KAPITEL 20

Der Wecker läutete punkt 6 Uhr 40.

Widerstrebend schlug ich die Augen auf und entdeckte, dass ich die Jalousie nicht heruntergelassen hatte. Es war sternenklar und der Mond leuchtete hell. Er war beinah voll, nur unten fehlte etwas, als hätte jemand ein großes Stück abgebissen.

Ich duschte, verdrückte zwei Brote und trank Milch dazu.

Wie immer.

Und dennoch war es nicht wie immer.

Mikaela war tot.

Und inmitten all der Traurigkeit war ich auf dem besten Weg, mich in einen Jungen zu verlieben, der mich unbeholfen und schusslig fand, aber dennoch okay. Das gab Anlass zur Hoffnung. Er hatte das Schlimmste gesehen und fand mich trotzdem in Ordnung.

Ich musste die Zeitung ziemlich lange durchblättern, bis ich etwas Neues über Mikaela entdeckte. Es war nur eine kleine Notiz darüber, dass die Polizei Zeugen suchte und Informationen über Beobachtungen in der Nähe des Tatorts.

Ich musste wieder an den Streit denken, den ich vor Mikaelas Haus belauscht hatte. Und an Samuel Westers Auto, das Linus und ich auf dem Fahrweg gesehen hatten. Das bewies zwar nur, dass Wester es riskierte, auf diesem Holperweg zu fahren. Aber allein die Tatsache, dass er sich ab und zu dort befand, machte ihn verdächtig, zumindest was Glöckchen betraf. Im Übrigen galt das auch für alle anderen, die auf diesem Weg fuhren.

Ich spähte hinaus. Samuel Westers Volvo stand auf der Garageneinfahrt. Er war zu Hause.

Drüben war Licht in der Küche.

Ich schlüpfte in meine Kleider, lief zum Nachbargrundstück rüber und sah mir die Kühlerhaube von Samuel Westers Wagen genau an. Das heißt, so genau es ging im Licht der Straßenlaterne, das von hinten auf den Wagen fiel und die Kühlerhaube im Schatten ließ. Ich hätte eine starke Taschenlampe gebraucht, um eine sauber ausgeführte Neulackierung entdecken zu können. Aber hier im Dunkeln konnte ich nicht die Spur eines Schadens erkennen.

Plötzlich entdeckte ich Mikaelas Mutter. Sie lief rastlos in der Küche hin und her, mit zerzausten Haaren und im Morgenrock. Sie bewegte sich wie ein gestresster Tiger, den ich einmal im Zoo gesehen hatte: stand keine Sekunde lang still.

Auf einmal begann sie sich immer schneller zu bewegen, bis sie im Kreis herumrannte. Das sah unheimlich aus, aber gleichzeitig begriff ich, was sie tat. Sie rannte sich ihren Zorn und ihre Verzweiflung vom Leib, ihre Verzweiflung darüber, dass sie ihre Tochter verloren hatte.

Ihre Trauer mit anzusehen, bereitete mir körperliche Schmerzen, ich konnte aber nur machtlos dastehen, bis ich vor Tränen nichts mehr erkannte.

Schließlich rannte ich wieder ins Haus und warf mich aufs Bett. Wuffs warme Zunge fuhr mir tröstend übers Gesicht.

Samuel Wester hätte niemals bei Mikaelas Mutter bleiben und so tun können, als ob nichts geschehen wäre, wenn er Mikaela etwas angetan hätte. Das war vollkommen unmöglich!

Um halb acht ging ich mit Wuff nach draußen und da war Westers Auto nicht mehr da. Im Osten färbte sich der Himmel rötlich. Es war kalt, mehrere Grad unter null. Ich fror an den Beinen und Händen. Wuff missfiel die plötzliche Kälte genauso sehr wie mir. Kaum hatte sie ihr Geschäft erledigt, zerrte sie an der Leine und wollte wieder nach Hause.

Welch ein Glück, dass Glöckchen nicht in einer Nacht wie dieser draußen gelegen hatte. Und Mikaela auch nicht.

Der Schultag verlief zäh. Ich dachte an den Nachmittag und überlegte, was ich anziehen sollte und ob ich etwas mitbringen müsste, wenn ich Linus besuchte. Vielleicht eine Art Kuchen?

Im Kochen bin ich alles andere als ein Ass, aber einen Topfkuchen müsste ich wohl noch zusammenrühren können, sagte ich mir auf dem Heimweg von der Schule. Das konnte doch nicht so schwierig sein?

Der harte Klumpen, den ich knapp eine Stunde später aus dem Backofen holte, erinnerte kein bisschen an das farbenfrohe Bild im Kochbuch. Oder an die Topfkuchen, die ich bisher gegessen hatte.

