MONTAG
Es war ein ungemütlicher Abend für einen Hundespaziergang. Wir befanden uns zwar schon mitten im ersten Frühlingsmonat, aber von Frühling war weit und breit nichts zu sehen. Das Thermometer parkte seit mehreren Tag kurz unter zehn Grad minus und der Wind rüttelte an den bedrohlich ächzenden Bäumen. Aber ich hatte meine Thermojacke an und die Mütze, die Oma gestrickt hatte, auf dem Kopf, und Wuff wurde ja von ihrem schwarz gefleckten Fell gewärmt.
Hier, wo ich wohne, klettern die Reihenhäuser und Einfamilienhäuser an einem Hang entlang. Unsere Häuser sind der letzte Außenposten, danach gibt es nur noch Natur. Stockholm lässt sich manchmal als Lichtschein am schwarzen nördlichen Nachthimmel erahnen. Die Leute, die dort wohnen, glauben, unser Vorort sei der soziale Brennpunkt Nummer eins im ganzen Großraum Stockholm, wo Diebe und Mörder hinter jedem Busch lauern. Völliger Quatsch! Wir schließen hier nicht mal unsere Fahrräder ab. Aber zugegeben, auch bei uns passieren schlimme Sachen. So wie neulich, vor ein paar Monaten erst.
Eine tote Mitschülerin.
In der Nähe des verwunschenen kleinen Waldsees, an dem ich oft mit Wuff spazieren gehe, wenn nicht gerade so viel Schnee liegt wie jetzt, ist Mikaela, meine Nachbarin und Klassenkameradin, tot aufgefunden worden. Ihr Leben endete gleich neben einer Lichtung, wo ich oft mir ihr gepicknickt hatte.
Mein Alltag hat sich wieder normalisiert, aber in meinen Gedanken ist Mikaela noch da. Bis vor Kurzem kamen mir jedes Mal die Tränen, wenn ich an sie dachte, doch inzwischen ertappe ich mich manchmal dabei, bei der Erinnerung an die vielen verrückten Sachen, die sie angestellt hat, zu lächeln.
Die Gärten wirkten wie erstarrt mit ihren steif gefrorenen Bäumen und zugeschneiten Beeten, aus denen vereinzelte Zweige ragten. Die Gartenmöbel kauerten in Gruppen unter den Abdeckungen. Im Sommer ziehen meistens Grillschwaden tief über das Grün und die Gärten kochen förmlich über vor Aktivitäten, aber jetzt schienen sich alle Bewohner zum Winterschlaf zurückgezogen zu haben. Nur Wuff und ich waren unterwegs.
Ich hätte mit verbundenen Augen herumwandern können. Im Laufe meines vierzehnjährigen Lebens hatte ich jede einzelne Kurve hier in der Gegend umrundet, war sämtliche steilen Straßen hinaufgestapft und hinabgeschlittert. Vielleicht war das der Grund, warum ich von meiner gewohnten Strecke abwich. Möglicherweise war ich ein klein wenig gelangweilt.
Der Schnee knirschte unter meinen Füßen, als ich zur großen Straße spazierte. Da Wuff unterwegs an jedem Fleck schnupperte, war unser Tempo nicht unbedingt schweißtreibend. Aber ich hatte keine Eile.
Nach der Kiesgrube verließ ich die Hauptstraße, um in ein schmales Sträßchen einzubiegen, das bergan führte. Das tat ich aus purer Neugier, weil ich dort noch nie gewesen war.
Die meisten Einfamilienhäuser hier oben waren zwanzig, dreißig Jahre alt und von großen Grundstücken umgeben. Rechts der Straße stand dicht und dunkel der Wald.
Ich ging weiter, bis ich den Kamm der Anhöhe erreichte. Dort, dicht am Wald, stand ein altes dreistöckiges Haus. Wuff schlug sofort neben dem Briefkasten Wurzeln, um eine Nachricht an ihre Hundefreunde zu hinterlassen. Ich hatte reichlich Zeit, um das Haus zu betrachten.
Es war das größte in der Gegend, mit Keller- und Dachgeschoss und einem turmgeschmückten Giebel. Das Haus erinnerte stark an ein Spukschloss in einem Gruselfilm, den ich mal gesehen hatte. In dem Film hatte eine hexenähnliche Alte junge Leute ins Haus gelockt, die danach spurlos verschwunden waren. Das Grundstück wurde von einer hohen Tannenhecke umschlossen, der Garten selbst sah verwildert aus. In einem Glockenspiel, das am Vordach der Haustür hing, spielte der Wind eine wehmütige Melodie. Aus dem Schornstein ringelte sich Rauch empor, in einigen Fenstern war Licht. Also war jemand zu Hause.
Vielleicht die menschenfressende Hexe, haha, dachte ich, zerrte dabei aber an Wuffs Leine, um weiterzukommen. Mir war ein wenig mulmig geworden.
Ich hatte nur ein paar Meter zurückgelegt, als die Stille unterbrochen wurde.
„Ich hab genau gesehen, was der Köter gemacht hat!“
Ich wirbelte herum und wäre dabei fast ausgerutscht.
