KAPITEL 14
Ich lehnte mich an einen von Boltons Granitlöwen.
Auf der anderen Seite des Hofes saßen Schüler auf den Holzbänken, die den Weg zum Eingang säumten. Es war ein sonniger Morgen mit milden 18 Grad.
Die Jungs saßen neben mir, tippten auf ihren Smartphones herum und suchten nach Berichten über die Explosion gestern Abend im Battery-Park.
Die Laufarbeit überließ ich ihnen. Ich wollte nur die Ergebnisse.
»Niemand wurde verletzt!« Hi war erleichtert, das war ihm anzusehen. »Aber der Hochzeitspavillon hat gebrannt wie ein Römisches Licht.«
»Glück gehabt.« Shelton schob sich die Brille zurecht. »Meistens wimmelt es dort von Leuten. Da ist immer viel los.«
»Es hätte also Opfer geben können«, sagte ich. »Und dem Spielleiter ist es offensichtlich egal.«
Ben runzelte die Stirn. »Weiß die Polizei schon, was dahintersteckt?«
»Es war eine Bombe.« Hi scrollte auf seinem iPhone nach unten. »Hier wird es als Terrorakt bezeichnet.«
Terrorismus. Super. Wir werden von einem Fanatiker erpresst.
»Und jetzt?« Hi sah auf die Uhr. Es dauerte nicht mehr lange bis zur ersten Klingel.
»Zur Polizei?«, schlug Shelton vor.
Ich schüttelte den Kopf. »Verstößt gegen die Regeln. Schon vergessen?«
»Was kümmert uns das?« Shelton schnaubte. »Hi hat den Battery Park in die Luft gejagt.«
»Versehentlich!«, protestierte Hi. »Woher sollte ich wissen, was passiert? Man sieht einen Button, also klickt man drauf. Das ist fast schon eine Art Naturgesetz.«
Dafür erntete er nur gleichgültige Blicke.
Hi tat unsere Zweifel mit einem Wink ab. »Der Spielleiter hätte die Bombe so oder so gezündet.«
An dem Punkt war ich seiner Meinung. »Die Bombe war als Warnung gedacht: Spielt mit oder es werden Menschen sterben.«
»Okay, keine Polizei«, entschied Ben. »Und wir reden mit niemandem über die Sache.«
»Vielleicht nicht.« Darüber hatte ich nachgedacht. »Vielleicht doch.«
»Die Regeln waren eindeutig«, hielt Ben dagegen.
»Wir dürfen nicht zu den Bullen gehen, jemandem den Hinweis zeigen oder mit irgendwem über das Spiel reden.« Ich zählte an den Fingern ab, während ich die Punkte auflistete. »Deshalb müssen wir uns nicht gleich an der Nase herumführen lassen.«
Shelton seufzte. »Und das heißt?«
»Wir drehen den Spieß um.« Ich deutete auf meinen Rucksack, in dem sich das iPad des Spielleiters und die sonstigen Überreste des zweiten Cache befanden.
Gestern hatte ich beim Anblick der Rauchsäule eine Entscheidung getroffen. Wir mussten uns wehren und einen Zug machen, den unser Gegner nicht erwartete. Wir brauchten belastbare Beweise.
Schnell war ich noch einmal in das Innere von Castle Pinckney zurückgekehrt. Die Jungs waren zu langsam gewesen, um mich aufzuhalten. Das Risiko hatte sich gelohnt – ich hatte den versengten Behälter geholt und war unversehrt wieder draußen angekommen. Ihr Schimpfen hatte ich mit einem Lächeln an mir abprallen lassen.
»Den Regeln zufolge dürfen wir mit niemandem über« – ich machte Anführungszeichen in die Luft – »das Spiel reden, aber das schließt den Spielleiter selbst nicht mit ein. Wir benutzen alles, was er uns gegeben hat, um ihn aufzuspüren.«
»Und wie das?« Bens Miene war undurchdringlich. »Wir haben eine Rätselkiste, einen zweiseitigen Brief und einen explodierten Cache.«
»Nicht zu vergessen, das iPad.« Ich holte es aus meinem Rucksack. »Im Augenblick zeigt es nur den Hinweis, der letzte Nacht gekommen ist, aber vielleicht könnten wir mehr herausholen.«
Um null Uhr heute Nacht war plötzlich ein neues Bild auf dem Bildschirm aufgetaucht. Eine Stunde lang hatte ich versucht, mir einen Reim darauf zu machen, ehe ich aufgab, mit dem Handy ein Foto schoss und es den Jungs sendete. Aber auch am helllichten Tag blieben Inspirationen aus.
»Das Bild ist völlig unverständlich.« Hi betrachtete das Display skeptisch. »Ich habe es mir den ganzen Morgen angesehen und ich finde immer noch keinen Sinn darin. Das lösen wir garantiert nicht rechtzeitig.«
Hi hatte recht. Ich hatte noch nicht einmal eine Vermutung.
Das Bild war auf trügerische Weise schlicht – die Nummer 18 wurde von einer langen Reihe Zahlen und Buchstaben kreisförmig eingeschlossen: CH3OHHBRCH3BRH2O. Beides stand auf einem schwarzen Kreis, der wiederum von einem größeren blauen eingefasst war. Ein großes K krönte das Ganze.
Unter dem Bild zählte eine digitale Stoppuhr abwärts, momentan von vierundsechzig Stunden in Richtung null.
