KAPITEL 5

Ich fühlte, dass es Ärger geben würde, als ich den Schlüssel umdrehte.

Coop schoss durch die Tür und jagte die Treppe hinauf, wo er vor unserem kleinen Wohnzimmer stehen blieb. Mit erhobenem Schwanz.

Nur eins konnte diese Reaktion bei meinem Wolfshund hervorrufen. Kits Freundin.

Mist.

Ich trottete die Stufen hinauf und sah Whitney Dubois, wie sie sich auf dem einen Ende meiner Couch zusammenkauerte und Coop beäugte wie einen hereinstürmenden Axtmörder.

Die von getuschten Wimpern eingerahmten Augen richteten sich auf mich. »Tory, halt diese Bestie fest!«

»Immer mit der Ruhe.« Ich schnalzte mit der Zunge. Coop blickte zu mir auf, trabte zu seinem Ruheplatz, drehte sich dreimal im Kreis und setzte sich. »Er ist nur überrascht, weil du hier bist. In unserem Haus. Ganz allein. Ohne Ankündigung.«

»Ich bin hier, weil ich dir etwas zu essen machen wollte.« Ihre manikürten Hände strichen das blondierte Haar zurück. »Gott weiß, was du in letzter Zeit bekommen hast. Dein Vater verbringt viel zu viel Zeit bei der Arbeit. Sogar am Wochenende!«

»Kit ist der Direktor«, sagte ich trocken. »Das ist eine anspruchsvolle Stellung.«

»Aber er ist der Boss.« Whitneys Nase kräuselte sich, während ihre tiefblauen Augen Unverständnis ausdrückten. »Kann er nicht einfach gehen, wann er will?«

»So läuft das nicht.« Ich unterdrückte ein Seufzen. »Um das LIRI wieder auf die Beine zu bringen, hat Kit tausend Kleinigkeiten zu erledigen. Er hat den Vorsitz bei den Vorstandssitzungen, er managt die Erweiterung und muss auch noch das Alltagsgeschäft leiten. Außerdem hat er Aufgaben bei der Stiftung. Das ist eben ein Haufen Arbeit.«

»Er sollte mehr delegieren.« Whitney sprach mit der Überzeugung von jemandem, der keine Ahnung hat, wovon er redet.

»Das geht nicht.« Diesmal schlüpfte der Seufzer hinaus. »Kit wird viel arbeiten müssen, bis das LIRI aus dem Gröbsten raus ist. Das dauert nicht nur Wochen, sondern Monate.«

Kit hatte mit mir darüber gesprochen, ehe er die Stelle angetreten hatte. Und zwar ausführlich. Ich hatte zugestimmt – denn wenn Kit Direktor am LIRI wurde, brauchte niemand umzuziehen. Es sicherte auch den Eltern meiner besten Freunde die Jobs. Damit alle in Charleston blieben, hätte ich weitaus Schlimmeres akzeptiert als einen Vater, der schrecklich viel arbeiten muss. Schließlich musste ich mein Rudel schützen.

Offensichtlich hatte Kit ein solches Gespräch leider nicht mit Whitney geführt.

»Er sollte mehr Zeit mit seiner Familie verbringen«, brachte sie entschlossen hervor.

Das wäre dann ich, nicht du.

»Wie auch immer.« Meine Aufmerksamkeit wurde von etwas anderem angezogen.

Sofakissen bedeckten die Couch, auf der Whitney mit einem halb verspeisten Pfirsich saß. Limonengrün mit rosa Stickereien.

Neue Kissen. Mit Rüschen. Eindeutig nicht von Kit gekauft.

Ich suchte das Zimmer ab und bemerkte weitere beunruhigende Veränderungen.

Auf dem Bücherregal stand eine schwarz-weiße Porzellanvase. Und auf dem Sims war das Bild von Kits Bowlingmannschaft gegen ein gerahmtes Foto von Kit und Whitney in identischen blauen Sweatshirts am Strand getauscht worden.

Weitere kleine Veränderungen hatten im Wohnzimmer stattgefunden. Ein kleiner Benjamini. Keramikbuchstützen. Ein Zeitungshalter aus Korb.

Was zum Teufel ging hier vor?

