KAPITEL 11

Am Montagmorgen schlief ich wie ein Stein. Irgendwann weckte mich ein weit entfernter Ton. Es dauerte einige Zeit, bis ich begriff, dass es sich um den Wecker handelte. Wuff lag ausgestreckt auf meinen Beinen. Als ich aufstand, knurrte sie unzufrieden.

Ich taumelte ins Bad, drehte das Wasser auf. Erst als die Dusche den Schlaf von mir abspülte, begann ich darüber nachzudenken, wie ich den Tag am besten gestalten könnte.

Ich schlüpfte in die Jeans und den Pulli, die ich am Abend herausgelegt hatte. Bloß keine schwierigen Entscheidungen am frühen Morgen, war meine Devise.

Ein kurzer Blick in den Spiegel zeigte ein trauriges Bild.

Mein Lippen …

Ich beschloss, trotzdem in die Schule zu gehen. Falls Linus in meine Richtung schaute, könnte ich mich immer noch irgendwo verkriechen, unter einem Stein zum Beispiel.

Mama saß hinter einer aufgeschlagenen Zeitung am Frühstückstisch. Sie blätterte die raschelnden Seiten nacheinander um, vertiefte sich dann aber in einen Artikel, biss ein Stück Brot ab und kaute blind für die Umwelt vor sich hin.

Ihre Finger hatten schwarze Spuren an der Teetasse hinterlassen.

Ha!, dachte ich. Eine Spur Kohlepulver oder Ruß darübergepinselt, und schon hätte ich ihre Fingerabdrücke. Keine Ahnung wofür. Meiner Mutter kann man so manches vorwerfen, aber ganz bestimmt keine kriminellen Machenschaften.

Sie blätterte erneut um.

„Na, so was!“

Ich glaubte zuerst, mein Monstergesicht hätte sie erschreckt, aber sie las immer noch den Artikel.

„Was denn?“, fragte ich.

Beim Klang meiner Stimme fuhr sie zusammen, als hätte sie gar nicht bemerkt, dass ich da stand.

„Das muss Mikaela sein“, sagte sie leise. „Hier steht es: Vierzehnjähriges Mädchen nach einem Fest in Stockholmer Vorort verschwunden.“

Mir fiel ein, was ich in der Disco gehört hatte. Wenn Mikaela nur auf meine Warnung gehört hätte! Jetzt war es zu spät. Das war der Artikel, über den die Mädchen sich unterhalten hatten.

„Das war kein Fest. Die haben DVDs geguckt.“

„Hier steht Fest. Damit muss Mikaela gemeint sein.“

„Voll peinlich. Bestimmt ist sie bloß bei …“

Oscar, wollte ich schon sagen. Dann fiel mir ein, dass Lina das bezweifelt hatte. Außerdem konnte ich natürlich nicht petzen, egal ob sie bei Oscar war oder nicht.

„Bei?“

„Irgendeiner Freundin.“

Mama schüttelte den Kopf.

„Man hat ihren ganzen Freundeskreis befragt, aber niemand hat sie gesehen. Die letzte Spur war am Mittwochabend kurz vor zehn, als sie das Haus ihrer Freundin verließ.“

Ich stellte mich hinter Mama und las über ihre Schulter hinweg.


Jedes Jahr verschwinden ungefähr 7000 Menschen in Schweden. Die meisten kommen wieder zurück, entweder sofort oder nach einigen Wochen oder Monaten. Aber einige wenige werden früher oder später tot aufgefunden.


Tot!


Die vermisste Vierzehnjährige ist ein fröhliches Mädchen, sehr willensstark …


Das kann man wohl sagen.


… und ist vermutlich freiwillig unterwegs. Daher geht die Polizei vorerst nicht davon aus, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Ihr Verschwinden wird dennoch ernst genommen, und Personen, die möglicherweise mehr über den Aufenthaltsort des Mädchens wissen, werden gebeten, sich zu melden. Sollte sie sich bewusst fernhalten, bitten ihre Angehörigen sie dennoch inständig, wenigstens ein Lebenszeichen von sich zu geben.

Sie war schon einmal verschwunden …


Woher wussten sie das? Damals gingen wir in die dritte Klasse. Das können sie unmöglich gemeint haben.

Ich überlegte kurz. Bestimmt bezog sich das auf die Sache vom vorigen Jahr. Höchstwahrscheinlich hatten Hannamaria oder Ebba sich verplappert, weil sie es so cool fanden, interviewt zu werden. Mikaelas Mutter würde so etwas sicher keinem Journalisten verraten.

„Demnach ist sie schon einmal abgehauen?“, fragte Mama.

