den letzten Tagen war ich zweimal auf Loggerhead gewesen, hatte versehentlich eine Bombe im Battery Park hochgehen lassen, der Claybourne-Residenz einen Besuch abgestattet und erlebt, wie Ben so in die Luft ging, dass sich ein indonesischer Vulkan nicht hätte schämen müssen.
Aber Whitney wollte wissen, mit wem ich Cotillion tanzte. LMAA.
»Bin noch dran.« Ich kaute Fleisch. »Da muss man eine Menge Faktoren berücksichtigen. Ich will ja nicht die falsche Wahl treffen.«
»Man spricht nicht mit vollem Mund.« Kit schüttelte missbilligend den Kopf. »Whitney braucht die Namen so schnell wie möglich. Das weißt du.«
»Wie wäre es denn mit dem netten Taylor-Jungen aus Mount Pleasant?« Whitney tippte sich mit dem kirschroten Fingernagel an die Unterlippe. »James? Nein, Jason! Der Lacrossespieler mit dem blonden Haar.« Sie warf mir einen verschwörerischen Blick zu. »Der ist süß.«
Krass.
Wenn Whitney über meine Freunde sprach, war das einfach unheimlich.
Na ja, süß ist er. Das lässt sich nicht leugnen.
»Weiß nicht, vielleicht.«
»Soll ich mit seiner Mutter sprechen?« Whitney beugte sich vor. »Wenn es dir unangenehm ist, einen Jungen einzuladen, könnten wir es arrangieren, dass er dich fragt.«
Jetzt wäre ich am liebsten explodiert.
Er hat mich schon gefragt! Du bist ja vielleicht ein Simpel, aber das Leben ist manchmal kompliziert.
»Das kriege ich schon hin.« Ich zerkaute mein letztes Stück Gurke. »Kann ich aufstehen? Morgen schreibe ich einen Chemietest.«
Kit nickte. »Whitney muss morgen Abend Bescheid wissen. Endgültig. Einverstanden?«
»Einverstanden.«
Ich klatschte mir aufs Bein, um Coop zu rufen, rannte nach oben und warf mich aufs Bett. Dort musste ich erst einmal eine Panikattacke unterdrücken. Vor dieser Entscheidung hatte ich mich gedrückt, seit man mir gesagt hatte, dass ich sie zu treffen hatte.
Wen sollte ich einladen? Welchen jungen Männern sollte ich die Ehre erweisen, drei Mal mit mir durch den Ballsaal zu marschieren?
Eine heikle Geschichte. Ich will ja keinen Krieg vom Zaun brechen.
Ich entschied mich, eine Liste anzulegen. Listen finde ich gut. Sie helfen mir, ungelöste Probleme einzukreisen und eine Strategie zu planen. Das Mögliche vom Unmöglichen zu trennen. Also holte ich ein Blatt Papier und schrieb auf: Chance Claybourne. Und strich ihn sofort wieder.
Realistisch bleiben. Mein Unterbewusstsein war ein Vollidiot.
Erstens konnte Chance mich nicht leiden, nach allem, was ich getan hatte. Zweitens wusste er zu viel über die Virals und vermutete noch mehr. Drittens wollte ich es vermeiden, im Mittelpunkt zu stehen. Chance war die schlechteste Wahl, die ich treffen konnte.
Trotzdem wäre es ultracool.
Ich überlegte weiter und schrieb mein Standardtrio auf. Hi. Shelton. Ben.
Ihre Namen kreiste ich ein und setzte ein Fragezeichen daneben.
In letzter Zeit war Ben ausgesprochen nervös gewesen. Ich konnte ihn gut leiden, aber bei meinem Debütantenball konnte ich keinen Skandal gebrauchen. Im Augenblick schien Ben beim geringsten Anlass auszuflippen. Ob er sich noch beherrschen konnte?
Jason schrieb ich unter Ben. Leider, leider wog Whitneys Vorliebe für ihn als starkes Argument gegen ihn. Was natürlich total blöd von mir war.
