KAPITEL 43

Ich musste mich allein mit den Virals treffen. Sofort!

Aber Jason saß mit an unserem Tisch und schaufelte Vorspeisen in sich hinein, als würde er verhungern.

Da wir keine Zeit für große Ausflüchte hatten, ging ich die Sache direkt an.

»Könntest du uns vielleicht eine Sekunde allein lassen, Jase?« Mein Lächeln fühlte sich eher wie eine Grimasse an. »Ich brauche einen kurzen Moment mit den Jungs von Morris Island.«

»Na, klar.« Jason sah mich komisch an, hakte jedoch nicht nach. »Ich wollte sowieso eine Runde drehen und ein paar Leuten guten Tag sagen. Bin gleich wieder da.«

»Besten Dank.« Sobald Jason außer Hörweite war, zischte ich: »Die Bombe ist definitiv hier!«

»Sicher?« Hi hielt sich krampfhaft an seinem Gehstock fest. »Woher willst du das wissen?«

Ich zeigte zu der Verzierung über der Tür.

»Oh.« Shelton erstarrte. »Scheiße.«

»Das ist der Sonnenaufgang«, stimmte Hi entsetzt zu.

Ben schüttelte langsam den Kopf. »Ich glaub’s nicht.«

»Glaube es. Die Bombe ist irgendwo in diesem Gebäude versteckt.«

»Wie finden wir sie?« Shelton suchte nervös den Raum ab. »Wir haben weder neue Hinweise noch eine Vermutung!«

Ich zeigte auf Hi un schnippte mit den Fingern. »Die Notizen?«

Er zog die zerknitterten Blätter aus der Jackentasche. »Wir sind sie tausendmal durchgegangen und haben nichts entdeckt.«

Wir drängten uns zusammen, während Hi meine Liste vorlas. Orte, die wir aufgesucht hatten. Fakten, die wir wussten. Hürden, die wir bereits genommen hatten.

Hier befand sich laut der letzten Nachricht des Spielleiters die Antwort, irgendwo in diesem Gewirr von Informationen.

Aber wie zuvor passte alles nicht zusammen.

»Neuer Plan.« Ben zog sein Jackett aus und hängte es über einen Stuhl. »Wir durchsuchen das Gebäude von oben bis unten. Jeder nimmt sich einen Bereich vor.«

»Ja. Gut!« Irgendetwas zu tun, war immer noch besser, als einfach nur herumzusitzen.

Gerade wollte ich etwas hinzufügen, als sich Kit und Whitney zu uns gesellten.

»Tory, Liebes«, gurrte Whitney, »komm doch mal mit zu den Frauen vom Komitee. Dein Vater hat sie auch schon bezaubert.«

Kit errötete. »Wohl kaum. Meistens sind die Leute enttäuscht, wenn sie mich kennenlernen. Ich bin nicht gerade der Indiana Jones, den sie sich vorstellen.«

»Hach.« Whitney wedelte mit der Hand. »Diese Bescheidenheit.«

»Ich würde sie ja gern kennenlernen«, begann ich, »aber ich wollte gerade mit den Jungs …«

»Diese Frauen haben es für dich möglich gemacht.« Whitneys Ton wurde eine Winzigkeit strenger. »Wir müssen uns bei ihnen bedanken.«

Ich wollte gerade widersprechen, denn was war im Augenblick unwichtiger, als sich zu bedanken, da mischte sich Hi ein. »Geh doch ruhig. Wir können uns so lange schon das Buffet anschauen.« Dazu flüsterte er: »Wir haben deine Notizen. Geh. Und schleich dich davon, sobald du kannst.«

Widerwillig folgte ich Kit und Whitney in den Elternsalon, um Hände zu schütteln und leere Floskeln zu tauschen. Wertvolle Zeit ging verloren. Da ich viel zu abgelenkt war, antwortete ich auf Fragen wie ein dressierter Papagei.

Meine Nervosität wuchs mit jeder Minute.

Das war so ein Irrsinn. Alle schwebten in Todesgefahr und nur ich wusste es.

War das fair? Sollte ich vielleicht die Menschen warnen? Alarm schlagen? Und eine Durchsuchung der Räumlichkeiten verlangen?

Brecht ihr eine Regel … werden Unschuldige sterben.

Die Warnung des Spielleiters. Ich wusste, er bluffte nicht.

Einmal hatte er bereits getötet. Und ich hatte null Zweifel, dass er es wieder tun würde. Und er schien seine Augen überall zu haben.

Der Spielleiter könnte sogar jetzt hier im Raum sein.

Wir mussten das Spiel gewinnen und uns an die Regeln halten. Aber wie?

Bald verlor ich die Geduld. Ich musste den anderen Virals helfen.

Als mir Kit und Whitney den Rücken zukehrten, huschte ich zurück in den Ballsaal. Da ich die Jungs nicht entdeckte, lief ich über den Laufsteg zum Eingang.

Draußen auf dem Treppenabsatz blieb ich unentschlossen stehen.