„Ja, vor einem Jahr.“

„Und warum?“

„Sie war damals sauer, als Samuel Wester bei ihnen einzog.“

„Ist sie das immer noch?“

„Weiß nicht.“

Über solche Sachen sprach Mikaela nicht mit mir.

„Schlimm“, sagte Mama. „Kommt mir fast so vor, als hätten sie schon entschieden …“

„Was denn?“

Die Antwort fand ich weiter unten im Text.


Gewisse ungeklärte Fragen haben die Polizei veranlasst, sich intensiver mit dem Fall zu beschäftigen. Am Abend ihres Verschwindens war es stürmisch und regnete heftig. Die Kleidung des vermissten Mädchens war für einen Aufenthalt im Freien denkbar ungeeignet.

In letzter Zeit ist des Öfteren ein unbekanntes Auto in der Gegend gesehen worden. Zwei Mädchen, acht und elf Jahre alt, wurden im Abstand von einer Woche von einem Mann angesprochen, der sie im Auto mitnehmen wollte. Beide Mädchen waren so geistesgegenwärtig, davonzurennen. Laut Zeugenaussagen war der Wagen ein heller Kombi.


„So einen haben doch alle hier in unserem Viertel“, bemerkte Mama.

„Und halb Schweden“, murmelte ich und las weiter:


Die Polizei hat Hinweise von Personen erhalten, die glauben, die verschwundene Vierzehnjährige gesehen zu haben, dies hat jedoch zu keinerlei Resultaten bei der Suche geführt. Das Mädchen ist eine auffällige Erscheinung, und dass niemand mit Gewissheit sagen kann, sie gesehen zu haben, lässt darauf schließen, dass sie nicht lange im Freien unterwegs gewesen ist.

Folgende Theorien werden verfolgt:

• Sie ist freiwillig verschwunden, um ihren Freunden eins auszuwischen.

• Sie war vielleicht so verzweifelt, dass sie sich selbst etwas angetan hat.

Dies wird von ihrer Mutter ausgeschlossen. Die Mutter beschreibt die Vierzehnjährige als fröhliches, positives Mädchen, das dergleichen nie tun würde.


„Was glaubst du?“, fragte Mama.

„Das Gleiche wie ihre Mutter.“


In der näheren Umgebung liegen mehrere Wochenendhäuser, die um diese Jahreszeit unbewohnt sind. Für den Fall, dass sie sich dort versteckt hat, wird die Polizei sämtliche untersuchen. Sie könnte dort Schutz vor dem Regen gesucht und sich irgendwie verletzt haben und danach nicht in der Lage gewesen sein, sich von dort zu entfernen oder telefonisch Hilfe zu holen. Die Polizei hat mit Unterstützung eines Mobilfunkunternehmens die Gespräche auf ihrem Handy untersucht, das Handy ist zuletzt am Abend ihres Verschwindens benutzt worden. Das Zurückverfolgen der Gespräche, die von dem Handy aus geführt wurden, hat auch keine neuen Hinweise ergeben. Als weitere Alternative könnte sie in ein Auto gezerrt und entführt worden sein. Die Polizei wird überprüfen, ob sich irgendwelche bekannten Gewalttäter in der Gegend aufgehalten haben.


„Stell dir vor, wenn ihr tatsächlich etwas zugestoßen ist“, sagte Mama leise.

Etwas Schreckliches, meinte sie natürlich, brauchte es aber nicht auszusprechen. Ich begriff es auch so.

„Sie taucht bestimmt wieder auf“, sagte ich.

Eine andere Möglichkeit gab es für mich nicht. Mikaela versteckte sich, um Hannamaria zu bestrafen. Oder Oscar. Oder ihre Mutter. Oder alle drei. Das würde ihr ähnlichsehen.

Kurz spielte ich mit dem Gedanken, ebenfalls zu verschwinden, um Papa zu bestrafen, der mich nicht an sein Auto heranließ. Doch der Gedanke scheiterte daran, dass mein Geldbeutel nur acht Kronen enthielt. Außerdem wäre es mir unmöglich gewesen, Wuff zu verlassen.

Ich hobelte ein paar Käsescheiben ab und warf eine davon hoch. Wuff fing sie mit einem eleganten Luftsprung, verschlang sie und setzte sich dann wieder hin, um weiterhin jeden einzelnen Bissen, den ich nahm, zu bewachen, in der Hoffnung auf weitere Leckereien.

Nach dem Frühstück lief ich noch rasch mit Wuff in den Wald, bevor ich mich auf den Weg in die Schule machte.

Dort war Mikaela wieder das Gesprächsthema des Tages. Alle hatten den Bericht in der Zeitung gelesen.