Aus dem Spukhaus kam eine alte, spindeldürre Frau mit drohend geschwungener Faust angaloppiert. Sie trug eine graue Baumwollhose und dazu einen dicken Wollpullover und sah nicht unbedingt wie eine Hexe aus.
„Heb das sofort auf!“
„Aber sie …“
„Heb es auf!“
Allmählich begann sie mich zu nerven, aber ich wollte ihr trotzdem die Sache erklären.
„Mein Hund ist eine Hündin“, sagte ich. „Und Hündinnen hocken sich beim …“
Die Alte war kein bisschen daran interessiert, etwas darüber zu erfahren, wie sich die Pinkelhaltungen von Hündinnen und Rüden unterschieden.
„Ich rufe die Polizei!“
Jetzt wurde ich sauer. Am liebsten hätte ich sie einfach ignoriert, aber wohlerzogen, wie ich war, startete ich dennoch einen letzten Versuch.
„Da gibt’s doch gar nichts zum …“
„Die lassen deinen Hund einschläfern!“, keifte sie.
Dampfend vor Zorn stampfte ich auf. Ich stehe zu den Fehlern, die ich mache – obwohl es viele sind –, aber ich hasse es, ungerecht beschuldigt zu werden.
„Blöde alte Hexe!“, brüllte ich hinter ihr her. „Passen Sie lieber auf, dass niemand so was mit Ihnen macht!“
Schon im nächsten Moment bereute ich meine Worte. Das war dann doch ein bisschen heftig. Die Drohung gab ihr außerdem einen Anlass, die Polizei zu verständigen. Und die würden nicht lange brauchen, um den Teenie mit dem einzigen Dalmatiner in der Gegend ausfindig zu machen. Der Hund mit dem lustigen Namen … Wuff.
Ich überlegte, ob ich hinter der Alten herlaufen sollte, um mich zu entschuldigen, als ich plötzlich andere Sorgen bekam. Weiter hinten entdeckte ich eine lärmende Schar Jungs. Johlend und krakeelend kamen sie direkt auf mich zu.
Ich hatte keine Ahnung, wer sie waren, aber mein Selbsterhaltungstrieb riet mir, einer grölenden Jungsclique auf einer verlassenen Straße aus dem Weg zu gehen. Ich hatte auch keine Ahnung, was Wuff tun würde, falls die Typen mich anmachten. Hoffentlich würde sie mich beschützen, doch es bestand durchaus das Risiko, dass sie mit eingezogenem Schwanz nach Hause rannte.
Also ging ich lieber auf Nummer sicher und schlüpfte in den Garten, der dem Spukhaus gegenüberlag. In dem roten Backsteingebäude brannte Licht, aber niemand war zu sehen. Ich suchte hinter ein paar Büschen Schutz und zog Wuff hinter mir her.
„Still!“, flüsterte ich.
Sicherheitshalber hielt ich ihr mit der Hand die Schnauze zu.
Aber Wuff zeigte keinerlei Interesse an dem lärmenden Haufen. Umso mehr schätzte sie es, dass mein Gesicht sich plötzlich auf der selben Höhe befand wie ihre Schnauze, als wir so hinter den Büschen kauerten. Eifrig versuchte sie, meine Wangen abzulecken, aber ich zischte sie an, sie solle still sitzen.
Die lauten Stimmen waren inzwischen nur ein paar Meter von uns entfernt.
„Ey, dann hab ich gesagt, ey, geil, Mann, und der dann so, wow, echt?“, berichtete jemand mit großem Nachdruck.
Geniale Unterhaltung, dachte ich.
Ich beschloss zu warten, bis sie vorbeigegangen waren, doch aus irgendeinem Grund blieben sie ganz in der Nähe stehen. Das röhrende Gelächter verstummte jäh. Es wurde totenstill.
Ich drückte mich tiefer ins Gebüsch. Mein Herz klopfte laut.
Hatten sie mich gesehen?
Ich presste Wuff eng an mich und streichelte sie beruhigend.
Es war so still, dass ich mich fragte, ob die Clique nicht doch weitergezogen war. Vorsichtig spähte ich hervor. Sie waren noch da. Zuerst sah ich nur die Rücken von fünf großen, dunkel gekleideten Typen, doch plötzlich wandte sich einer von ihnen halb um. Er war wesentlich kleiner und dünner als die anderen.
Genau wie die übrigen vier hatte er eine schwarze Mütze tief über die Ohren gezogen, aber als ich sein Profil sah, zuckte ich überrascht zusammen.
War das etwa … Simon?
Es war zu dunkel, um mit Sicherheit etwas erkennen zu können. Außerdem kam es mir ziemlich unwahrscheinlich vor. Simon ist der Oberstreber unserer Klasse. Er würde sich nie mit einer Clique älterer Jungs herumtreiben. Vor allem würden die sich für jemanden wie ihn gar nicht erst interessieren.
Ich duckte mich wieder in meinem Versteck und konzentrierte mich darauf, Wuff festzuhalten. Ihr wurde es allmählich langweilig, in dem kalten Schnee stillzusitzen, darum versuchte sie sich meinem Griff zu entwinden.