Kit und ich wohnten in einem Stadthaus auf Morris, einer zehn Quadratkilometer großen Insel, die den Südteil der Hafeneinfahrt von Charleston bildete. Es ist ein schmales Häuschen mit vier Stockwerken, das sich eher in die Höhe als in die Breite ausdehnt. Das unterste Geschoss nehmen ein Büro und eine Garage ein. Küche, Esszimmer und Wohnzimmer liegen im Stock darüber, während das nächste Geschoss die Schlafzimmer beherbergt. Bei meiner Ankunft ist Kit in das hintere gezogen und hat mir das größere vorn überlassen, von dem aus man auf den Ozean hinaussehen kann.

Im obersten Stockwerk befindet sich Kits Höhle, wie ich seine beeindruckende Mediathek nenne, an die eine geräumige Dachterrasse mit fantastischem Blick auf den Atlantik anschließt. Die gesamte Einrichtung stammt von Pottery Barn oder Ikea. Alles in allem ist es ein schönes Haus, solange man sich nicht an den vielen Treppen stört.

Unsere Nachbarschaft besteht aus zehn identischen Häusern, die in ein Betonbauwerk gesetzt wurden, das früher Fort Wagner hieß – ein Überbleibsel aus den Tagen des Bürgerkriegs. Die Siedlung ist so klein, dass die meisten Bewohner von Charleston glauben, Morris sei unbewohnt.

Andere moderne Gebäude gibt es nicht. Die einzige Straße, ein schmales Asphaltband, windet sich durch die Dünen und führt dann hinüber nach Folly Island. Unsere Verbindung zur Zivilisation.

Die Loggerhead Stiftung hat kürzlich das gesamte Land gekauft und die Wohneinheiten an Wissenschaftler vermietet, die auf Loggerhead arbeiten. Die Stolowitskis wohnen in einem, auch die Blues und die Devers. Meine Clique bildet sozusagen die isolierteste Gruppe Teenager auf diesem Planeten.

Wegen der Abgeschiedenheit von Morris gibt es eigentlich kaum Besucher. Und doch lungerte da Whitney auf meinem Sofa herum und benahm sich, als wäre sie hier eingezogen.

Und betätigte sich als Innenarchitektin.

Wut stieg in mir auf. Die Königin des Wasserstoffperoxyds hatte den Bogen überspannt – sie hatte kein Recht, mein Zuhause umzugestalten, ohne mich zu fragen. Schließlich wohnte sie nicht hier. Und sie war nicht meine Mutter.

Hoppla. Da war es. Als die emotionale Woge über mir zusammenschlug, musste ich gegen die Tränen ankämpfen.

Vorgeschichte: Ich lebe erst seit neun Monaten bei Kit, seit meine Mutter durch einen betrunkenen Autofahrer ums Leben gekommen ist. Der Schmerz über den Verlust lauert dicht unter der Oberfläche. Und bleibt dort. Meistens. Bis es mich aus dem Hinterhalt erwischt.

Zum Beispiel durch ungenehmigte Sofakissen auf meiner Couch.

Kit hatte ich erst eine Woche nach dem Unfall kennengelernt. Unser Start war nicht gerade der beste gewesen, aber wir hatten uns schließlich zusammengerauft. Also jedenfalls, wenn nicht gerade auf mich geschossen wurde oder wenn man mich verhaftete.

Kit hatte einmal gesagt, ich würde ihm Angst machen. Er meinte es positiv. Glaube ich. Doch, bin mir sicher.

Obwohl wir noch Lichtjahre von einer normalen Vater-Tochter-Beziehung entfernt waren, betrachteten wir uns auch nicht mehr als Fremde. Es gab Fortschritte. Winzige Fortschritte.

Na, als ob ich wüsste, wie eine normale Beziehung zwischen Vater und Tochter aussieht.

Aber eins war von vornherein klar. Was Whitney betraf, waren wir gegensätzlicher Meinung.

Ich fand die Frau geistlos, taktlos, übermäßig neugierig und anmaßend. Kit fand sie absolut bezaubernd. Da soll mal einer schlau draus werden. Fazit: Ich musste mit ihrer Anwesenheit klarkommen.

Bislang war mir das tatsächlich gelungen. Gerade so eben. Aber jetzt ging es wieder los.

Rede später mit Kit darüber. Jetzt zu streiten, hat keinen Sinn.

Eine Bewegung am Rande meines Sichtfeldes lenkte mich ab. Coop witterte Futter und hatte sich an die Kante des Couchtisches geschlichen.

Whitney bemerkte es ebenfalls. »Zurück! Zurück!« Sie schlug mit einer Stoffserviette nach ihm. »Weg, du Bastard!«

Sie schlug Coop auf die Schnauze, während sie sich gleichzeitig tiefer in die Couch drückte. Coop starrte sie aus eisblauen Augen an, ohne zu blinzeln. Das graubraune Rückenfell sträubte sich.