„Ich hab gedacht, du kommst gleich nach der Schule“, sagte Linus, als ich mit zweistündiger Verspätung bei ihm klingelte.

„Ich hab gebacken!“

„Lecker!“

„Neei-in!“

„Nein? Was hast du denn gebacken?“

„Etwas Plattes, Angebranntes und Steinhartes, das jetzt im Abfalleimer liegt.“

Irgendwo drinnen im Haus winselte und jaulte Glöckchen. Ich hängte meine Jacke auf und schlüpfte schnell aus den Schuhen.

„Wo ist sie?“

„In der Küche.“

Glöckchen lag auf einer Matratze in der hintersten Ecke. Sie war mit einem Strick am Heizkörper angebunden. Als sie Anstalten machte, sich zu erheben, befahl Linus ihr rasch, liegen zu bleiben.

„Sie darf ihre Hinterläufe nicht benutzen. Wir mussten sie mit einem Badetuch unter der Hüfte stützen.“

Ich ging zu dem großen schwarzen Hund hin. An ihrem linken Hinterlauf und der Hüfte war das Fell rasiert und wurde von einer langen Narbe verunziert. Aber ihre Laune war nicht beeinträchtigt. Sie klopfte mit dem Schwanz, zuckte am ganzen Körper und winselte vergnügt.

Ich hockte mich neben sie hin, streichelte sie und bekam eine warme Zunge übers Gesicht.

„Na, wie geht’s dir, Süße?“

„Recht gut“, antwortete Linus für sie. „Jetzt kommt es auf sie selbst an. Und auch auf uns. In der Tierklinik haben sie jeden Tag mit ihr Übungen gemacht und in nächster Zeit werden wir immer wieder dorthin fahren, damit sie die Muskeln im Wasser trainieren kann. Aber wir müssen auch hier daheim mit ihr üben.“

„Leckt sie sich nicht an der Wunde?“

„Wenn sie allein ist, muss sie einen Plastikkragen tragen.“

Dann wurde es eine Zeit lang still, während wir bekümmert die Bemühungen des Hundes beobachteten, eine Stellung zu finden, die ihm nicht wehtat.

„Welch ein Glück, dass du sie gefunden hast“, sagte Linus leise.

„Das war Wuffs Verdienst.“

Er nickte wortlos.

Plötzlich sprang er auf.

„Oh, entschuldige, möchtest du was trinken? Kaffee, Tee, Saft?“

„Gern ein bisschen Saft.“

Während er den Tisch deckte, schickte ich Papa eine Nachricht. Trotz allem war heute Freitag.

„Gehen wir schwimmen?“

Die Antwort kam sofort.

„Tut mir leid. Komme erst spät nach Hause.“

„Rutsch mir doch den Buckel runter“, murmelte ich.

„Was?“, fragte Linus.

„Hab mit Glöckchen gesprochen.“

Wir tranken Saft, futterten Kekse, redeten über die Schule, Hausaufgaben und Hunde und vermieden ernstere Gesprächsthemen. Ich hätte gern sein Zimmer gesehen, aber Glöckchen zuliebe mussten wir natürlich in der Küche bleiben. Dann brauchte sie keinen Plastikkragen zu tragen, unsere Gesellschaft tat ihr außerdem gut und beruhigte sie.

Weil Papa nicht vorhatte, mit mir schwimmen zu gehen, brauchte ich erst zum Abendspaziergang mit Wuff wieder zu Hause zu sein. Gleichzeitig war mir klar, dass ich nicht beliebig lang hier herumsitzen konnte. Irgendwann muss man gehen, sonst kann man nicht wiederkommen, sagt Opa immer.

Das Schicksal löste das Problem für mich. Oder vielmehr meine eigene Schussligkeit.

Ich schnappte mir einen Keks und wollte gleichzeitig mein Saftglas leeren. Es gelang mir, den Keks zwischen Daumen und Zeigefinger festzuhalten, aber der Saft landete mitten auf meinem hellblauen Pulli.

„Oje“, sagte Linus.

Bekümmert, aber auch etwas schüchtern musterte er den Fleck, der von dem Stoff aufgesogen wurde.

Er holte ein Handtuch und hob es unbeholfen an meine Brust, hielt aber sofort verlegen inne.

„No problem, das krieg ich schon hin“, sagte ich. „Ich muss jetzt sowieso nach Hause.“

Ich warf mir die Jacke über die Schultern und nahm schleunigst Reißaus. Innerlich verfluchte ich meine eigene Schussligkeit. Warum musste ich mich auch nach dem Keks ausstrecken wie ein gefräßiger Hund? Und außerdem noch gleichzeitig trinken?