„Los jetzt!“, zischte plötzlich jemand.
Etwas krachte. Dann folgte ein Klirren.
Eine Fensterscheibe ging zu Bruch.
Danach wieder Stille.
Die Sekunden tickten dahin.
Wuff zog und zerrte, um sich zu befreien.
„Pssst!“, flüsterte ich flehend.
Ich hatte Angst.
Zwei, drei Minuten verstrichen, die mir so lang vorkamen wie eine Stunde.
Plötzlich geschah wieder etwas. Ein eigenartiges Knistern war zu hören und der vertraute Geruch von offenem Feuer drang mir in die Nase.
Ich konnte mich nicht mehr beherrschen, musste einfach wieder rausspähen.
Im selben Moment spurtete die Bande im vollen Galopp davon. Der Boden dröhnte unter ihren Füßen. Sie klangen wie eine Herde Elefanten.
Ich schlich hervor. Inzwischen waren sie schon verschwunden.
Der Rauchgeruch war jetzt deutlich wahrnehmbar. Aus der Tannenhecke der alten Hexe qualmte Rauch empor. Die Jungs mussten sie angezündet haben!
Mein erster Gedanke war, ihrem Beispiel zu folgen und abzuhauen. Aber irgendetwas zog mich zu der qualmenden Hecke hin, obwohl Wuff sich dagegen sträubte.
Flammen sah ich keine. Die Zweige waren zu feucht, um schnell Feuer zu fangen. Wäre das im Sommer passiert, hätte wahrscheinlich die ganze Hecke schon lichterloh gebrannt, bevor ich auch nur „Es brennt!“ hätte rufen können.
Kein Mensch war zu sehen, nicht einmal die Hexe. Ich hatte keine Lust, bei ihr zu klingeln, und begann stattdessen Schnee auf die rauchenden Zweige zu schaufeln. Bei jedem Treffer zischte es laut auf, und der Rauch wurde dichter und dunkler.
Anfangs hatte Wuff wild an ihrer Leine gezerrt, um dem Rauch zu entkommen. Aber als ich jetzt darauf bestand zu bleiben, machte sie es wie ich, oder zumindest das, was sie dafür hielt, und begann im Schnee zu scharren.
Ich hatte das Gefühl, mich schon ewig lang abgerackert zu haben, aber in Wirklichkeit war das Ganze wahrscheinlich innerhalb von ein, zwei Minuten vorbei. Ich war außer Atem und verschwitzt. Immer noch hatte sich niemand blicken lassen. Wie war es möglich, dass kein Mensch sah, was hier los war?
Unschlüssig blieb ich stehen, bis mir das Klirren einfiel, das ich gehört hatte. Ich lief ums Haus und kontrollierte jedes Fenster, bis ich eins entdeckte, das kaputt war – ein schmales Kellerfenster an der Rückseite. Dort klaffte ein großes Loch wie von irgendeinem schweren Gegenstand, der dort reingeworfen worden war.
Bestimmt war das auch ein Werk dieser Bande.
Ich tastete in meiner Tasche nach meinem Handy, um die Polizei anzurufen, überlegte es mir dann aber anders. Das musste die alte Tante selber machen.
Ich befand mich zwei Meter vor dem Haus, als die Haustür aufging. Die magere Silhouette der alten Frau wurde von der Dielenlampe von hinten beleuchtet. Wiegend wie eine Eule spähte sie in die Dunkelheit hinaus.
„Ich …“, begann ich und deutete auf die Hecke.
„Um Himmels willen! Was hast du angestellt?!“
„Ich …“
Sie ließ mir keine Chance.
„Hiiilfe!“, schrie sie.
All mein Mut verließ mich. Es sah gar nicht gut aus. Jemand hatte das Kellerfenster der Alten eingeworfen und versucht, ihre Tannenhecke abzufackeln, und das, nur Minuten, nachdem ich ihr gedroht hatte. Und hier stand ich jetzt, verrußt und zerzaust, wie auf frischer Tat ertappt.
Das durchdringende Geschrei der Alten brachte endlich die Nachbarn auf die Beine.
„Frau Asp, was ist passiert?“, rief eine Männerstimme.
Von plötzlicher Panik befallen rannte ich davon und kroch durch ein Loch in der Hecke in den Wald, Wuff zerrte ich hinter mir her. Bis zur großen Straße mussten wir durch hohen Schnee stapfen, danach liefen wir im vollen Galopp heimwärts, als würden wir verfolgt.
Erst als ich die Lichter unserer Nachbarhäuser sah, traute ich mich, mein Tempo zu verlangsamen. Wir keuchten alle beide. Wuff hatte immerhin noch Kraft genug, um mit dem Schwanz zu wedeln. Mir dagegen war um einiges düsterer zumute.
Warum bin ich abgehauen?, dachte ich. Ich hätte bleiben und erklären sollen, was passiert war. Schließlich hatte ich ja nichts getan. Schuldig waren die fremden Jungs. Jetzt sah es natürlich so aus, als hätte ich die Tannenhecke angezündet.
Aber für Reue war es inzwischen zu spät.
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