KAPITEL 3

Das hintere Tor vom LIRI rollte mit leisem Surren auf.

»Kommt schon endlich rein«, grummelte Carl. Der Wachmann mit den roten Wangen war kaum einen Meter sechzig groß, wog aber gute hundertdreißig Kilogramm, daher war er nach dem kurzen Gang über den Hof bereits außer Atem. »Die Magneten geben das Tor nur für dreißig Sekunden frei.«

»Danke, Carl«, sagte ich fröhlich, da ich sein griesgrämiges Benehmen kannte. »Tut mir leid, dass Sie extra rauskommen mussten. Kit hätte diese neuen Automatikschlösser gar nicht bestellen sollen.«

»Direktor Howard wird seine Gründe gehabt haben.« Carls Ton deutete an, dass wir Virals vielleicht einer der Hauptgründe gewesen waren.

Nachdem wir den Sicherheitszaun passiert hatten, tippte Carl auf die Tasten der jüngst eingebauten Zifferntastatur. Das Tor ging hinter uns zu. Oben schwenkten zwei Überwachungskameras herum und behielten uns im Auge.

»Darf ich davon ausgehen, dass ihr vier heute nicht noch einmal hier hinauswollt?«, fragte Carl. »Ich bin es langsam leid, ständig über den Hof zu latschen.«

»Wir sind gleich weg«, sagte Hi. »Sie schaffen es noch pünktlich ins Fitnessstudio.«

Carl warf Hi einen scharfen Blick zu, während sich seine himmelblaue Uniform gefährlich über seinem riesigen Bauch spannte.

»Wir gehen gleich nach Hause.« Ich schob Hi mit der Schulter den Weg entlang. »Ich wollte nur kurz bei meinem Vater vorbeischauen. Nochmals danke!«

Carl watschelte in Richtung von Gebäude 4 davon und murmelte etwas über die verdummte Jugend vor sich hin.

»Jetzt geht er erst mal zum Kantinenautomaten«, flüsterte Shelton. »Der muss schließlich auch bewacht werden.«

»Idiot.« Ben war bereits vorgegangen.

Das LIRI besteht aus einem Dutzend Glas- und Stahl-Bauten, die von einem zweieinhalb Meter hohen Maschendrahtzaun umgeben sind. Die ultramodernen Gebäude sind in zwei Reihen um einen zentralen Hof angeordnet. Es gibt nur zwei Eingänge: ein großes Haupttor, durch das man den einzigen Bootsanleger der Insel erreicht, und das kleinere Tor hinten. Alle festen Bauwerke auf Loggerhead befinden sich in dem Komplex.

Als wir den Hof überquerten, staunte ich wieder einmal darüber, wie hektisch es hier zuging. Ein Dutzend Wissenschaftler in weißem Kittel waren draußen. Manche eilten von einem Labor zum nächsten, während andere auf Bänken saßen und ihre Forschungsergebnisse besprachen, eine Kleinigkeit aßen oder einfach nur die Nachmittagssonne genossen.

Seit Kit den Direktorenposten übernommen hatte, galten im LIRI Tatkraft und Zielstrebigkeit wieder etwas. Das Personal hatte sich verdoppelt; und so wimmelte es dieser Tage überall auf dem Gelände von eifrigen Veterinären mit wichtigen Projekten. Da die Finanzmittel dauerhaft gesichert waren, gehörte das LIRI wieder zu den besten Einrichtungen, die die Tierwelt auf diesem Planeten erforschten.

»Müssen wir unbedingt rein?« Hi hielt sich die Hand über die Augen und spähte hinüber zu Gebäude 1. Mit vier Geschossen war es das größte und beherbergte die modernsten Labore und die Verwaltung. »Mein Dad richtet die Zentrifugen neu ein und er wird mich bestimmt nicht sehen wollen.«

Der Vater von Hi, Linus Stolowitski, war Cheflabortechniker und erst im vergangenen Monat von Kit befördert worden. Seit er die neue Stelle angetreten hatte, verstand Mr S. nicht mehr viel Spaß, wenn die Teenager von Morris Island sich an den Geräten zu schaffen machten.

»Du brauchst dich gar nicht zu beschweren«, sagte Shelton. »Meine Eltern arbeiten da beide.«

Nelson Devers, Sheltons Vater, war der Leiter der IT-Abteilung. Sein Büro lag im Erdgeschoss. Sheltons Mutter Lorelei arbeitete als Tierarzthelferin in Labor 1.

