KAPITEL 19

Auch am folgenden Morgen versammelten wir uns wieder im Klassenzimmer. Ich brachte eine CD mit, die Mikaela gemocht hatte, aber Per Lundström behauptete, Rock sei unpassend, und legte dieselbe klassische Musik auf, die wir gestern gehört hatten.

Doch dann fragte er mich plötzlich besorgt, ob ich jetzt sehr traurig sei. Das war total peinlich. Ich trauere genau wie alle anderen. Weder mehr noch weniger. Außerdem habe ich mich noch nie irgendeinem Lehrer anvertraut. Warum sollte ich das ausgerechnet jetzt tun?

Aber wir hätten lieber die Rockmusik anhören sollen, die Mikaela gefallen hatte, und das sagte ich Herrn Lundström auch.

Auf dem Heimweg kaufte ich wieder die beiden Abendzeitungen. Aber viel schlauer machte mich das nicht. Die Techniker und der Gerichtsmediziner hatten ihre Arbeit noch nicht beendet. Sie wollten sich nicht einmal zu den Gerüchten über grobe Gewalt äußern. Auch nicht darüber, was im Wald gefunden worden war.

In Ermangelung neuer Fakten schrieben die Zeitungen über einen „Vorort in Angst und Schrecken“ und behaupteten, in unserer Gegend wären alle voller Panik, der Mörder könnte wieder zuschlagen.

Auf diese Idee war ich bisher nicht gekommen, aber jetzt nistete sich der Gedanke in meinem Kopf ein. Womöglich lauerte irgend so ein kranker Typ draußen im Gebüsch auf ein neues Opfer! Einer, der es nur auf junge Mädchen aus unserem Wohnviertel abgesehen hatte.

Wenn das zutraf, hatte ich schlechte Karten.

Dummerweise konnte ich mich nicht gut im Haus versteckt halten, bis die Polizei den Mörder erwischt hatte. Ich musste in die Schule, und meinen Hund musste ich auch ausführen, drei Mal täglich sogar. Morgens und nachmittags ging das ja noch, aber selbst einer Kämpfernatur wie mir wurde bei dem Gedanken an den späten Abendspaziergang etwas mulmig zumute, falls draußen tatsächlich ein irrer Mörder gezielt auf mich warten sollte.

Ich bereute es, den Artikel gelesen zu haben, und versuchte die bedrückenden Gedanken abzuschütteln. Solches Zeug schrieben die Zeitungen eben, wenn sie mit keinen neuen Fakten aufwarten konnten. Eine Art Hetzjagd auf Berichtenswertes entstand, wenn die eigentliche Nachricht bereits total ausgequetscht worden war.

Auf dem Schulhof wurden immer wieder Schüler interviewt und fotografiert, doch als die Journalisten an mich herantraten, behauptete ich, Mikaela nicht gekannt zu haben. Offenbar waren sie auch in unserer Wohngegend unterwegs gewesen und hatten die Leute ausgefragt.

Gegen unheimliche Ängste gibt es kein besseres Heilmittel als Hausaufgaben. Ich setzte mich an den Computer, um den Aufsatz für Geschichte in Angriff zu nehmen, kam aber nicht so recht voran.

Die Sonne senkte sich hinter den Baumwipfeln und färbte sie leicht rötlich. Ein kleiner Schwarm Mücken tanzte vor meinem Fenster auf und ab, während ich etwas über die Überreste aus der Steinzeit, die sich in unserer Gegend befanden, zusammenzuschustern versuchte. Der einzige Überrest aus der Steinzeit, den ich je gesehen habe, ist die alte Frau Gröön. Sie ist fünfundachtzig und fährt auf einem Moped durch die Gegend, das wie Trashmetal klingt.

Plötzlich gab der Computer einen Pieps von sich. Eine Nachricht.

Von Linus!

„Darf ich dich und Wuff begleiten?“

„Jaaa!“

Wuff fuhr hoch, als ich aufschrie, und begann wie wild unter lautem Gebell herumzurasen. Meine Finger tanzten bereits über die Tasten.

„O. k. Heute Abend um sieben.“

Irgendwie gelang es mir, den Aufsatz zusammenzubasteln: viel Geschwafel und ein paar Fakten, die ich in einem Buch gefunden hatte.

Es war Zeit fürs Abendessen, aber Mama hatte sich den ganzen Nachmittag noch nicht blicken lassen. Aus ihrem Atelier kam leise Musik, ein klassisches Stück, das sie oft laufen lässt, wenn sie inspiriert ist. Also würde ich mir mein Essen aus der Tiefkühltruhe herausgraben müssen.

Ich fand eine Portion Lasagne, die ich in der Mikrowelle aufwärmte und vor dem Fernseher verdrückte.

