KAPITEL 46
Im Laufe der Nacht war noch mehr Schnee gefallen. Vor dem Fenster breitete sich eine winterliche Bilderbuchlandschaft mit schneebedeckten Tannen und Büschen aus. Selbst die dünnsten Zweige waren von Raureif überzogen. Von den Straßenlampen hingen Eiszapfen herab, die Luft war frisch und klar.
Die Sonne schien vom leuchtend blauen Himmel, aber weit hinten türmten sich bedrohliche Wolken auf. Sie sahen fast wie Berggipfel aus und ließen mich an unseren Skiurlaub in den Osterferien denken.
Am Nachmittag begab ich mich mit Wuff in die blaue Dämmerung hinaus. Am Horizont, wo die Sonne soeben untergegangen war, schimmerte der Himmel noch hellblau.
Papa kam gleichzeitig mit uns nach Hause.
„Heute schlage ich groß zu“, sagte er und zwinkerte mir zu.
„Wie denn?“
„Ich führe deine Mutter aus! Zuerst ins Kino und dann zum Essen. Können wir bis morgen mit dem Schwimmen warten?“
„Ja … klar.“
„Es macht dir doch nichts aus, heute Abend allein zu sein?“
„Ihr könnt gern gehen.“
Allein war ich sowieso meistens. Außerdem hatte ich selbst ja vorgeschlagen, dass sie etwas Schönes zusammen unternehmen sollten. Allerdings wäre ich gern mitgekommen.
Bald schwebten nur noch die vertrauten Gerüche im Flur, die Mama und Papa hinterlassen hatten. Was macht man so ganz allein an einem Freitagabend? Linus war sauer auf mich und Jo hatte bestimmt vor dem Turnier genug mit ihren Pferden zu tun.
In meinem Zimmer watete ich durch schmutzige Klamotten und im Schrank hingen kaum noch saubere Sachen. Vor allem meine Lieblingsjeans nicht, die ich anziehen wollte, wenn ich morgen Jo besuchte.
Ich könnte natürlich waschen.
Das tat ich nicht übertrieben oft. Eigentlich eher selten. Nie, wenn ich ehrlich sein soll.
Aber irgendwann musste das erste Mal sein. Und wie schwierig konnte das für eine technisch begabte Person wie mich schon sein?
Nachdem ich die Waschmaschine mit Jeans, Schlüpfern, T-Shirts und Pullis gefüttert hatte, war die Trommel immer noch nur halb gefüllt. Ich durchwühlte den Wäschekorb nach weiterer Schmutzwäsche und entschied mich schließlich für Papas blaue Hose. In den Hosentaschen klapperte etwas. Ich angelte eine Handvoll Münzen und einen Zettel heraus.
Kurz bevor ich den Zettel wegwerfen wollte, überprüfte ich sicherheitshalber, was es war. Eine Benzinquittung. Demnach hatte Papa in Jönköping getankt.
Plötzlich fiel mir ein, dass ich vor einer Woche einen Zettel in Papas Auto gefunden und in die Tasche meiner Jeans gesteckt hatte. Wahrscheinlich lag er immer noch dort.
Ich zog die Jeans aus der Trommel und grub den Zettel hervor. Es war eine handgeschriebene Quittung von KS Autoblech & Lack. Auf der Quittung stand ein Datum, das aber so verschmiert war, dass der eigentliche Tag nicht zu lesen war. Jedenfalls stammte die Quittung vom Oktober dieses Jahres.
Ich kratzte mich am Kopf. Was hatte das jetzt wieder zu bedeuten? KS. Das war doch Kalle Svenssons Werkstatt!
Zwar war es schon spät am Freitagnachmittag, aber ich riskierte dennoch einen Anruf.
Gleich beim ersten Ton wurde abgenommen.
„Kalle Svensson“, meldete sich eine genervte Stimme.
„Hallo, hier ist Svea … also, Sie wissen wahrscheinlich, wer?“
„Ja, schon, aber wir haben geschlossen. Ruf am Montag wieder an.“
„Ich wollte nur kurz was fragen.“
„Ich hab doch gesagt, dass du am Montag anrufen sollst.“
„Bitte, das dauert auch gar nicht lang!“
„Um was geht’s denn?“
„Mein Vater hat seinen V70 in Ihre Werkstatt gebracht. Hatte der Wagen eine Beule?“
„Das ist meistens einer der Gründe, warum man seinen Wagen zu uns bringt. Worauf willst du hinaus?“
„Nur so … ist es möglich, dass er etwas überfahren hatte?“
„Frag ihn doch.“
Er legte auf.
