KAPITEL 5

Als der Unterricht zu Ende war, hatten alle Glöckchen bereits vergessen. Nur ich nicht. Ich hatte dem Verbot getrotzt und das Handy eingeschaltet gelassen, in der Hoffnung, Linus würde anrufen und berichten, wie es ihr ging.

Doch das Telefon blieb stumm.

Als ich nach Hause kam, sah ich Licht in Mamas Atelier. Die hohen Atelierfenster im einen Giebel dominieren unser Haus. Ohne diese Fenster würde es wie jedes beliebige zweigeschossige Wohnhaus mit gelber Holzverschalung, weißen Eckbalken und einem Balkon über dem Eingang aussehen.

Ich konnte erkennen, dass irgendjemand am Küchentisch saß, aber Papas Wagen stand nicht in der Garageneinfahrt. Da stand bloß Mamas roter Fiat.

Wer konnte das sein?

Als ich ins Haus trat, wurde ich wie immer von Wuff überfallen. Sie rastete vor Freude total aus, fegte durch die Eingangsdiele und das Wohnzimmer und schleppte dann der Reihe nach ihren Ball, die Piepsgiraffe und den Teddy in die Diele.

„Hallo!“, rief ich versuchsweise.

„Hallo!“, ließ sich eine gedämpfte Stimme aus der Küche vernehmen.

Es war Papa!

Also war er trotz allem früher fertig geworden. Warum hatte er mich dann nicht von der Schule abgeholt?

Das Telefongespräch von heute früh ging mir immer noch im Kopf herum. Da stimmte irgendwas nicht.

Ich ließ die Schultasche auf den Boden fallen, riss mir die Jeansjacke vom Leib, streifte die schwarzen Turnschuhe ab und lief in die Küche.

Papa saß vor einer Kaffeetasse am Küchentisch. Er hatte sich noch nicht umgezogen. Seine Anzugsjacke hing über der Stuhllehne, der Hemdkragen war aufgeknöpft und die Ärmel waren hochgekrempelt. Die Krawatte lag wie eine Schlange auf dem Tisch.

Ich überfiel ihn mit einer Megaumarmung.

„Grüß dich, Nisse“, sagte er zerstreut.

Ich musterte ihn prüfend. Es heißt, ich sähe eher meinem Vater ähnlich als meiner Mutter. Warum, weiß ich nicht. Mama und ich, wir sind beide blond, Papa ist dunkel. Papas stattliche Körperlänge habe ich auch nicht geerbt. Und alle behaupten immer, Papa sei so charmant. Das bin ich nicht. Aber immerhin haben wir beide blaue Augen. Seine sahen jetzt gerade traurig aus.

Das beunruhigte mich.

„Ist irgendwas passiert?“

„Nein. Warum?“

„Wo ist Mama?“

„Die arbeitet im Atelier.“

„Warum bist du hier?“

„Ich wohne hier.“

Er saß mit leerem Blick und einem künstlichen Lächeln auf den Lippen da.

„Oh Mann!“, stöhnte ich. „Ich meine … du wolltest doch erst viel später nach Hause kommen. Aber jetzt können wir ja doch noch zusammen ins Hallenbad fahren. Warst du schon mit Wuff draußen?“

„Nein.“

„Was heißt das – nein?“

„Ich war nicht mit Wuff draußen und kann heute nicht mit dir zum Schwimmen.“

„Aha. Und warum nicht?“

„Hab keine Zeit.“

Was soll das denn heißen, dachte ich.

„Übrigens, wo ist der Wagen?“, fragte ich.

„In der Garage.“

Das war ungewöhnlich. Dort stand er sonst nicht, wenigstens nicht, bevor der harte Winterfrost einsetzte.

„Aber du kannst mich doch trotzdem zum Hallenbad fahren?“

„Warum fährst du nicht mit dem Fahrrad?“

„Weil mein Fahrrad nicht da ist.“

„Ist es gestohlen worden?“

„Nöö“, sagte ich ausweichend. „Hab’s einer Freundin geliehen.“

Sonst bestand die Gefahr, dass er einen Mordsaufstand machte und womöglich sogar die Polizei anrief. Und das wäre echt übertrieben. Ich würde schon dafür sorgen, dass ich es zurückbekam, sobald Mikaela wieder auftauchte.

