KAPITEL 17
Den ganzen Tag herrschte graues, düsteres Nieselwetter.
Auf dem Heimweg von der Schule machte ich den Umweg am Laden vorbei, um die beiden Abendzeitungen Expressen und Aftonbladet zu kaufen.
In beiden stellte Mikaela die Schlagzeile.
Vermisste Vierzehnjährige tot aufgefunden!
Mikaela lächelte mir von der Titelseite entgegen. Es war ein Schulfoto, das ich auch hatte. Wir hatten erst vor ein paar Wochen Freundschaftsfotos ausgetauscht. Ich warf nur einen kurzen Blick darauf und traute mich nicht weiterzulesen.
Es war unwirklich. Ein junges Mädchen war gestorben.
Ich versuchte nicht daran zu denken, dass es sich um Mikaela handelte.
Auf der Straße traf ich eine Nachbarin, die mit ihrem Dackel unterwegs war. Max’ Frauchen ist so alt wie meine Oma, rundlich, mit munteren braunen Augen, genau wie der Hund.
Ich bückte mich, um Max zu streicheln, wir wechselten ein paar Worte übers Wetter. Die Zeitungen lagen zusammengefaltet in meiner Schultasche. Max’ Frauchen sagte nichts über Mikaela.
Alles war wie immer.
Bis mir die Wahrheit zu Hause wieder ins Gesicht geschleudert werden würde.
Das Leben war nicht wie immer.
Ich kam zu Hause an, schlüpfte aus den Turnschuhen, zog ruhig meine Jacke aus und hängte sie in der Eingangsdiele auf einen Kleiderbügel. Wuff und ich zerrten um die Wette an einem Teddy, bis Wuff aufgab und sich mit zufriedenem Knurren in ihren Korb unter der Treppe legte.
Meine Hände zitterten, als ich schließlich all meinen Mut zusammennahm und die Zeitungen hervorholte.
Der ganze Mittelteil im Aftonbladet war Mikaela gewidmet, wie sie verschwunden war und wo man sie gefunden hatte. Und dazu ein Foto vom Wald.
Ich begann mit klopfendem Herzen zu lesen:
Das seit Mittwoch vermisste vierzehnjährige Mädchen ist gestern in einem Waldgebiet südlich von Stockholm tot aufgefunden worden.
Ein Hundebesitzer, der seinen Hund in der beliebten Freizeitgegend ausführte, hatte die Leiche unter einem Gebüsch versteckt gefunden. Der Mann verständigte die Polizei kurz nach 22 Uhr. Das Gebiet wurde sofort abgeriegelt, Techniker der zuständigen Polizeidienststelle untersuchten die Gegend.
Bald wurde bestätigt, dass das tote Mädchen mit der verschwundenen Vierzehnjährigen identisch ist.
Am späten gestrigen Abend haben wir Anne-Lie Arvidsson, die Sprecherin der Polizei, am Fundort interviewt.
„Das Mädchen ist einem Verbrechen zum Opfer gefallen, auf die Art ihrer Verletzungen können wir jedoch nicht näher eingehen“, teilte sie mit.
„Wie ist sie gestorben?“
„Es ist noch zu früh, irgendwelche Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Technik und der Gerichtsmediziner befinden sich noch im vollen Einsatz.“
„Es heißt, der Körper sei übel zugerichtet gewesen.“
„Kein Kommentar.“
„Wissen Sie, wer für ihren Tod verantwortlich ist?“
„Nein.“
„Ist der Tod direkt nach ihrem Verschwinden eingetreten?“
„Das zu entscheiden, ist Sache des Gerichtsmediziners.“
Weiter vorne in der Zeitung war ein Bild von dem Weg zu sehen, wo wir heute Morgen gestanden hatten. Ein uniformierter Polizist stand vor der Absperrung und zeigte in den Wald hinein.
Die Artikel im Expressen waren vor allem Wiederholungen dessen, was ich bereits wusste, aber beim Lesen einer Überschrift fuhr ich dann doch zusammen: „Besteht hier eine mögliche Verbindung?“
Einen kurzen Augenblick lang dachte ich, damit sei Glöckchen gemeint. Doch dann las ich den kurzen Bericht weiter. Ein sechzehnjähriges Mädchen war im Sommer verschwunden und, genau wie Mikaela, ein paar Tage später tot aufgefunden worden.
Ich zuckte noch einmal zusammen, als ich den Namen des Ortes las.
Lillsjön.
Diesen Namen erkannte ich wieder. Dort hatten wir im Sommer ein Ferienhaus gemietet!
Es war mir neu, dass ausgerechnet dort etwas so Schreckliches passiert war. Aber dass ich die meisten Nachrichten nicht mitkriege, ist kein Wunder, weil ich das Weltgeschehen normalerweise nicht besonders aufmerksam verfolge.
Mehr darüber zu erfahren, war ja kein großes Problem.
Ich ging zu meiner Mutter. Ihr Atelier ist der größte Raum in unserem Haus. Es ist fast sechs Meter hoch und das riesige Sprossenfenster bedeckt die ganze Fassade.