Nachdem Wuff ihr Trockenfutter verschlungen hatte, war es Zeit für den Abendspaziergang. Draußen auf der Straße wartete Linus schon auf uns. Mein Herz machte einen Extrahüpfer, aber ich ließ mir nichts anmerken, nickte bloß kurz.

Zuerst nahm ich an, er wolle wieder beobachten, welche Autofahrer den Holperweg benutzten. Ich hätte nicht protestiert, obwohl ich es momentan nicht für sinnvoll hielt. Seit Mikaela im Wald gefunden worden war, wimmelte es dort von Menschen, die eine Blume hinlegen oder eine Kerze anzünden wollten.

Als er nichts dergleichen vorschlug, überließ ich Wuff die Führung.

„Gibt’s was Neues von Glöckchen?“, fragte ich.

„Morgen darf sie nach Hause.“

„Super! Dann kann sie nächstes Mal mitkommen.“

Ich bereute meine Worte sofort. Er hatte doch gar nicht versprochen, uns jeden Abend zu begleiten.

„Ich meine“, begann ich meine Bemerkung abzuschwächen.

Er unterbrach mich.

„Es dauert noch, bis sie wieder normal laufen kann. Vorher muss sie noch trainieren.“

In meiner Fantasie sah ich Glöckchen im Trainigsanzug Gewichte heben und musste unwillkürlich kichern.

„Was?“

Darüber gab es natürlich nichts zu lachen. Der arme Hund. Aber ich freute mich trotzdem. Sie lebte. Und Linus hatte nicht Nein gesagt, als ich weitere Spaziergänge erwähnte.

„Ich … musste bloß niesen. Was für ein Training ist das denn?“

„Weiß ich nicht. Morgen hole ich sie mit meiner Mutter ab. Dann erfahren wir mehr. Willst du rüberkommen und Glöckchen besuchen?“

Ja! Ja! Ja!

„Gern“, sagte ich ruhig. „Ich komme nach der Schule. Habt ihr es übrigens angezeigt, dass Glöckchen überfahren wurde?“

„Ja.“

„Dann weiß die Polizei also, wo ich sie gefunden habe?“

„Warum? Denkst du an Mikaela?“

„Beide sind am selben Abend verschwunden und wurden ein paar hundert Meter voneinander entfernt gefunden, und es ist auch nicht ausgeschlossen, dass Mikaela am selben Abend starb, an dem Glöckchen überfahren wurde.“

„Das ist wirklich eigenartig.“

Er schien eine Zeit lang daran herumzugrübeln, fragte dann aber:

„Hast du Westers Auto überprüft?“

Ich seufzte.

„Also, ich glaube, das wäre jetzt gerade nicht unbedingt das Wahre …“

Plötzlich fiel mir etwas ein.

„Wo würdest du dein Auto reparieren lassen, wenn du etwas überfahren hättest?“

„Ich hab kein Auto.“

„Du weißt schon, was ich meine!“

„Sollte ein Witz sein“, brummte er mürrisch. „Aber Kalle Svenssons Autowerkstatt liegt günstig in der Nähe.“

„Genau! Komm!“

Jetzt hatten wir ein Ziel. Ich trabte los, Wuff rannte begeistert voraus und Linus hinter mir her.

„Was macht dein Vater eigentlich?“, fragte ich unterwegs.

„Er importiert alles Mögliche, das er dann an verschiedene Läden verkauft. Papierkörbe, Brieftaschen, handgeschöpftes Papier aus China. So ungefähr. Und meine Mutter arbeitet als Maklerin. Und dein Vater?“

„Er ist als Vertreter in Südschweden unterwegs.“

„Und warum wohnt ihr dann hier?“

„Oma und Opa und alle Freunde meiner Mutter wohnen hier in der Gegend. Als mein Vater den Job wechseln musste, wollte Mama nicht umziehen. Ich auch nicht.“

Das Büro, das Linus’ Vater mit Kalle Svensson teilte, lag im Dunkeln, aber in der Werkstatt war Licht.

Ich zögerte kurz, trat dann aber an die hohen Doppeltüren und klopfte. Ich musste ziemlich lange hämmern, bis die eine Tür endlich einen Spalt weit aufging und zwei misstrauische Augen herausspähten. Ich erkannte Kalle Svensson. Er ist jünger als Papa, sieht gut aus und weiß das auch. Aber meistens nimmt er sich die Zeit, um mit mir irgendwelche Späßchen zu machen.

Heute nicht.

„Was wollt ihr?“, fragte er gereizt.

Durch den Spalt sah ich seinen ölverschmierten Arbeitsanzug. Wir störten ihn wohl bei der Arbeit.

„Nur eine kurze Frage“, begann ich kühn und zog meinen Notizblock aus der Tasche. „Haben Sie in letzter Zeit eines dieser Autos zur Reparatur in Ihrer Werkstatt gehabt?“

Schnell ratterte ich die Zulassungsnummern von dem Audi, von Samuel Westers Auto und dem funkelnagelneuen Mercedes herunter und nach einem gewissen Zögern auch die von Papas Wagen.