»Es geht doch ganz schnell«, erwiderte ich. »In letzter Zeit hat Kit so viel zu tun, dass ich ihn kaum noch zu Gesicht bekomme.«

Das stimmte. Seit Kit vor zwei Monaten zum Direktor ernannt worden war, hatte er praktisch ununterbrochen gearbeitet. Vorstandssitzungen. Personalversammlungen. Etatkonferenzen. Obwohl er unablässig schuftete, wirkte er dabei glücklich. Und das galt sogar für alle Angestellten am Institut.

Auf Loggerhead Island war Kit so etwas wie ein Gott.

Als die Mittel ausgingen und dem LIRI die Schließung drohte, war Kit großzügig eingesprungen. Das glaubten zumindest alle.

Niemand außer Kit wusste, wer das Institut in Wirklichkeit finanzierte. Dass die Jungen und ich nämlich den verschollenen Schatz der Piratin Anne Bonny entdeckt und dem LIRI gespendet hatten. Ausgerechnet diese lästigen Teenager hatten das Fortbestehen des LIRI gesichert.

Den Virals war das nur recht.

Je weniger man uns beachtete, desto besser.

»Warte hier.« Ich nahm Coop an die selten benutzte Leine und schlang sie um das Geländer am Eingang. »Wolfshunden ist der Zutritt leider verwehrt.«

Coop ließ sich auf den Bauch fallen, legte den Kopf auf die Pfoten und drückte seine Missbilligung deutlich mit dem Blick aus. Mit über 30 Kilo hatte er schon ein ordentliches Gewicht und war immer noch nicht ausgewachsen. Der Halbwolf sah durchaus furchterregend aus, solange er einem nicht das Gesicht ableckte. Bestimmt würde er den einen oder anderen, der vorbeikam, ordentlich erschrecken.

Was nicht so schlimm war. Das gab ihrem Tag ein bisschen Würze.

Wir traten durch die Türen des Hochsicherheitstraktes und gingen auf den Tresen des Pförtners zu. Die andere Hälfte der vordersten Verteidigungslinie des LIRI schob hier Dienst. Sam war das genaue Gegenteil von Carl, hager wie ein Skelett und vollständig kahl. Er war älter und unheilbar sarkastisch veranlagt, trotzdem kamen wir mit ihm meistens wesentlich besser aus.

»Schau an, die Vagabunden sind zurück.« Sam verzog die Lippen zu einem angedeuteten Lächeln. »Na, was habt ihr denn heute kaputt gemacht?« Er hielt keine Schießsport- oder Jagdzeitschrift in der Hand, was nur eins bedeuten konnte – sein neuer Chef war in der Nähe.

Als hätte er den Gedanken gelesen, brüllte jemand aus einem Büro hinter Sams Schreibtisch: »Was ist denn los?«

Sicherheitschef David Hudson kam nach vorn. Er war über vierzig und grau meliert, hatte die Haare kurz geschoren und einen Blick wie ein Raubvogel. Seine Uniform war ordentlich gebügelt, seine Schuhe und sein Namensschild glänzten.

Nach den jüngsten Ereignissen hatte Kit die Sicherheitseinrichtungen vom LIRI komplett überholen lassen. Neue Zäune. Neue Kameras. Neue Schlösser. Überarbeitete Dienstanweisungen. Bessere Ausrüstung. Dazu hatte er einen harten Knochen als Aufseher eingestellt, der auf alles ein Auge hatte. Hudson war noch keinen Monat an Bord, galt jedoch bereits als unpopulärste von Kits Neuerungen.

»Ich muss zu meinem Vater, Mr Hudson«, sagte ich höflich. »Nur kurz.«

»Warte.« Hudson nahm ein Klemmbrett vom Tresen. »Unterschrift, bitte.«

»Es dauert ja nicht lange«, sagte ich und gab mein Bestes, entwaffnend zu lächeln. »Ich will Ihre offiziellen Listen nicht mit meinem Kurzbesuch strapazieren.«

Fingertippen. »Unterschrift.«

Während meine Mundwinkel in ihrer hochgezogenen Position verharrten, kritzelte ich meinen Namen. »Reicht das?«

Hudson lächelte nicht. Lächelte nie. »Keine Abstecher.«

Wir nickten gehorsam und machten uns zu den Fahrstühlen auf.

»Halt!«

Bevor ich mich umdrehte, schloss ich kurz die Augen. »Ja?«

»Nur du.« Hudson musterte Hi, Shelton und Ben. »Es sei denn, diese Jungen haben ebenfalls etwas zu erledigen.«

»Nein.« Ben machte sich auf den Weg nach draußen.