Wer käme noch infrage? Ist das die komplette Liste?
Ich wusste, wie ich es mir leicht machen könnte. Die Virals fragen und den ganzen Abend in einer Ecke abtauchen. Whitney und Kit würden dort sein, aber sie konnten mich zu nichts zwingen. Ein paar Stunden mit Freunden die Zeit totschlagen und sich dann einmal auf der Piste im Kreis drehen. Kurz. Und schmerzlos.
Warum war das so schwierig?
Weil Jason die perfekte Wahl ist.
Jason war bereits auf Debütantenbällen gewesen. Er wusste, wie man sich benahm. Meine Mannschaft würde das erst googlen müssen. Jason war in der Cotillion-Szene beliebt. Von meinen Jungs wusste man nicht einmal, dass sie existierten. Wenn ich Jason fragte, hätte ich Whitney nicht mehr im Nacken. Würde ich hingegen die Jungen von Morris Island einladen, könnte sie das in eine Depression stürzen.
Mit Jason würde man mir außerdem abnehmen, dass ich den Debütantenball ernst nahm. Und einmal hatte er mich schon gefragt.
Und möglicherweise wäre er, na ja, sogar ein richtiges Date.
Ich fuhr hoch. Woher kam denn der Gedanke?
Mein Blick kehrte zu Bens eingekreistem Namen zurück.
In einer Hinsicht machte ich mir keine Illusionen. Wenn ich mich für Jason entschied, würde Ben gekränkt sein. So gut kannte ich ihn schon.
Zurück auf null.
Frustriert schaltete ich meinen Mac an. Ich brauchte Hilfe von Google. Ein paar Suchen später traf ich eine Entscheidung.
Meine Liste beinhaltete vier Namen.
Laut Internet war vier eine akzeptable Anzahl.
»Jason und Ben als Marshals.« Ich fügte ihren Namen ein M hinzu. Da sie älter waren, gebührte ihnen die höhere Ehre. »Mumbo und Jumbo als Stags.«
Ich wollte Hi und Shelton dabeihaben. Je mehr, desto sicherer. Neben die beiden schrieb ich ein großes S.
Nachdem ich die Entscheidung noch einmal durchgegangen war, erschien sie mir gut. Whitney wäre froh, weil ich mich für einen »Jungen aus einer guten Südstaatenfamilie« entschieden hatte. Die Virals würde sie deshalb als Ergänzung meines Gefolges akzeptieren. Somit die klassische Win-win-Situation, oder?
Warum war ich dann immer noch so angespannt wie eine Banjosaite?
Wenn Mom nur hier wäre.
Ehe ich mich versah, liefen mir die Tränen über das Gesicht. Beinahe begann ich zu schluchzen. Irgendwie gelang es mir, die Trauer auf Armlänge von mir zu halten.
Das passierte manchmal. Aus heiterem Himmel traf mich der Kummer.
»Das reicht.« Ich wischte mir die Tränen von den Wangen.
Mom hätte die Oberflächlichkeit des Balls abgelehnt, aber sie hätte mir mit Freuden bei der Auswahl meiner Begleiter geholfen. Dabei hätten wir viel gelacht.
Ich erkundete den Ort in meinem Herzen, wo ihre Liebe gewohnt hatte. Und fand nur ein großes Loch. Beinahe hätte ich gleich weitergeheult.
Ich vermisse dich, Mommy. Jeden Tag.
Coop hing an mir wie ein Klettverschluss. Er stemmte die Pfoten auf meine Knie, katapultierte sich auf meinen Schoß und hätte beinahe den Stuhl umgeworfen.
»Ist ja gut!« Ich rutschte auf den Boden und schlang die Arme um ihn. »Du bringst uns noch beide um.«
Coop legte seinen Kopf an meine Brust. Ich schloss die Augen und streichelte seine Schnauze.
»Danke, Hund. Das habe ich gebraucht.«