„Dann nimm doch Mamas Fahrrad.“

„Die Reifen sind platt.“

„Die kannst du ja aufpumpen! Oder nimm den Bus!“

„Der fährt bloß alle halbe Stunde. Warum willst du mich nicht fahren?“

„Was heißt da wollen. Mit dem Auto ist was nicht in Ordnung. Der Motor klingt nicht so, wie er soll.“

„Dann lass ich das Schwimmen auch ausfallen. Wir gucken uns den Motor mal an, nachdem ich mit Wuff draußen war.“

Er lächelte wieder auf diese gekünstelte Art.

„Geh ruhig schwimmen. Das mit dem Auto hat keine Eile.“

Dann stand er einfach auf und ging nach oben.

Verblüfft schaute ich hinter ihm her. Was war denn mit Papa los? Er wirkte so müde und geschafft.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Mit etwas Glück würde ich den nächsten Bus noch erwischen.

Schnell verdrückte ich zwei Brote mit einem Glas Milch und ließ Wuff hinten in den Garten hinaus, während ich Badetuch, Badeanzug und Shampoo zusammenraffte. Mein schlechtes Gewissen beruhigte ich damit, dass ich heute Abend ausgiebig mit ihr spazieren gehen würde.

Während ich zum Bus lief, fluchte ich über Mikaela. Ich würde ihr schon noch unter die Nase reiben, was ich von Leuten hielt, die anderen die Fahrräder klauten!

Ich kam im selben Moment zur Bushaltestelle, als der Bus dort bremste. An der Haltestelle stand schon jemand. Ich zuckte zusammen, als hätte ich mich an meinen Gedanken verbrannt.

Es war Mikaelas Mutter.

Allerdings hätte ich sie fast nicht erkannt. Sonst ist sie immer genauso sorgfältig gestylt und geschminkt wie Mikaela und trägt ihre kurzen Haare in einer modischen Föhnfrisur. Heute hatte sie Jeans an und eine halblange abgewetzte Jacke. Ihr helles Haar lockte sich im Nacken und sie war ungeschminkt. Dadurch sah sie jünger aus, fast wie Mikaela.

„Hat sie sich bei dir gemeldet?“, fragte sie rasch, ohne vorher zu grüßen.

Offenbar war Mikaela noch nicht nach Hause gekommen.

„Nein, tut mir leid“, antwortete ich trotzdem höflich.

Mikaela rief mich auch sonst nicht an, um mir mitzuteilen, was sie vorhatte.

Mikaelas Mutter stieg vor mir ein und löste eine Fahrkarte. Ich kam hinterher, schwenkte meine Buskarte durch die Luft und hatte vor, wie immer nach hinten zu gehen, aber Mikaelas Mutter drehte sich um und schubste mich mehr oder weniger auf den nächsten Fensterplatz, bevor sie sich neben mir niederließ.

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus.

„Ich rege mich so über die Polizei auf“, sagte sie.

„Also haben Sie Mikaela als vermisst gemeldet?“

„Natürlich haben wir das!“

Sie hielt kurz inne, dann fuhr sie etwas ruhiger fort:

„Was die uns alles gefragt haben! Die fragten, ob sie schon einmal ausgerissen sei und ob sie das öfters macht! Hast du schon mal so etwas Idiotisches gehört? Und dann wollten sie wissen, wie es bei uns in der Familie sei, ob wir gestritten hätten oder ob wir zu streng wären, sodass sie sich nicht nach Hause traute. Und lauter solche hirnverbrannten Sachen. Ob sie einen Freund hätte …“

Hirnverbrannt?

„… oder ob sie uns vielleicht bloß einen Streich spielen wollte.“

Meine Haltestelle kam schon in Sicht, aber sie redete einfach weiter. Ich saß wie auf Nadeln.

„Entschuldigung“, sagte ich schließlich und drückte auf den Halteknopf. „Ich muss hier aussteigen.“

Sie sah enttäuscht aus, stand aber auf, um mich rauszulassen. Ich kam mir wie eine Verräterin vor.

„Bestimmt taucht Mikaela bald auf“, tröstete ich.

Sie sah zum Fenster und schien mich schon vergessen zu haben.

