KAPITEL 35

An Allerheiligen fahren wir immer zum Friedhof und zünden auf dem Grab von Papas Eltern Kerzen an, aber als ich aufwachte, regnete es.

Mama las gerade den Wetterbericht, als ich in die Küche hinunterkam. Papa kaute an einem Brot und las den Wirtschaftsteil der Zeitung.

„Wir fahren heute nicht zum Friedhof“, sagte Mama. „Morgen soll das Wetter besser werden.“

„Dann weiß ich, was Nisse und ich tun werden“, sagte Papa munter.

Ich sah ihn an. Er zwinkerte mir zu.

Eigentlich hatte ich ja eine Wut auf ihn, und das, worüber Linus und ich uns gestern unterhalten hatten, ging mir auch durch den Kopf. Die Frage, wie gut man seine nächsten Angehörigen kennt. Aber neugierig wurde ich dann doch.

„Was denn?“

„Winterreifen montieren.“

Ich stieß keinen Jubelschrei aus, ich lächelte nicht einmal, obwohl die Freude in mir hochsprudelte.

„Von mir aus“, sagte ich bloß.

Es wurde ein gelungener Tag. Ich hielt mich mit Papa in der Garage auf, wo wir über den Wagenheber gebeugt um die Wette fachsimpelten, über Radkappen, Reifenprofile, Felgen und Luftdruck und über die Vor-und Nachteile von Dauerreifen.

Alles war wie früher in der Werkstatt von Nisse und Janne.

Wie früher, bevor Nisse ihre Tage bekam und den Verdacht zu hegen begann, ihr Vater könnte einen Hund überfahren und vielleicht sogar eine ihrer Freundinnen ermordet haben!

Als ich später am Nachmittag mit Jo chattete, sah ich, dass Linus auch im Netz unterwegs war. Schnell beendete ich meinen Chat mit Jo und schrieb lieber an Linus.

Hast du mit dem Spuken aufgehört?“

„Ja. Aber du offenbar nicht. Irgendwas Gespenstisches, das dir sehr ähnlich sah, ist vorhin mit einem Hund auf den Fersen draußen vorbeigeglitten.“

Ich dachte daran, wie seine Finger meine Haare gestreichelt hatten, und entschied mich dafür, nicht gekränkt zu sein.

„Irgendjemand muss ja weiterspuken. Aber mit deiner grusligen Fratze werd ich’s nie aufnehmen können. Seid ihr schon auf dem Friedhof gewesen?“

„Wir fahren morgen.“

„Wir auch. Zu welchem Grab?“

„Zu dem von meinen Großeltern auf dem Waldfriedhof.“

„Wir auch. Wir haben echt viel gemeinsam.“

„Ziemlich unheimlich, oder?“

Ich fand es klasse. Dennoch schrieb ich:

„Passt doch gut, weil …“

Papa kam in mein Zimmer gepoltert und unterbrach mich.

„Es gibt was zu mampfen, Nisse!“

„Ich komme.“

Papa hüstelte. Ich wandte mich vom Bildschirm ab und sah ihn an.

„Hör mal“, sagte er. „Ich hab’s Mama erzählt.“

Zuerst begriff ich nicht, was er meinte. Die Sache mit dem blutigen Stück Glas? Hatte er gestanden, dass er gelogen hatte?

„Das mit .. na ja …“, fügte er hinzu, als ich ihn bloß anstarrte.

Er meinte meine Tage!

„Ich weiß“, sagte ich matt.

„Jetzt komm! Bewegung, Nisse! Das wird super schmecken. Mama hat sich wirklich Mühe gegeben. Blutsuppe mit leckerem Wackelhirn!“

„Gleich.“

Er sah ein bisschen enttäuscht aus, weil ich mein Gesicht nicht angeekelt verzog, als er seine erfundenen Scheußlichkeiten aufzählte.

„Was ist denn da so interessant, dass du dich nicht vom Computer trennen kannst?“, wollte er wissen.

Seine neugierigen Blicke wanderten unwillkürlich zum Bildschirm.

„Ich chatte gerade mit Jo.“

Seine Stirn legte sich in tiefe Falten, als würde er mir nicht so recht glauben, doch dann zog er davon.

Ich beendete meinen Chat mit Linus und saß dann eine Weile einfach da und versuchte zu vergessen. Versuchte die Erinnerung daran zu verdrängen, dass zwischen Papa und mir nicht alles zum Besten stand. Und ich wusste nicht, was ich dagegen tun sollte.

Todeswald
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