Der Pulli gehörte zu meinen Lieblingsklamotten, darum zerbrach ich mir auch den Kopf darüber, wie ich ihn sauber bekommen sollte. Am besten gleich in die Waschmaschine stecken? Nein, lieber vorher mit Fleckenmittel versuchen.

Als ich ins Haus kam, dröhnte aus Mamas Atelier so laute Musik, dass die Scheiben klirrten. Da brauchte ich gar nicht erst zu versuchen, sie zu stören.

Ich suchte in der Waschküche und in der Küche vergebens nach dem Fleckenmittel und schließlich auch in der Garage.

Wuff begleitete mich mit eifrig wedelndem Schwanz. Etwas suchen, das war ein lustiges Spiel! Sie stöberte jede Menge herrlicher Sachen auf. Eine schmutzige Socke. Einen staubigen Ball. Eine kleine Plastikschaufel.

„Das hab ich zwar nicht gesucht, Wuff, aber trotzdem vielen Dank.“

Die Regale längs der einen Querwand waren vollgestopft mit Krempel. Aber zwischen Autowachs und Autoshampoo entdeckte ich endlich die ersehnte Sprayflasche mit Fleckenmittel. Leider standen die Winterreifen im Weg. Bald ist es wieder so weit, dachte ich. Reifenwechseln gehörte zur Frühlings- und Herbstroutine in Nisses und Jannes Werkstatt.

Ich quetschte mich zwischen die Reifen, um an die Flasche heranzukommen, und trat dabei auf etwas Spitzes.

„Au!“

Auf dem Zementboden lag ein Stück geriffeltes Glas. Ich bückte mich und hob es auf. Es war rotbraun verschmiert.

Plötzlich begriff ich. Das war Blut.

Typisch! Erst der Fleck auf dem Pulli, und jetzt blutete ich auch noch!

Mein Fuß tat zwar nicht weh, aber der Schmerz würde schon noch kommen, wenn ich die Wunde säuberte.

Ich holte die Sprühflasche vom Regal, behielt den Glassplitter in der Hand und hüpfte auf einem Bein davon, um den Schaden nicht zu verschlimmern. Wuff rannte um mich herum, begeistert von diesem neuen Spiel. Ein Wunder, dass ich nicht über sie stolperte.

Backen ist vielleicht nicht unbedingt meine Stärke, aber wie man Wunden versorgt, das weiß ich. Beim Joggen durch den Wald kann es schnell passieren, dass einer von uns über Wurzeln oder Steine stürzt.

Ich holte Wundalkohol und Pflaster aus dem Medizinschrank und setzte mich an den Küchentisch. Vorsichtig zog ich den Strumpf aus und malte mir den Anblick, der mich erwartete, schon voller Entsetzen aus. Der Glassplitter war so lang wie ein Zündholz. Die Wunde würde vielleicht sogar genäht werden müssen.

Ich hielt meinen einen Fuß mit der Fußsohle nach oben im Schoß.

Sicherheitshalber säuberte ich den ganzen Fuß mit Alkohol und verzog in Erwartung des Brennens schon mal das Gesicht.

Aber ich spürte nichts.

Ich untersuchte meinen Fuß gründlich. Wie sehr ich auch suchte, ich fand keine Wunde.

Um sicherzugehen, musterte ich zusätzlich meinen linken Fuß. Auch dort nichts zu finden.

Ich sah mir das Stück Glas noch einmal genau an. Es war voller Blut, aber als ich es anfasste, merkte ich, dass es sich um altes, getrocknetes Blut handelte.

Wo kam das nur her?

Ich dachte daran, wie Papa vor einer Woche am Auto herumlaboriert hatte und dann behauptete, mit dem Motor stimme etwas nicht. Aber mir war damals gewesen, als hätte ich eine Beule an der Kühlerhaube gesehen. Und wenn eine Beule da war, konnte auch der Scheinwerfer kaputt sein.

Warum lag ein blutiges Stück Glas auf unserem Garagenboden?

Hatte Papa etwas überfahren?

Glöckchen?

Nein!

So etwas darf ich nicht einmal denken!

Ich warf den Glassplitter in den Mülleimer, als hätte ich mich daran verbrannt, und versuchte den Gedanken abzuschütteln. Papa würde niemals einen verletzten Hund auf der Straße liegen lassen.

Niemals, niemals, niemals!

Außerdem hatte er sich weit, weit weg von hier befunden, als das passiert war.

Es gab eine natürliche Erklärung dafür, wie der Glassplitter auf unserem Garagenboden gelandet war. Ich würde Papa fragen und dann wäre alles wieder gut.

Aber warum verspürte ich dann diese eisige Unruhe im Bauch?

Todeswald
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