»Mr Hudson«, setzte ich an, »wir wollen nur …«

»Schon okay, Tory.« Shelton trottete Ben hinterher und Hi folgte ihnen kopfschüttelnd. »Wir warten bei Coop.«

»Danke, Jungs. Bin in fünf Minuten zurück, spätestens.«

Ich machte mich zum Fahrstuhl auf, betrat ihn und drückte auf den Knopf für den dritten Stock.

»Keine Abstecher«, brüllte mir Hudson hinterher, als sich die Türen schlossen.

»Idiot«, murmelte ich, ehe mir einfiel, dass mich Hudson über seine Kameras beobachten konnte.

Der Fahrstuhl hielt im ersten Stock, wo zwei Männer in weißen Kitteln zustiegen. Den größeren der beiden kannte ich mit Namen.

»Hi, Anders.« Ich versuchte, nicht rot zu werden.

»Tory. Willst du zum Zauberer?«

Mit den hellgrünen Augen und den braunen Locken war Anders Sundberg einer der aussichtsreichsten Kandidaten für den bestaussehenden Angestellten des LIRI. Er war knapp über dreißig, hatte als Schwimmer an einer Olympiade teilgenommen und sah aus wie die durchtrainierte Ausgabe von Justin Timberlake. Mit anderen Worten: absolut knackig.

Anders war im vergangenen Sommer zu Kits Meeresbiologieteam gestoßen, als Experte für Meeresschildkröten. Seit Kits Beförderung hatte er die Abteilung provisorisch geleitet. Dass man ihn auswählte, hatte unter den Angestellten, die ihren Doktortitel schon viel länger hatten, für Aufregung gesorgt, doch unter dem Strich leistete der Mann bislang gute Arbeit.

»Ich nehme an, Sie meinen Kit«, antwortete ich. »Dann: ja.«

»Er sitzt doch hinter dem Vorhang und zieht die Strippen.« Anders grinste. »Der große und mächtige Dr. Howard!«

Der andere Mann sah aus, als wäre er ein Jahrzehnt älter als Anders. Er hatte schütteres schwarzes Haar, das er über seine Halbglatze kämmte, eng stehende Augen und eine Nase, die mehrere Zentimeter zu lang war. Während er darauf wartete, dass sich die Türen schlossen, tippte er ungeduldig mit dem Fuß.

»Dieser Spaßvogel ist Mike Iglehart.« Anders stieß seinen Begleiter mit dem Ellbogen an. »Darf ich vorstellen: Tory Brennan.«

»Freut mich, dich kennenzulernen«, sagte Iglehart höflich. »Macht ihr gerade einen Schulausflug auf die Insel oder so? Ich denke, du solltest lieber bei deiner Klasse bleiben.«

Damit hatte er das Interesse an mir verloren und wandte sich wieder Anders zu. »Ich brauche mehr Rechnerkapazität. Das Triton-Programm läuft im Augenblick nur auf halber Kraft. Wenn wir …«

»Sie ist die Tochter von Direktor Howard, Mike. Sicherlich wollten Sie nicht unhöflich sein.«

»Kits Kleine?« Iglehart sah mich zum ersten Mal an. »Das ist sicherlich spannend, dass dein Vater jetzt Direktor ist. Schade, ich hätte auch gern einen verschollenen Schatz gefunden.«

Mein Mund ging auf, aber mir fehlten die Worte. Was für ein Problem hatte der Kerl denn?

Der Fahrstuhl piepte bei der Ankunft im zweiten Stock. Iglehart stieg aus und drehte sich nicht noch einmal um.

»Nimm es ihm nicht übel.« Anders zwinkerte tatsächlich. »Mike hat ungefähr zur gleichen Zeit wie dein Vater beim LIRI angefangen und er ist nicht gerade die Karriereleiter hochgestolpert. Deswegen ist er neidisch.«

»Null problemo.« Ich wollte fröhlich wirken und spürte, wie ich mich unwillkürlich aufrichtete, weil mir Anders jetzt seine ungeteilte Aufmerksamkeit widmete. »Schönen Tag noch.«

»Ich werde jetzt einen drei Wochen alten Kadaver einer Schildkröte sezieren. Schöner kann der Tag gar nicht werden«, sagte Anders, als sich die Türen langsam schlossen.