Ich versuchte Klarheit in meine Gedanken zu bringen.
Papas Auto war also doch in einer Werkstatt gewesen. Weil er einen Hasen überfahren hatte? Aber warum behauptete er dann, er hätte das Auto selbst repariert?
Er war ja nicht einmal in der Nähe von Stockholm gewesen, konnte also nichts mit Glöckchens Unfall zu tun haben. Von dem Mord an Mikaela gar nicht erst zu reden.
Er war weit weg gewesen …
Plötzlich erinnerte ich mich an etwas. Papa schrieb immer auf, wo er gewesen und wie viele Kilometer er täglich gefahren war, um das später seinem Chef berichten zu können. Sein Fahrtenbuch lag für gewöhnlich im Handschuhfach.
Das Auto stand in der Garage, war aber abgeschlossen. Er trug doch wohl den Schlüssel nicht mit sich herum?
Ich öffnete die Tür zu seinem Schrank. Der Duft seines Rasierwassers stieg mir in die Nase.
Papas Duft.
Ich biss die Zähne zusammen und machte weiter. Nachdem ich eine Weile gesucht hatte, fand ich den Schlüssel in einer Jackentasche. Schnell lief ich zurück in die Garage und schloss das Auto auf.
Meine Finger zitterten, als ich das Handschuhfach öffnete. Das Fahrtenbuch lag zuoberst. Mit seiner unordentlichen Schrift hatte Papa Tag für Tag notiert, wo er gewesen war, und Angaben über den Zählerstand bei Start und Ankunft gemacht. Die Fahrstrecke variierte von einigen Kilometern pro Tag bis sechs- bis siebenhundert Kilometern täglich.
In mir wurde Hoffnung lebendig.
Mit dem Fahrtenbuch in der Hand lief ich nach oben in mein Zimmer. Im Kalender hatte ich etwas notiert.
22. Oktober. Glöckchen überfahren!
Eine Woche später hatte ich MIKAELA geschrieben. Und ein Kreuz hinter ihren Namen gemalt.
Ich durchsuchte das Fahrtenbuch, getrieben von der wilden Hoffnung, Papa ein für alle Mal von jeglichem Verdacht reinwaschen zu können. Gleichzeitig zitterte ich bei dem Gedanken, einen Beweis für das Gegenteil zu finden.
22. Oktober. Trelleborg. Nicht Stockholm.
Yesss! Ich liebe Trelleborg!
Er war am Donnerstag hingefahren und am folgenden Tag über Jönköping nach Stockholm zurückgefahren.
An jenem furchtbaren Abend war er weit, weit weg gewesen!
Vor Erleichterung wurde mir ganz schwach.
Das hielt eine Weile an. Dann begann ich zu überlegen. Womöglich erinnerte ich mich falsch. Vielleicht lag Trelleborg in der Nähe von Stockholm!
Der Atlas stand im Wohnzimmer im Bücherregal. Trelleborg zu finden ging schnell. Es lag weit unten im Süden!
Dann schaute ich die Karte wieder an – mit weit aufgerissenen Augen.
Die Entfernung zwischen Trelleborg und Jönköping war genauso groß wie die zwischen Trelleborg und Stockholm.
In dem Atlas gab es eine Tabelle, wo man den Abstand zwischen den Städten in Kilometern ablesen konnte.
Der Abstand Stockholm–Jönköping und Jönköping-Trelleborg unterschied sich nur um einen Kilometer. Er hätte genauso gut hierher fahren, aber einen anderen Ort ins Fahrtenbuch eintragen können.
Okay. Aber warum?
Warum verschwieg er die Autoreparatur …?
Ein Kunde oder Kollege müsste bestätigen können, ob er in Trelleborg gewesen war oder nicht.
Ich wählte auf gut Glück die Nummer seiner Arbeit, aber die Telefonzentrale hatte geschlossen und der Anrufbeantworter war eingeschaltet.