»Tory!«, quietschte Whitney. »Er will mich beißen!«

» Vielleicht.« Ich ging in die Küche und holte mir eine Diät-Cola aus dem Kühlschrank. » Versuch deine Kehle zu schützen.«

»Tory!!!«

»Ach, immer mit der Ruhe.« Ich genoss ja Whitneys Unbehagen durchaus, aber Kit wäre sicherlich nicht so begeistert. »Coop, bei Fuß!«

Der Wolfshund trabte zu mir und setzte sich. Ich konnte es ja nicht wissen, aber ich hätte schwören mögen, dass er mit sich zufrieden war.

Whitney strich sich die Kleidung glatt, verdrehte die Augen gen Himmel, stand auf und ging ins Esszimmer.

»Es gibt Essen.« Sie stellte Teller auf den Tisch. »Ich habe Seewolfsandwichs mitgebracht, nach Cajun-Art. Mit Schwarzaugenbohnen.«

Eins muss man Whitney ja lassen: Sie kennt sich mit Essen aus. Wenn ich mit solchen Köstlichkeiten bestochen wurde, konnte ich ihre Anwesenheit meistens tolerieren.

Ich hatte mein Sandwich fast aufgegessen, als sie erneut alles verdarb.

»Ich habe heute mit dem Komitee gesprochen.« Anmutig wischte sie sich glänzenden roten Lippenstift von den Zähnen. »Es ist nicht mehr so leicht möglich, dass man dich in den nächsten Jahrgang zurückstuft. Die Einladungen sind bereits gedruckt und die Zeitung hat schon eine offizielle Liste bekommen. Du wirst also schon in diesem Jahr dein Debüt haben.«

Ich ließ den Kopf sinken. »Was? Ich bin doch erst vierzehn! Dann bin ich mit fast zwei Jahren Abstand die jüngste Debütantin!«

Obwohl ich mir nichts sehnlicher wünschte, als genau darum herumzukommen, wurde ich gedrängt, an der großartigen Tradition des Südens, dem Debütantenball, teilzunehmen. Das war Whitneys Projekt, allerdings wurde sie dabei von Kit unterstützt. Irgendein Unsinn über die Notwendigkeit, »dem Benehmen einen Schliff zu geben«, und über etwas mehr »Mädchenzeit«. Was konnte denn ich dafür, dass es auf Morris Island keine anderen Teenager mit XX-Chromosomenpaar gab?

Während der letzten sechs Monate hatte ich etliche Cotillion-Tanzstunden absolviert und nicht nur viele Figuren dieses ultraaltmodischen Tanzes gelernt, sondern auch wichtige Fähigkeiten des gesellschaftlichen Umgangs erworben, zum Beispiel gerade zu stehen, sein Besteck richtig zu benutzen und die Regeln draufzuhaben, die galten, wenn man zu einem Teekränzchen einlud. Dieses aufgesetzte Getue widerstrebte mir, aber es gab kein Entrinnen. Whitney war entschlossen, eine wohlerzogene junge Lady aus mir zu machen.

Okay, so schlimm war es auch nicht. Ich fand ein paar Freunde und fühlte mich an der elitären Bolton Prep ein wenig wohler. Es war auch ganz lustig, sich schick zu machen. Außerdem setzte sich der Verein auch für wohltätige Zwecke ein, und wir verbrachten viel Zeit damit, ehrenamtliche Arbeit für die Gemeinde zu leisten.

Aber dem Alter nach hätte ich Junior-Debütantin sein sollen und erst im folgenden Jahr debütieren sollen.

»Du bist ein bisschen früh dran, das stimmt, aber es wäre nicht so, als würdest du einen Rekord aufstellen.« In ihrem Südstaatenakzent schwang eine gekränkte Note mit. »Ich habe meine Beziehungen spielen lassen, damit du schon teilnehmen darfst. Schließlich dachten wir, dir bliebe nicht viel Zeit, weil du aus Charleston wegziehen würdest. Jetzt ist es zu spät, um die Sache rückgängig zu machen.«

Ich war gedanklich bereits einen Schritt weiter. »Wann ist der Ball?«

»Am übernächsten Freitag.« Whitney kicherte aufgeregt. »Wir haben nicht mehr viel Zeit und du musst einige wichtige Entscheidungen treffen.«

Oh-oh. »Und zwar?«

Whitney warf mir einen milden Blick zu. »Deine Marshalls und Ushers, Tory. Du musst dir deine Begleitung zum Ball aussuchen.«

Nennt es Vermeidungsverhalten. Nennt es vorsätzliche Blindheit. Nennt es doch, wie ihr wollt.