Ich spürte einen Blick im Rücken und fuhr herum. Chance stand ein paar Schritte hinter mir.

»Willst du die Fliege machen?«, fragte er leise.

»Was? Nein.« Warum verfolgte mich Chance?

»Ich würde es verstehen. Es könnte eine wilde Nacht werden.«

Irgendwie lief es mir bei seinem schiefen Lächeln kalt den Rücken hinunter.

Ich sah zurück zum Ballsaal und entdeckte Shelton an unserem Tisch. Unsere Blicke trafen sich. Er zeigte nach rechts und verschwand durch eine Seitentür in einen Gang.

»Ich muss los.«

Ich hastete in den Saal zurück. Am Tisch der sechsbeinigen Tussi wurde gekichert, als ich vorbeiging. Ich beachtete sie nicht und schlich Shelton hinterher hinaus auf den Gang.

Hoffentlich hatte er gute Neuigkeiten.

Shelton zerstörte alle Hoffnungen mit dem ersten Wort.

»Nix.« Vor Nervosität knackte er mit den Knöcheln. »Hi hat die Räume in diesem Geschoss überprüft und ich in dem darüber. War nicht schwer, denn die Türen sind nicht verschlossen.«

»Wo ist Ben?«

»Hier.« Ben kam durch den Gang auf uns zu. »Ich habe die Eingangshalle und das Erdgeschoss durchsucht. Nichts Außergewöhnliches und keine Hinweise.«

»Die Bombe könnte irgendwo in einem Rohr oder einem Schacht stecken«, sagte ich. »Oder in der Deckenvertäfelung.«

»Möglich.« Hi wirkte nicht besonders überzeugt.

»Spuck es schon aus …« Nachdem Hi den Hut abgenommen hatte, fiel ihm das braune Haar wild in die Stirn. »Die bisherigen Caches waren stets so platziert, dass man sie finden konnte. Die Hinweise wiesen direkt zu ihnen. Weshalb sollte es dann beim Finale anders sein? Für mich passt es nicht zum Stil des Spielleiters, etwas dort zu verstecken, wo wir es unter gar keinen Umständen finden können.«

Hi hatte recht. Der Spielleiter hatte es selbst gesagt. Wir hielten den Fingerzeig zum Ort der Gefahr in der Hand. Ich dachte hektisch nach. Was hatten wir übersehen?

In Gedanken versunken, bemerkte ich nicht, wie Jason den Kopf in den Gang streckte.

»Hallo, Team!« Er kam auf uns zu und legte mir lässig den Arm um die Schultern. »Bereit, es der High Society von Charleston zu zeigen?«

Ehe ich reagieren konnte, hatte Ben Jason schon weggeschoben. »Verpiss dich, du Pfeife! Wir haben Wichtigeres zu tun als diesen blöden Ball!«

Jason baute sich dicht vor Ben auf. »Wir haben eine Abmachung, Blue. Du möchtest doch nicht, dass ich dich vor deinen Freunden lächerlich mache.«

»Hört sofort auf, beide! Ich kann im Moment keine Idioten gebrauchen. Nicht jetzt.«

Schlimmer konnte es eigentlich nicht werden. Und doch war eine Steigerung immer möglich.

Whitney schwebte heran wie eine ferngesteuerte Aufklärungsdrohne.

»Da bist du ja!« Ihr bemaltes Gesicht drückte Verärgerung aus. »Wenn du dich das nächste Mal wegschleichst, sag es mir bitte. Wir sollten uns längst aufgestellt haben.«

Ich schüttelte den Kopf und begriff nicht.

»Es ist so weit, Kleine.« Kit rückte seine Fliege zurecht. »Zeigen wir es ihnen.«

»Jetzt?« Ich war ganz und gar nicht bereit.

»Natürlich jetzt!« Whitney tippte auf ihre Diamantarmbanduhr. »Showtime!«

»Aber … ich …«

Ein Mikrofonfeedback kreischte aus den Lautsprechern. Eine Frauenstimme hieß die Anwesenden willkommen zu einem »einmaligen Ereignis im Leben«.

Es war tatsächlich so weit. Ich erstarrte wie ein Reh, das einen Kojoten wittert.

»Wir sind nicht an unserem Platz!« Whitney spähte durch die Tür und klang entsetzt. »Alle sitzen schon!«

»Hier entlang geht es zur Treppe«, sagte Kit. »Wir brauchen uns gar nicht durch den Saal zu drängeln.«

»Dann los!« Whitney schob mich mit beiden Händen den Korridor entlang und um die Ecke zur Haupttreppe.

Die anderen Debütantinnen hatten sich bereits aufgestellt wie eine Prozession von Schwänen und wurden von Vätern und Eskorten flankiert. Schnatternd und kichernd, standen sie nervös auf der ganzen Treppe bis hinunter in die Eingangshalle.

Ein dicker Vorhang war vor die Tür gezogen worden und versperrte den Blick in den Ballsaal. Vorn entdeckte ich Ashley. Madison und Courtney befanden sich weiter hinten in der Reihe.