Shelton schauderte. »Ich möchte gar nicht daran denken, was passiert, wenn die Zeit abgelaufen ist.«
»Ich auch nicht«, sagte ich und schob das iPad zurück in den Rucksack. »Und deshalb müssen wir den Spielleiter vorher finden. Wir können das Rätsel lösen und ihn gleichzeitig erwischen.«
»Klingt fantastisch«, meinte Hi trocken. »Bleibt nur das kleine Problem: wie?«
»Wir analysieren einfach alles. Jeden Fitzel Material, den wir haben. Und hoffen, dass der Spielleiter einen Fehler gemacht hat.«
Es klingelte zum ersten Mal. Die Schüler strömten ins Gebäude.
»Sollen wir?« Mit den Jungs im Schlepptau, ging ich zum Eingang.
Mitschüler umringten mich, als wir uns durch den Eingang schoben. Ohne Vorwarnung fand ich mich plötzlich neben Madison wieder.
Erschrocken nickte ich ihr zu und lächelte, als sei es das Natürlichste der Welt, sie zu grüßen.
Madison riss die Augen auf. Sie wich vor mir zurück, und ihr Schmuck klimperte, als sie mit den Leuten hinter ihr zusammenstieß. Dann senkte sie den Kopf und drängelte sich mit uncooler Hast durch die Masse. Sie warf noch einen nervösen Blick nach hinten, ehe ihr brünetter Lockenkopf im Strom der einheitlichen Schuluniformen verschwand.
Ich verkniff mir ein Seufzen. Vielleicht war es so besser.
»Die Demütigung hat sie noch immer nicht verwunden«, sagte eine Stimme hinter mir.
Diesmal entfuhr mir das Seufzen. »Hi, Jason.«
In der Eingangshalle wandte ich mich nach links. Jason wollte mich einholen und stieß dabei mit Ben zusammen, der sich den gleichen Platz ausgesucht hatte.
Die Jungen starrten sich an wie Straßenköter, die ihr Revier markieren. Shelton und Hi schoben sich an uns vorbei, weil sie entweder nichts bemerkt hatten oder sich der peinlichen Situation entziehen wollten.
»Pass doch auf, wo du hintrittst«, fauchte Ben.
»Mach ich doch«, entgegnete Jason trocken. »Ich wollte kurz mit Tory reden.«
Ben schnaubte. »Na, besser kann der Tag für sie nicht anfangen.«
Jason war verunsichert und sah mich an.
»Genug, ihr beiden.« Was hatten die bloß? Die waren ja wie Hund und Katze. »Jason, ich brauche noch was aus meinem Schließfach. Reden wir später?«
»Klar, Tory. Ich dachte nur, du würdest es sofort wissen wollen.«
Das machte mich neugierig. »Was?«
»Dass Chance diese Woche wieder zur Schule kommt«, sagte Jason. »Vermutlich morgen.«
»Oh.« Oh, Gott. »Danke.«
»Gern geschehen. Bis später.«
Jason rückte seine Krawatte zurecht, dann drehte er sich um und streckte die Hände aus, als wollte er auch Bens Krawatte richten. Ben zuckte zusammen, wurde rot und starrte ihn böse an.
Jason grinste, ignorierte Bens eisigen Blick und ging weiter.
Meine Füße bewegten sich vorwärts, doch meine Gedanken schweiften ab. Chance. Morgen wieder in der Schule. Ich brauchte einen Plan.
Ben ging neben mir und gegen seine Miene hätte eine Gewitterwolke strahlend gewirkt. Dass er zusammengezuckt war, setzte ihm zu. Diese Runde ging an Jason. Dumme Gockel.
Shelton und Hi warteten vor der Klasse.
»Alles cool?«, fragte Hi und sah Ben an.
»Bestens«, sagte ich. »Aber nach der Schule müssen wir einen Abstecher machen.«
Bens Kopf fuhr zu mir herum. »Das meinst du nicht ernst.«
Shelton runzelte die Stirn. »Was meint sie nicht ernst?«
»Zur Residenz der Claybournes.« Ich beachtete ihre Proteste nicht. »Ist längst überfällig, dass wir unsere Schulden begleichen.«
»Dann müssen wir zuerst zur Bank.« Hi ließ den Kopf hängen. »Und unser Depot plündern.«
»Es ist sein Anteil, Jungs. Ohne ihn hätten wir es nie geschafft. Und außerdem hat Chance letzten Sommer einfach zu viel mitbekommen. Wir müssen ihn aushorchen und herausfinden, an wie viel er sich erinnert.«
Niemand widersprach. Darüber hatten wir schon oft genug diskutiert.
»Wer weiß«, sagte ich optimistisch, »vielleicht kann er uns ja helfen, den Spielleiter zu identifizieren.«
Die drei sahen mich ungläubig an.
»Nicht direkt. Aber wir müssen den Cache kriminaltechnisch untersuchen lassen. Chance hat Beziehungen. Vielleicht hilft er uns.«
Zu behaupten, den Jungen mangelte es an Begeisterung, wäre eine glatte Untertreibung.
»Du meinst, er hilft, uns wieder abzuzocken?«, fauchte Shelton.
»Hast du dir den Kopf gestoßen?«, fragte Hi.
»Blöd, blöder, Claybourne.« Ben schüttelte langsam den Kopf.
»Und wenn schon«, zickte ich zurück. »Wir gehen zu ihm, also benehmt euch nicht wie Weiber.«
Es klingelte zum zweiten Mal.
Wir marschierten in die Klasse zu unseren Tischen. Ich vergrub mich hinter meinem Mathebuch und hoffte nur, niemand würde meine Unsicherheit bemerken.
Beim letzten Mal war ich der Claybourne’schen Villa nur um Haaresbreite lebend entkommen.
Beging ich da vielleicht einen Riesenfehler?