KAPITEL 1
Ich lag im Bett mit einem Buch von Moa Martinson, ein Klassiker, über den ich in der Schule ein Referat halten sollte. Ich hatte noch nicht einmal das erste Kapitel geschafft.
Aber man darf die Hoffnung nie aufgeben. Ich versuche das Leben meistens von der guten Seite zu sehen. Das muss man, wenn man Afrodite Svea Andersson heißt.
Also, ich sage nur … Afrodite!
Ich werde auch Nisse genannt, zumindest von Papa. Mama und alle anderen nennen mich zum Glück nur Svea.
Meine Mutter ist Künstlerin. Sie lässt sich von Griechenland und der griechischen Mythologie inspirieren und malt nur in Blau und Weiß. Ihre Bilder zeigen die Götter der Antike beim Abwasch, beim Putzen und bei allen anderen alltäglichen Beschäftigungen. Die Bilder werden vor allem von Krankenhäusern gekauft. Lachen soll ja angeblich gesund sein.
Meine Mutter hat mich nach der schönsten aller Göttinnen getauft – nach der Göttin der Liebe. Wenn sie damit erreichen wollte, dass ich mich außergewöhnlich fühle, dann hat das hingehauen – allerdings nicht im positiven Sinn. Im Gegenteil, ich habe viele düstere Erinnerungen, die mit meinem Namen verbunden sind. Unter anderem, als ich zum ersten Mal in die Schule kam und die Lehrerin die Klassenliste vorlas:
„Emma, Anna … und, hm, Afrodite Svea?“
Ich weiß noch, dass ich zu meinen Klassenkameraden rüberschielte. Niemand reagierte, bis auf zwei Mädchen, die so taten, als müssten sie sich gleichzeitig übergeben und einen Lachanfall unterdrücken.
„Afrodite … hihi, Afro … haha.”
Ich zielte auf das eine Mädchen, das fast genauso hellblonde Haare hatte wie ich, und schoss ihr ein Gummi zwischen die niedlich geschwungenen Augenbrauen.
Sie schrie auf und hob die Hände. Das Gekicher verstummte abrupt.
Das war mein erster Zusammenstoß mit Mikaela.
Viele weitere sollten folgen.
Seit der Grundschule gehen wir in dieselbe Klasse und wir werden es noch zwei lange Jahre miteinander aushalten müssen, da wir gerade erst in die 8A gekommen sind. Weil ich auch noch das Pech habe, direkt neben Mikaela zu wohnen, sehe ich sie oft. Wenn sie in der Sonne liegt, wenn sie mit dem Handy telefoniert, wenn sie sich mit ihrer Mutter streitet und wenn sie neben dem Briefkasten steht und Erik küsst. Oder Alexander. Oder Oscar. Wir gehen morgens sogar zusammen zum Bus.
Also, entschieden zu viel Mikaela!
Vor allem jetzt gerade. Sie behindert nämlich meine Versuche, den neuen Nachbarn in dem weißen Einfamilienhaus gegenüber kennenzulernen.
Ein paar Tage bevor die Schule losging, traf ich Linus zum ersten Mal. Das Gras war noch feucht vom Tau, als ich im Nachthemd mit den schlappenden Pantoffeln meines Vaters ins Freie rannte und „Wuff, Wuff, Wuff!“ brüllte.
Was natürlich ziemlich seltsam wirken musste, wenn man nicht gesehen hatte, wie mein Hund kurz davor hinausgewitscht war und man außerdem nicht wusste, dass der betreffende Hund Wuff hieß. (Schon wieder meine Mutter! Meiner Meinung nach wäre Pünktchen ein viel passenderer Name für einen Dalmatiner gewesen.)
Linus wusste das nicht. Er stand mit schief gelegtem Kopf vor dem Haus und betrachtete mich mit seinen braunen Augen. Obwohl er mich ein bisschen zu lang befremdet anstarrte, wäre ich fast gestorben, weil er so umwerfend aussah!