Der Geruch nach Chlor schlug mir schon im Eingang entgegen. Aber meinen ersten Adrenalinstoß bekomme ich immer erst im Fitnessraum – vom Krachen der Gewichte, die aufeinanderknallen, vom Ächzen der Sportler und von der hämmernden Musik, die zwischen den kahlen Wänden hin und her hallt.

Im Dezember werde ich vierzehn, bin aber immer noch zu jung fürs Krafttraining. Papa dagegen gönnt sich meistens eine Runde, um seinen Bizeps und die Schenkelmuskeln in den diversen Foltermaschinen zu quälen. Währenddessen strample ich mich immer auf einem Trainigsfahrrad ab.

Ich blickte kurz suchend durch den Raum, bis ich hinter dem Programmdisplay eines Trainingsfahrrads den schwarz-rot gestreiften Schopf von Lina entdeckte. Lina geht in die 8 B. In der Schule grüßen wir uns bloß, reden aber nicht miteinander. Sie hat ihre Freunde, ich habe meine. Aber im Fitnessraum und in der Schwimmhalle unterhalten wir uns. Meistens natürlich übers Schwimmen, und dann stoppen wir auch gegenseitig unsere Zeiten.

„Hast du deinen Vater heute nicht dabei?“, fragte sie.

„Er hat was anderes vor.“

„Dann bist du also mit dem Fahrrad gekommen?“

Ich setzte mich auf das Trainingsfahrrad neben ihr, stellte ein Programm ein und begann zu treten.

„Mein Fahrrad ist geklaut worden. Ich hab den Bus genommen.“

Dein Fahrrad?“

Sie war taktvoll genug, um nicht loszukichern, aber mir war klar, was sie dachte. Nur ein totaler Idiot klaut ein gestreiftes Fahrrad.

„Ich glaube, ich weiß, wer es genommen hat“, sagte ich.

„Wer denn?“

„Mikaela.“

„Und warum?“

„Weil sie es super findet, anderen Leuten das Leben zu vermiesen.“

„Aber ihr seid doch Nachbarn?“

„Keine guten Nachbarn.“

„Es heißt, sie sei verschwunden.“

„Ich glaube, sie hat sich bei Oscar verkrochen und traut sich nicht nach Hause.“

„Das hat sie nicht“, bemerkte Lina bestimmt. „Gestern war sie zwar dort, ist aber um zehn gegangen.“

Zuerst fragte ich mich, woher Lina das wissen wollte, doch dann fiel mir ein, dass Oscar in ihre Klasse geht.

„Oscar hat in der Schule groß damit angegeben, wie Hannamaria an ihm geklebt hat“, fuhr Lina fort. „Und wie Mikaela dann sauer geworden und abgehauen ist.“

Das Gerücht stimmte demnach! Mikaela und Hannamaria waren tatsächlich in ein und denselben Jungen verknallt!

„Er hätte sich doch wehren können, oder?“

„Scheint ihm aber gefallen zu haben.“

„Aber vielleicht ist sie später noch einmal zurückgekommen, nachdem Hannamaria nach Hause gefahren war?“

„Davon hat er nichts erwähnt.“

„Und auf welche von beiden steht er wirklich?“

„Keine Ahnung. Also ist sie noch nicht nach Hause gekommen?“

„Nein. Ich hab ihre Mutter im Bus getroffen … und die hat versucht mich zu verhören … wollte wissen, wo Mikaela steckt.“

Ich stieß die Worte keuchend heraus. Die kleinen leuchtenden Lämpchen auf dem Programmdisplay zeigten an, dass ich gerade eine stramme Steigung hinaufstrampelte.

„Vielleicht versteckt sie sich bei Hannamaria“, überlegte Lina.

„Eher nicht, wenn sie sich wegen Oscar gestritten hatten.“

Linas Gesicht war rot und schweißglänzend. Sie hatte aufgehört zu treten und keuchte schweigend vor sich hin.

Mein Programmdisplay begann zu blinken. Ich war ebenfalls am Ziel.

„Das ist erst mal genug“, schnaufte ich. „Ich muss auch noch Puste fürs Schwimmen haben. Und für den Heimweg. Und fürs Gassigehen mit dem Hund.“

Mit dem Hund.

„Weißt du, was heute Morgen passiert ist?“, stieß ich keuchend aus, während wir zu den Duschen hinüberwankten.

Ohne ihre Antwort abzuwarten, begann ich von Glöckchen zu erzählen.

Todeswald
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