Eine Frau, die Hektik ausstrahlte, erblickte mich und winkte meine Gruppe nach vorn zur Spitze der Schlange. Drinnen legte die Rednerin eine Pause ein, weil applaudiert wurde.

»Vergiss mir nur nichts.« Whitney zupfte an mir herum, klebte ausgerissene Haare mit Spucke fest und wischte Flecken weg. »Du gehst in gemessenem Schritt den Laufsteg entlang, dann drehst du dich um und knickst. Anschließend kommt dein Vater zu dir und begleitet dich ans Ende des Laufstegs zurück.«

Wie ein Showpony. Dann drangen die Worte in meinen Kopf vor.

»Knicks? Kannst du das noch einmal sagen?«

Whitneys Augenbrauen flogen in die Höhe. »Sie haben dir beim Cotillion doch die Saint-James-Verbeugung beigebracht? Nicht, dass du hier einen Texas Dip vorführst. Solche übertriebenen Knickse sind bei uns nicht üblich!«

»Saint James …? Wer? Was?« Panik erfasste mich.

Whitney drehte sich mit Schrecken in den Augen zu Jason um. Hinter mir hörte ich Ashley kichern.

»Das ist nicht drangekommen«, antwortete Jason bestürzt. »Die haben wohl gedacht, wir würden sie kennen. Jeder kennt die Saint-James-Verbeugung.«

Whitney kniff die Augen zu.

Hinter dem Vorhang kam Unruhe auf, während die nächste Frau ans Mikrofon trat.

»Leute!« Hi hatte durch den Vorhang gespäht. »Botox-Lady ist oben. Ich glaube, du bist gleich dran.«

Shelton wippte auf den Fußballen vor und zurück. Ben sah mich hilflos an.

Ich wusste, in diesem Gebäude befand sich eine Bombe. Ich wusste, angesichts der Gefahr war der Ball absolut nebensächlich. Aber im Moment hatte ich mehr Angst davor, mich öffentlich zum Narren zu machen, als vor allen Hinterhältigkeiten des Spielleiters.

Whitney riss die Augen auf.

Sie packte mich an der Schulter. »Pass auf!« Dann trat sie zurück, holte tief Luft und setzte ein strahlendes Lächeln auf. »So.«

Demütig senkte sie das Kinn, beugte die Knie, setzte einen Fuß hinter den anderen und fächerte einen eingebildeten Rock mit einer Hand auf. Anmutig senkte sie den Kopf, hielt einen Moment inne und erhob sich wieder. Das Lächeln in ihrem Gesicht wankte nicht eine Sekunde lang.

Eine ziemliche Leistung in dem engen Kleid. Die Marshals grinsten bewundernd.

»Kapiert?«, zischte Whitney und rang die Hände.

»Kannst du es mir noch einmal zeigen?«

Wieder Applaus aus dem Saal. Dann hörte man das Scharren von Stühlen.

»Keine Zeit.« Whitney deutete mit dem Kopf auf Ben und Jason. »Welcher Marshal eskortiert dich?«

»Was?« Langsam wurde es mir zu viel.

Whitney musste sich arg zusammenreißen, damit sie nicht schrie. »Einer muss deine Hand von Kit in Empfang nehmen und dich aus dem Saal führen. Welcher? Von den beiden?«

»Ich weiß nicht … ich habe nicht …«

Mein Blutdruck erreichte seinen absoluten Rekordstand. Ich schwankte. An den Rändern meines Sichtfelds flimmerten Punkte.

Ben trat vor und packte mich am Ellbogen. »Jason eskortiert sie.«

Ich bekam kein Wort heraus und dankte ihm mit einem Blick.

»Du machst das schon«, flüsterte Ben und tätschelte meine Hand. »Stell sie dir nur einfach alle in Unterwäsche vor.« Ich prustete wenig damenhaft.

Ben wandte sich an Jason. »Du weißt, wie es läuft. Mach’s gut.«

Jason nickte und stellte sich zu mir.

Ich wagte einen Blick auf die Schwanenseeparade hinter mir. Ashley schenkte mir ihr boshaftes Raubtierlächeln, was mir verriet, warum sie mich als Erste hatte gehen lassen. Sie hoffte inständig, ich würde mich bis auf die Knochen blamieren.

Durch diese Erkenntnis erlangte ich seltsamerweise die Fassung zurück.

»Hingehen, umdrehen, knicksen, auf Kit warten.« Ich richtete mich auf, als sich der Vorhang teilte. »Hin, zurück und dann kommt mir Jason entgegen und führt mich hinaus. Ja?«

»Ja!« Whitney zerdrückte mich fast mit ihrer Umarmung. »Du wirst wundervoll sein.«

Eine dritte Frauenstimme dröhnte aus den Lautsprechern.

Ich straffte die Schultern und stellte mich zweimal auf die Zehenspitzen.

»Na, dann los.«

Ich ergriff Whitneys Hand und drückte sie kurz.

Als ich den Saal betrat, kribbelte es mich am ganzen Körper.