Unsere Bekanntschaft hätte wirklich einen besseren Start haben können. Aber wenigstens hatte er mich bemerkt!
Leider ist es danach eher schleppend weitergegangen. Im Laufe von zwei Monaten hat er morgens nicht mehr als „hallo“ gesagt, wenn ich draußen stehe und auf Mikaela warte, und ein Mal „aua“, als ich ihm in der Schlange vor der Essensausgabe auf den Fuß trat.
Jeden Morgen schwingt er sich auf sein Fahrrad und strampelt davon, bevor ich überhaupt Luft holen kann, um etwas zu sagen. Ich glaube, er will weg sein, bevor Mikaela herauskommt.
Ich würde auch gern zur Schule radeln, aber das will Mikaela nicht. Und ich kann sie ja nicht plötzlich einfach ignorieren, denn dann könnte sie sich einbilden, wir wären nicht mehr befreundet. Und das sind wir doch. Obwohl …
Darum habe ich jetzt angefangen, in einem Buch mit dem Titel Was jede Hexe wissen sollte nach einer guten Verwünschung zu suchen. Das Buch habe ich von meiner besten Freundin Jo geliehen. Wenn Mikaela ein klein bisschen krank werden oder sich das Bein brechen würde oder so, könnte ich die Gelegenheit nutzen und zusammen mit Linus zur Schule radeln. Dann hätte ich endlich die Chance, ihm zu zeigen, wie schlagfertig und witzig ich sein kann, wenn ich nicht gerade damit beschäftigt bin, ihm auf die Füße zu treten oder in zu großen Pantoffeln herumzuschlappen.
Falls meine Zauberformeln nichts nützen, hab ich noch einen Joker im Ärmel. Oder vielmehr an der Leine.
Linus hat auch einen Hund, einen Rottweiler. Der Hund ist eine Sie und heißt Glöckchen. (Wie die Fee bei Peter Pan. Also ist meine Mutter nicht die einzige, die einen Knall hat!) Und der Weg zum Herzen eines Jungen führt über seinen Hund. Wenn sonst gar nichts klappt, werde ich also dafür sorgen, dass Wuff und Glöckchen miteinander spielen.
Der Plan, Linus auf dem Schulweg radelnd kennenzulernen, hat zurzeit nur einen Haken – jemand hat mein Fahrrad gestohlen! Ich glaube kaum, dass ein normaler Fahrraddieb zugeschlagen hat. Mein Fahrrad ist nämlich blau-weiß gestreift – ja, schon wieder meine Mutter!
Seit ich die Idee hatte, für den Schulweg das Fahrrad zu benutzen, kriselt es zwischen mir und Mikaela. Sie lehnt Radfahren entschieden ab, weil die Haare unterm Helm verschwitzt und platt gedrückt werden. Ich glaube, sie hat mein Fahrrad geklaut, um nicht mehr darüber reden zu müssen.
Meine Gedanken flogen hin und her, weit weg von dem ollen Klassiker, den ich lesen sollte. Ich sah auf die Uhr. Halb elf. Da konnte ich genauso gut aufgeben.
Viele Zeilen hatte ich ja nicht gerade geschafft. Egal, das mach ich irgendwann mal. Bloß nicht morgen, morgen kommt nämlich Papa nach Hause.
Papa arbeitet als Vertreter in Jönköping, oder eigentlich in ganz Südschweden, und kommt nur an den Wochenenden nach Hause.
Als ich an ihn dachte, fiel mir ein, dass er gar nicht Bescheid gesagt hatte, wann genau er kommen würde. Komisch. Wenn er vorhatte, mich nach der Schule abzuholen, musste ich meine Badesachen gleich morgens mit einpacken, das wusste er doch.
Ich rief auf seinem Handy an, landete aber nur bei der Mailbox.
Ich wartete eine Weile darauf, dass er zurückrief.
Nach ein paar Minuten gab ich auf und löschte das Licht. Bestimmt erwartete mich morgen früh eine Antwort.