Dann durchstöberte ich das Handschuhfach, die CDs, die halb leeren Bonbonschachteln und zahllosen Quittungen, in der Hoffnung, eine Hotelrechnung oder Benzinquittung zu finden, irgendeinen Beweis dafür, wo er gewesen war.
Bis ich auf das stieß, was ich suchte.
Eine ganz normale Quittung von einer Tankstelle.
In Södertälje. Also kurz vor Stockholm.
Das Datum war der einundzwanzigste Oktober. Der Tag, bevor ich Glöckchen gefunden hatte.
Das Zimmer drehte sich um mich.
Papa war nicht in Trelleborg gewesen, sondern ganz in der Nähe.
Warum hatte er gelogen?
Mir fiel nur ein einziger denkbarer Grund ein.
Er hatte keinen Hasen überfahren, sondern ein größeres Tier. Papa musste derjenige sein, der Glöckchen überfahren und sie blutend im Gebüsch zurückgelassen hatte!
Aber – ich wagte den Gedanken kaum zu denken – hatte er auch Mikaela umgebracht?
Er war seither irgendwie verändert gewesen. Schweigsam. Hatte sich zurückgezogen. Hatte nicht mit mir schwimmen wollen.
Falls er meine Freundin ermordet hatte, war das kein Wunder.
Dieser Gedanke war zu ungeheuerlich, den konnte ich nicht weiterdenken.
Mein Papa.
In meinem Zimmer war alles so wie immer. Unaufgeräumt und gemütlich. Wuff schlief selig im Kissenmeer auf meinem Bett.
Während draußen die Dämmerung anbrach und es dunkel wurde, saß ich nur da und starrte vor mich hin.
Ich konnte nicht zur Polizei gehen und meinen eigenen Vater anzeigen. Unmöglich!
Ich begann im Zimmer auf und ab zu tigern, schrie und heulte.
Ich musste mit jemandem reden, meinen grauenhaften Verdacht loswerden. Das alles war natürlich ein einziger Irrtum!
Immerhin hatte ich schon eine denkbare Erklärung dafür gefunden, was mit Glöckchen passiert war. Und mit Mikaela.
Ein zu schnell fahrender Luxusschlitten. Und eine Zeugin, die zum Schweigen gebracht werden musste.
Die Benzinquittung in Papas Handschuhfach hatte vielleicht gar nichts mit ihm selbst zu tun.
Und die Reparatur?
Ich nahm mir noch einmal die Quittung aus Kalle Svenssons Werkstatt vor. Sie war fast unleserlich. Ein vierstelliger Betrag. Es konnte genauso gut zweitausend wie achttausend heißen. Aber vielleicht hatte Kalle in seinem Büro irgendeinen Kalender oder ein Arbeitsbuch, in dem stand, was er mit Papas Auto gemacht hatte.
Ich musste Linus erreichen. Er könnte mich ins Büro schmuggeln, um nachzuschauen.
Ich drückte auf die gespeicherte Nummer von Linus’ Handy. Es läutete immer wieder, aber niemand antwortete. Mir war klar, warum. Er war immer noch sauer auf mich und meldete sich nicht, wenn er meine Nummer sah.
„Ruf mich an“, flehte ich seine Mailbox an.
Ich spähte zu seinem Haus hinüber. Dort war alles dunkel.
Aber vielleicht war Kalle Svensson noch in seiner Werkstatt? Ich hatte ja erst vor Kurzem mit ihm gesprochen. Wenn ich ihm erklärte, wie wichtig es war, würde er mir bestimmt helfen, auch wenn er noch so gestresst wäre.
Mit brennenden Augen wählte ich noch einmal Kalle Svenssons Nummer.
Es läutete, dauerte ewig. Fast hätte ich aufgelegt, doch dann hörte ich eine atemlose Stimme.
„Ja, hier ist Kalle, bin mitten in der Ar…“
„Bitte, Herr Svensson, legen Sie nicht auf!“
„Bist du das, Svea?“
„Ja. Und ich habe ein paar dringende Fragen. Es hat mit Mikaelas Mord zu tun. Es ist wichtig. Ich hab erfahren, dass …“
„Komm her, dann können wir uns in aller Ruhe unterhalten“, unterbrach er mich.