Ich darf ehrlich behaupten, dass ich bis zu diesem Moment keinen Gedanken daran verschwendet hatte.

»Was? Wer? Wie viele?«

»Eigentlich jeweils einen, aber du kannst auch mehr auswählen, wenn du möchtest. Aber mindestens einen Marshall brauchst du zum Debütantinnenball unbedingt.«

Ich bekam den Mund nicht mehr zu. Wen sollte ich bloß in dieses Unglück stürzen? Warum würde jemand auf diesen Ball gehen wollen?

Wie immer verstand mich Whitney vollkommen falsch.

»Ich weiß, es ist eine schwere Entscheidung. Also denk gut nach. Trotzdem muss ich es bald wissen, Schatz. Sonst kommen die Einladungen zu spät, und die Jungen müssen sich einen Smoking leihen, wenn sie noch keinen haben.«

Whitney erhob sich und begann, die Teller zu stapeln. Ich murmelte ein Dankeschön und zog mich nach oben in mein Zimmer zurück. Dort warf ich mich auf mein Bett und wurde diese eine bohrende Frage nicht mehr los.

Wer?

Im Gegensatz zu Whitney mit ihren Illusionen betrachtete ich die Sache nicht als erste Gelegenheit für ein Date. Ich wollte nicht einmal zum Ball gehen. Wie bei meinen Tanzkursbesuchen würde ich beim Ball die Menschenmenge meiden und versuchen, möglichst wenig peinlich aufzufallen. Mein Ziel bestand darin, diese Angelegenheit zu überleben, nicht eine Liebesbeziehung aufzubauen.

Kleines Geständnis: Ich hatte noch nie einen Anführungsstriche unten Freund Anführungsstriche oben. Versteht mich nicht falsch, ich habe nicht im Kloster gelebt oder so – einmal habe ich Sammy Branson hinter dem Dunkin’ Donuts in Westborough geküsst, obwohl Mom ihn für einen absoluten Faulpelz hielt. Aber bislang hatte ich kein ernsthaftes Date. Und schon gar nicht offiziell.

Wann denn auch? Mom und ich sind den größten Teil meiner Kindheit kreuz und quer durch Massachusetts gezogen und nie lange an einem Ort geblieben. Sie war meine einzige Konstante. Ich war dreizehn, als der Autounfall passiert ist. Mom starb, und ich wurde in den Süden verfrachtet, um bei Kit zu leben.

Mein erstes Jahr in Charleston war nicht gerade auf Romantik angelegt. An der Bolton Prep war ich vom ersten Tag an eine Außenseiterin – eine dumme Neuzugezogene mit Stipendium, die noch dazu ein Jahr jünger war. Das war nicht gerade der Bringer.

Mit meinen Klassenkameraden hatte ich nichts gemeinsam. Mein Vater gehörte keinem der sieben Countryclubs oder dem Aufsichtsrat eines Krankenhauses an. Die Aufmerksamkeit, die man mir widmete, war meistens nicht gerade von der angenehmen Sorte.

Außerhalb der Schule bestand meine Welt aus einer abgelegenen Insel, Kit und meinem Rudel. Da gab es auch keine Kandidaten. Während Hi, Shelton und ich uns so nahestanden, wie es bei Freunden nur möglich ist, würden wir bei dem Gedanken an so etwas wie »miteinander gehen« in Panik ausbrechen. Das ging ja gar nicht.

Na ja, Ben. Bei Ben war es … anders. Mir selbst konnte ich es ja eingestehen, wenn schon sonst niemandem. Er war älter, weltgewandter und sah ohne Frage gut aus. Der einzige potenzielle Schwimmer im winzigen Dating-Becken von Morris Island. Ich war sogar ein bisschen in ihn verknallt, als wir hergezogen sind.

Aber nach der Krankheit und mit unseren Fähigkeiten waren wir zu einem Rudel zusammengewachsen. Für mich stellte das Rudel gleichzeitig so etwas wie die Familie dar.

So war es besser. Sauberer. Sicherer.

»Mist.«

Ich starrte auf meine Notizen und war einer Antwort auf Whitneys Frage keinen Schritt näher gekommen.

Ich brauchte jemanden für ein Date.

Aber wen?