Hannamaria wusste nicht mehr als ich. Sie hatte ebenfalls versucht, Mikaela per Handy oder SMS zu erreichen, aber keine Antwort erhalten. Was an und für sich kein bisschen erstaunlich war, falls Mikaela tatsächlich aus Ärger über Hannamaria abgehauen sein sollte. Trotzdem hielt Hannamaria vor der halben Klasse Hof. Die fanden es natürlich total cool, dass sie interviewt worden war.

Meine dicke Lippe wurde nicht bemerkt.

Jo schien vergessen zu haben, dass sie in der Disco sauer geworden war, und verhielt sich so wie immer. In der Mittagspause saßen wir mit ein paar Jungs aus der Klasse am Tisch.

„Willst du wirklich die ganze Ladung auf einmal in dich reinstopfen?“, fragte Jo, spießte ein Fleischbällchen auf und biss manierlich ein Stückchen ab.

Ich sah die Riesenportion Kartoffelbrei an, die auf meiner Gabel wartete.

„Warum?“

„Linus ist gerade reingekommen“, sagte Jo und deutete mit der Gabel hinüber.

„Und?“

„Ich hab gedacht, das interessiert dich.“

„So wie du rüberglotzt, scheint es eher dich zu interessieren.“

Aber ich legte die Gabel hin und trank nur einen Schluck Wasser, während ich in die Richtung schielte, in die Jos Gabel gezeigt hatte. Man möchte schließlich nicht wie ein Hamster mit prall gefüllten Backentaschen aussehen, wenn der Angebetete in der Nähe ist.

Linus begann seinen Teller mit Salat und übrigem Essen zu füllen.

„Jetzt bist du diejenige, die glotzt“, stellte Jo fest.

„Bin ich gar nicht. Ich wollte nur …“

Ich sah auf meinen Teller, schob die Fuhre von der Gabel und jagte stattdessen einem Fleischbällchen hinterher, während ich mir die Fortsetzung überlegte.

„… checken, ob der Speisesaal voll ist.“

„Aha?“

„Oma und Opa wollen immer alles über die Schule wissen. Wir fahren sie an Allerheiligen besuchen.“

Jo sah mich an und schüttelte den Kopf.

„Ich dachte, wir wären Freundinnen“, sagte sie kalt.

„Das sind wir auch.“

„Kommt mir nicht so vor“, sagte sie.

Sie ließ das Besteck so heftig aufs Tablett fallen, dass es gegen das Glas schepperte.

Aber ich hatte keine Zeit, um sie zu beschwichtigen, weil ich mich gerade fast verschluckt hätte. Linus steuerte direkt auf uns zu. Mein Herz hämmerte im Takt mit seinen Schritten.

Er setzte sich mit seinem Essenstablett neben mich. Da rückten Samir und Marko auch an unser Tischende heran.

„Sieht inzwischen schon nicht mehr so schlimm aus“, meinte Linus und deutete mit der Gabel auf mich, bevor er sie im Kartoffelbrei vergrub.

„Mann, in was für einer Schlägerei warst du denn?“, rief Samir grinsend aus.

„Du hättest erst mal den Kerl sehen sollen, mit dem ich mich gezofft hab“, sagte ich.

Linus verzog den Mund, aber ich versuchte ihn möglichst nicht anzuschauen. Ich befürchtete, er könnte merken, wie meine Hände zitterten, wenn er mich ansah.

„Wie geht’s Glöckchen?“, fragte ich ihn.

„Besser.“

Ich wagte nicht zu fragen, was das heißen sollte, weil ich fest davon überzeugt war, dann zu erröten. Stattdessen begann ich mich mit Jo über den Englischtest zu unterhalten, den wir am Nachmittag schreiben würden. Erst als die Jungs dazu übergegangen waren, irgendeine Fernsehsendung zu dissen, traute ich mich, einen Blick auf ihn zu werfen.

Er sah einfach unverschämt gut aus!

Aber ich sorgte dafür, jedes Mal in eine andere Richtung zu schauen, wenn er seinen warmen, braunen Blick auf mich richtete.

Als Jo und ich in der Pause auf den Hof gingen, gab mein Handy einen Piepser von sich.

„Wer ist das?“, fragte Jo.

„Mein Vater.“

„Was schreibt er?“

Ich las es zuerst still für mich und dann laut:

Stehst du auf Balladen?“

„Warum fragt er das?“

„Wahrscheinlich will er sich damit entschuldigen.“

„Habt ihr euch gestritten?“

„Ich bin sauer geworden, weil ich ihm nicht beim Autoreparieren helfen durfte.“

„Jetzt scheint er das wiedergutmachen zu wollen.“

„Dann hätte er ja ‚Tut mir leid‘ schreiben können“, sagte ich und schrieb:

„Balladen sind echt das Letzte.“

Dann läutete es zum Pausenende.

Todeswald
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