„Ich kann mir doch unmöglich die Zulassungsnummern sämtlicher Autos merken, die ich repariert habe!“

„Das erste ist ein Audi Avant, eins ist ein nagelneuer Mercedes der S-Klasse …“

Er zuckte zusammen.

„Die kosten ja fast eine Million Kronen. An so einen Schlitten würde ich mich erinnern.“

„Und was ist mit einem silbergrauen Volvo V70?“

Eine misstrauische Falte tauchte zwischen seinen braunen Augen auf.

„Warum willst du das alles wissen?“

Ich schielte zu Linus hinüber und hoffte auf Hilfe, aber er sah weg.

„Sein“ – ich deutete auf Linus – „Hund ist überfahren worden …“

„Ja, das hab ich gehört“, sagte Kalle Svensson jetzt etwas freundlicher.

„… und da hab ich gedacht, vielleicht haben Sie an einem dieser Wagen vorne eine Beule repariert?“

„Du glaubst also …? Woher habt ihr denn die Zulassungsnummern?“

„Wir haben beobachtet, welche Autos an der Stelle, wo Glöckchen überfahren wurde, vorbeikamen.“

„Aha, so ist das“, sagte er. „Leider pflegen die Leute einem nicht mitzuteilen, was sie überfahren haben, wenn sie ihre Autos vorbeibringen. Vor allem nicht, wenn sie einen Hund überfahren haben.“

„Aber eins dieser Autos haben Sie demnach repariert? Bis auf den Mercedes natürlich.“

Er schüttelte den Kopf.

„Nein, glaube kaum. Na dann. Jetzt muss ich weitermachen.“

Er zog die Tür wieder zu.

„Trotzdem war’s einen Versuch wert“, sagte Linus, als wir uns auf den Heimweg machten.

„Aber er hätte sich echt kein Bein ausgerissen, wenn er nachgeschaut hätte“, sagte ich enttäuscht.

Plötzlich fiel mir etwas ein.

„Du hast doch gesagt, dass du manchmal im Büro deines Vaters Werbung sortierst?“

„Ja-a.“

„Und dein Vater teilt sich das Büro mit Kalle Svensson?“

Er nickte stumm, leicht verwirrt.

„Dann kannst du doch checken, ob Kalle Svensson einen Quittungsblock oder irgendeinen Ordner mit Rechnungen hat?“

„Hör mal, ich kann doch nicht einfach in seinen Sachen rumstöbern!“

„Aber falls so etwas zufällig herumliegt, könntest du vielleicht nachschauen, welche Autos bei ihm waren, seit Glöckchen überfahren worden ist.“

Er nickte, sah aber immer noch etwas unschlüssig aus.

„Schreib dir die Zulassungsnummern auf“, sagte ich.

„Die kann ich mir auch so merken“, murmelte er.

Als wir in unsere Straße kamen, blieben wir vor Linus’ Haus sehen. Ich wollte fragen, ob er Lust hatte, uns morgen Abend wieder zu begleiten, traute mich aber nicht. Ich befürchtete, er könnte Nein sagen.

„Du-u“, sagte er und zog das Wort in die Länge.

Er wand sich, bevor er weitersprach:

„Ich weiß nicht, ob ich das so einfach sagen soll, aber ich finde, du bist … echt in Ordnung.“

Ich wartete gespannt. Keine schlechte Liebeserklärung, dachte ich. Jedenfalls für den Anfang.

„Aber zuerst fand ich dich etwas seltsam.“

„Warum das denn?“, fragte ich gekränkt.

Er zuckte verlegen die Schultern.

„Als du im Nachthemd herausgerannt kamst und angefangen hast, zu bellen …“

„Bellen?“

„Ich hab doch nicht gewusst, wie dein Hund heißt! Also, ich meine, wenn man einfach so Wuff, Wuff, Wuff durch die Gegend jault … Ich hab den Hund ja nicht mal gesehen.“

„Jajaja! Schon kapiert!“

Erbarmungslos fuhr er fort:

„Und dann stolperst du ja ziemlich oft und trittst einem gern auf die Füße. Also hab ich gedacht … Bist du jetzt sauer?“

„Du sagst ja bloß die Wahrheit.“

„Du hast auch viele gute Seiten. Also dann, man sieht sich.“

„Lässt sich kaum vermeiden.“

„Kommst du morgen nach der Schule zu mir?“

„Reingestolpert, meinst du wohl?“

„Wenn du willst.“ Er grinste. „Also bis bald.“

„Mhm.“

„Glöckchen zuliebe.“

Das war das Zauberwort.

„Hoffentlich geht morgen alles gut, wenn ihr sie abholt“, sagte ich versöhnt und meinte es auch so.

„Das hoffe ich auch“, sagte er leise.

Todeswald
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