„Störe ich?“
„Mhm.“
Ich hörte ihrer Stimme an, dass das der Fall war. Sie klang nicht ärgerlich, befand sich jedoch in ihrer eigenen Welt. Das mannshohe Bild, an dem sie gerade malte, stellte einen blau-weiß gestreiften Mann in einem Boot mitten auf einem stürmischen Meer dar.
„Jesus?“
„Poseidon, der Meeresgott. Wie war es heute in der Schule?“
Bestimmt würde sie sich nicht mit dem üblichen „gut“ begnügen.
„Anstrengend. Der Rektor hielt eine Ansprache, wir hatten eine Schweigeminute, machten Kerzen an, zeichneten und unterhielten uns.“
„Und wie fühlst du dich jetzt?“
Als Antwort seufzte ich und sah auf den Boden.
„In der Zeitung steht was über Mikaela“, sagte ich, nachdem ich mich wieder gefangen hatte.
„Hast du sie gekauft?“
„Ja, beide Abendzeitungen. Sie liegen in der Küche.“
„Ich lese sie nachher.“
Sie wartete. Mir war klar, dass sie weiterarbeiten wollte. Gleichzeitig empfand sie wahrscheinlich die Verpflichtung, als Mutter zu trösten, zuzuhören und anwesend zu sein.
„Wie hieß der Ort, wo wir im Sommer das Ferienhaus gemietet haben?“, fragte ich.
Dies war keine Frage, die sie erwartet hatte. Sie sah mich erstaunt an, bevor sie die Arme zu einer Geste erhob, die leicht zu deuten war.
„Ich und Ortsnamen!“
„Hieß er nicht Lillsjön?“
Sie stöhnte leicht.
„Keine Ahnung.“
„Hast du das nirgends aufgeschrieben?“
„Doch, hab ich bestimmt, aber jetzt gerade hab ich keine Zeit, danach zu suchen.“
Jetzt klang sie eindeutig ärgerlich.
„Ich kann danach suchen“, schlug ich vor.
„Hab keinen Schimmer, wo du suchen sollst. Warum willst du das wissen?“
„Im Sommer wurde bei Lillsjön ein Mädchen ermordet. Genau wie Mikaela.“
„Und?“
„Na ja, so halt.“
„Bitte, Svea, lass mich das hier zu Ende bringen. Ist doch bestimmt nicht so wichtig, ob du eine oder zwei Stunden wartest. Ich schau später nach.“
Ich jedenfalls fand es unheimlich, dass nicht nur ein, sondern zwei junge Mädchen in meiner nächsten Nähe ermordet worden waren.
Verärgert schlug ich die Tür übertrieben laut hinter mir zu, glaube aber kaum, dass sie das merkte.
Ich hatte keine Lust zu warten.
Da fiel mir etwas ein. Ich könnte ja Papa anrufen.
Er meldete sich sofort, als hätte er auf meinen Anruf gewartet.
„Hallo, Spatz! Wie sieht’s aus bei euch?“
„Gut.“
Warum sagt man das immer? Hier war doch überhaupt nichts gut. Mikaela war tot.
„Ich hab gehört, dass sie Mikaela gefunden haben“, sagte er ernst.
„Mhm.“
„Warst du schon dort?“
„Ja. Aber der Wald ist abgesperrt. Eine Menge Leute waren da.“
„Vor Mikaelas Haus auch?“
„Nein, nur zwei Fotografen, die darauf warten, dass jemand rauskommt. Und vor der Einfahrt stehen mehrere Autos.“
„Die geben nie auf.“ Papa seufzte. „Haben sie dir etwa auch mit ihren Fragen zugesetzt?“
„Ich hab mich abseits gehalten, als sie die Leute bei der Absperrung interviewten. Aber die Autos an der Einfahrt gehören wahrscheinlich Mikaelas Verwandten.“
„Ihre Eltern werden alle Unterstützung brauchen, die sie bekommen können. Und du?“
„Was denn?“
„Wie geht es dir?“
„In der Schule hat das Krisenteam mit uns gesprochen.“
„Gut.“
Kurz sauste nur Stille durch die Luft.
„Hör mal, Papa, wie hieß dieser Ort noch mal, wo wir im Sommer Ferien gemacht haben? Das war doch Lillsjön, oder?“
„Warum fragst du das?“
Plötzlich klang seine Stimme irgendwie schärfer. Oder bildete ich mir das bloß ein?
Die ganze Geschichte strömte aus mir heraus – ich hätte in der Zeitung über dieses Mädchen gelesen, das genau wie Mikaela zuerst verschwunden gewesen und dann tot aufgefunden worden sei.
„Und was für eine Bedeutung soll das haben?“, fragte er, als ich zu Ende erzählt hatte.
„Na ja, bloß so halt. In der Zeitung stand, da könnte ein Zusammenhang bestehen.“
„Und?“
Ich konnte es nicht erklären.