»Schönen Tag noch«, wiederholte ich, als ich allein in der Kabine war. »Brennan, du bist eine Idiotin.«

Der Fahrstuhl fuhr weiter zum obersten Stockwerk. Ich stieg aus und befand mich in einem kleinen Vorraum, der zu einer zweiflügligen Mattglastür führte. Zum Direktorentrakt. Unter Karsten war das hier eine Geisterstadt gewesen. Da er jegliche Ablenkung verabscheute, hatten alle Büros außer seinem leer gestanden.

Bei Kit war das anders. Auf der Chefetage herrschte Leben. Jeder Arbeitsplatz war entweder besetzt oder für Gastforscher reserviert. Im Direktorentrakt hatte Kit die Verwaltungsangestellten versammelt. Finanzierung. Marketing. Öffentlichkeitsarbeit. Vermögensverwaltung.

Einmal hatte ich Kit gefragt, warum er sich so viel Betriebsamkeit in seinen Trakt holte. »Ist doch besser, die Bürohengste sitzen bei mir, als dass sie den Forschern das Leben schwermachen«, hatte er erklärt. »Und ich möchte diese Leute hier draußen auf Loggerhead haben, nicht in irgendwelchen hübschen Hochhäusern in der Stadt. Dann erinnern sie sich besser daran, was wir hier eigentlich machen.«

Hinter der Tür hatte ich mein letztes Hindernis erreicht: Cordelia Hoke.

Der Drache.

Unter Karsten hatte Hoke als einzige andere Angestellte im dritten Stock gearbeitet. Als Kit Unruhe in ihr einst privates Königreich brachte, war sie nicht begeistert gewesen, aber das versuchte sie sich nicht anmerken zu lassen. Was ihr allerdings für gewöhnlich misslang.

Hoke als Kits persönliche Sekretärin? Meiner Vermutung nach war er zu feige, sie zu entlassen.

Kit hatte versucht, Hokes stündliche Zigarettenpause zu unterbinden – schließlich war das LIRI seit eh und je eine rauchfreie Zone –, doch sogar ich wusste, dass sie sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit eine Zigarette reinzog. Immerhin hatte sie das Rauchen unter der neuen Leitung reduziert.

Der Nikotinentzug hatte sich nicht positiv auf die Laune des Drachen ausgewirkt. Ungnädig starrte sie mich über den Rand ihrer Gleitsichtbrille an.

»Kann ich dir irgendwie weiterhelfen, Tory?« Ihrem Ton nach hoffte sie, das Gegenteil wäre der Fall.

»Ich hätte gerne Kit kurz gesprochen.«

»Dein Vater ist sehr beschäftigt.« Hoke wuchtete ihren massigen Leib herum und fegte sich Kekskrümel von ihrem ausgeleierten Kaschmirpullover. Sie hatte für jeden Tag der Woche einen anderen. Heute war violett an der Reihe. »Er kann nicht jedes Mal angelaufen kommen, wenn du dir das Knie aufgeschürft hast.«

Grrrr.

»Ich würde ihn nur gern fragen, welche Pläne er für das Abendessen hat.«

Leere Miene. Keine Reaktion.

»Damit ich meine Pläne für das Abendessen machen kann.«

Nichts.

»Passen Sie auf, sagen Sie meinem Vater einfach, dass ich hier bin.«

Hokes Miene wurde düster. »Also, zu meiner Zeit war es nicht üblich, dass junge Menschen so mit Erwachsenen reden. Uns hat man noch Benimm beigebracht.«

Ich war kurz davor, ihre Meinung über meine Erziehung noch weiter zu verschlechtern, als sich das Rollo zu Kits Büro hob. Mein Vater stand, das Telefon am Ohr, auf der anderen Seite der Glaswand, und sein Gesicht drückte Langeweile aus. Der pechschwarze Anzug und die kastanienbraune Krawatte standen im krassen Gegensatz zu dem abgewetzten weißen Laborkittel, der bisher seine Arbeitskleidung dargestellt hatte.

Mit Gesten gab er mir zu verstehen: »Kann jetzt nicht reden, habe zu tun, kümmere dich bitte selbst ums Essen.« Ich nickte und winkte ihm zum Abschied zu.

Kit schüttelte bedauernd den Kopf und formte die Lippen zu einem »Tschuldige«.

Ich zeigte ihm einen erhobenen Daumen und lächelte, um mein Verständnis auszudrücken.

Hoke räusperte sich. »Sonst noch etwas?«

Ich war schon zur Tür unterwegs. »Nee.«