„Das war doch Lillsjön, oder?“, sagte ich stattdessen.
„Ich glaube nicht.“
„Aber wie hieß der Ort denn dann?“
„Weiß ich nicht mehr.“
„Aha“, sagte ich enttäuscht.
Ich überlegte kurz. Der Streit, den ich gestern Abend belauscht hatte, ging mir nicht aus dem Kopf.
„Da ist noch etwas. Ich hab gehört, wie Mikaelas Mutter und Samuel Wester sich gestritten haben.“
„Wie konntest du das hören?“
„Die Terrassentür stand offen.“
„Warst du in ihrem Garten?“
„Ja, aber …“
„Was um alles in der Welt hattest du dort verloren?“
„Ich hab mein Fahrrad gesucht.“
„In deren Garten?“
„Ja, ich hab nämlich geglaubt, Mikaela hätte es mir … aber jedenfalls … ich hab gehört, wie Mikaelas Mutter Samuel Wester gefragt hat, ob er etwas mit Mikaelas Verschwinden zu tun hat. Da ist er stinkwütend geworden und aus dem Haus gerannt. Soll ich jetzt die Polizei anr…“
„Geliebtes Kind, jetzt hör mir mal gut zu! Ich weiß, dass du später mal zur Polizei willst, aber bis dahin darfst du auf keinen Fall Detektiv spielen!“
„Aber wenn …“
„Mikaelas Mutter wird sicher wissen, was sie zu tun hat, auch ohne deine Einmischung. In fremden Gärten herumschleichen und Leute belauschen, das ist wirklich unmöglich! Lass diesen Blödsinn!“
„Aber ich …“
„Hör mit der Schnüfflerei auf, bevor es gefährlich wird! Versprichst du mir das?“
„Mhm.“
„Gut. Jetzt muss ich mit der Arbeit weitermachen. Ach ja. Von mir aus kannst du sie auch wegwerfen.“
„Wen?“
„Die CD.“
Zu Beginn des Gesprächs hätte ich noch gesagt, dass ich die CD immer wieder angehört und dabei Sehnsucht nach ihm gehabt hatte. Jetzt sagte ich das nicht. Ich war sauer auf ihn. Schon wieder. Er nahm mich nicht ernst.
Ich drückte auf die Aus-Taste, setzte mich aufs Bett und dachte nach.
Über Mikaela.
Und über dieses andere fremde Mädchen.
Und über den Urlaub.
Das Wetter war nicht besonders gut gewesen, aber ein paar sonnige Tage hatte es trotz allem auch gegeben. Papa war viel für sich allein gewesen, weil er müde war. Während Mama und ich zum Schwimmen radelten und Spaziergänge machten, lag er im Haus und las oder schlief. Abends spielten wir Spiele oder grillten in dem offenen Kamin Würstchen. Alle drei.
Würstchen …
Plötzlich fiel mir ein, dass ich einmal zu dem kleinen Kramladen dort geradelt war. Vielleicht hatte ich noch irgendwo die Quittung!
Ich begann zu suchen und wühlte mich lange durch alte Kinokarten, Quittungen von Weihnachtsgeschenken, CDs und anderem Zeug hindurch, bis ich fündig wurde. Es waren zwei Quittungen. Zuerst eine für ein Eis und dann eine für eine Packung Würstchen. Mama hatte mich gebeten, Würstchen zu kaufen, und als Belohnung durfte ich mir ein Eis aussuchen. Prompt vergaß ich die Wurst und musste noch einmal zurückradeln. Doch dadurch erinnerte ich mich an den kleinen Laden.
Ganz oben auf den Quittungen stand der Name des Ladens. Lillsjöns Delikatessen.
Warum konnte Papa sich nicht daran erinnern? Er, der sonst sämtliche Ortsnamen wie ein Wasserfall herunterzurattern pflegte.
Wahrscheinlich wollte er mich daran hindern, „Detektiv zu spielen“, eine andere Erklärung fiel mir nicht ein. Er glaubte wohl, ich bilde mir ein, der Zufall, der mich in die Nähe von zwei Mordschauplätzen geführt hatte, hätte mich dazu bestimmt, weitere Nachforschungen über den Tod der beiden anzustellen.
Was genau meinen Plänen entsprach.
Das war ich Mikaela schuldig, wegen der vielen hässlichen Dinge, die ich über sie gedacht hatte.
Ich setzte mich an den Computer und suchte nach Artikeln, die über den Lillsjön-Mord geschrieben worden waren. Ziemlich schnell stellte ich fest, dass die beiden Fälle sich unterschieden. Das Mädchen, Anna, war etwas älter, sechzehn, und war bereits am Tag nach ihrem Verschwinden gefunden worden. Aber es gab auch Gemeinsamkeiten. Anna war ebenfalls wütend von einer Fete bei ihrem Freund abgehauen, um danach erschlagen im Wald gefunden zu werden.
Und das war genau in der Zeit passiert, als wir dort waren!
Und der Mörder befand sich immer noch auf freiem Fuß!