KAPITEL 16
Per Lundström, unser Lehrer, hatte alle Bücher und Hefte weggeräumt, die sich sonst auf seinem Tisch vorne im Klassenzimmer stapelten. Jetzt standen dort Kerzen und ein großer Blumenstrauß.
Alle gingen still an ihre Plätze, um der blechernen Stimme des Rektors aus der Lautsprecheranlage zuzuhören.
„Man sollte sich nur an die schönen Momente erinnern“, schloss er seine Gedenkrede für Mikaela.
Dann hielt die ganze Schule eine Schweigeminute.
In unserem Klassenzimmer war es nicht still. Wir weinten alle laut.
Aber ich versuchte, die Worte des Rektors zu beherzigen, und dachte an ein paar sonnige Sommerferientage vor zwei Jahren, als Mikaela und ich im Wald eine Hütte gebaut hatten, in demselben Wald, in dem sie jetzt tot aufgefunden worden war. Dort hatten wir Saft getrunken, Kekse gefuttert und uns über unsere Lieblingssongs und Fernsehsendungen unterhalten.
Ich hatte mich auch oft über sie geärgert, doch diese Gedanken verdrängte ich schnell. Über jemanden, der tot ist, soll man nichts Böses denken.
Gleichzeitig kam ich nicht umhin, mir über den Streit Gedanken zu machen, den ich gestern Abend vor Mikaelas Haus belauscht hatte. Müsste ich nicht eigentlich die Polizei darüber informieren?
Obwohl …
Wie hätte jemand, der mit Mikaela und ihrer Mutter unter einem Dach gelebt hatte, Mikaela erst umbringen und danach weiterhin bei ihrer Mutter bleiben können, als wäre nichts passiert?
Von normalem Unterricht konnte nicht die Rede sein. Das Krisenteam zog von Klasse zu Klasse. Am längsten blieben sie natürlich bei uns.
Als sie gegangen waren, hatten wir Kunst. Wer wollte, durfte stattdessen Gedichte schreiben.
Ulf Bergman, unser Lehrer, breitete die Hände aus, als wollte er uns segnen, dann drückte er auf die Play-Taste des Rekorders. Ein klassisches Musikstück erfüllte den Raum mit stillen Tönen.
Ich hatte meine Farbstifte hervorgeholt, blieb aber einfach reglos vor einem weißen Blatt Papier sitzen. Ich dachte an Mikaela. Hatte tatsächlich jemand es ausgerechnet auf sie abgesehen oder war sie nur zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen?
In jener schicksalhaften Nacht hatte sie vorgehabt, bei Hannamaria zu übernachten. Dann hatte sie es sich anders überlegt. War sie nach Hause unterwegs gewesen? War sie rein zufällig jemandem begegnet? Oder hatte sie jemanden angerufen und sich verabredet? Und war das dann derjenige, der sie umgebracht hatte?
Warum?
Und wann?
Und stand das in Zusammenhang mit der Tatsache, dass Glöckchen überfahren worden war?
Die Fragen häuften sich.
Ich begann zu zeichnen – einen schwarzen Hund, blutbefleckt.
Leider habe ich nicht die Begabung meiner Mutter geerbt, darum konnte wahrscheinlich nur ich erkennen, was die Zeichnung darstellte. Aber für mich war es eine quälende Erinnerung. In meinen Augen brannten Tränen.
„Na, so mies ist die Zeichnung auch wieder nicht“, flüsterte Mohammed, der neben mir saß.
Ich schlug mit einem Lineal nach ihm.
„Au!“
„Mohammed!“, fuhr Herr Bergman ihn an. „Du sollst Svea nicht stören!“
„Aber sie hat …“
„Jajaja!“
Herr Bergman fuhr mit einer gereizten Handbewegung durch die Luft und sah dann wieder auf seine Papiere.
Ich wischte mir schnell die Tränen ab und schnitt Mohammed eine Grimasse. Er klatschte mit der Faust in seine Handfläche und nickte zur Tür, um zu zeigen, dass wir in der Pause abrechnen würden.
Das war bloß eine Geste, um den anderen Jungs deutlich zu machen, dass er sich nicht alles gefallen ließ. An und für sich ist Mohammed in Ordnung. Aber ich nickte. Ich lasse mir auch nicht alles gefallen.
Wir aßen später als sonst und hatten dann erst Pause. Fast so, als hätten die Lehrer nicht gewagt, uns ins Freie zu lassen.
Die Jungs versammelten sich zu einer großen Gruppe. Sie klopften einander auf den Rücken und pressten ein paar lärmende Laute hervor.
Mohammed warf nicht einmal einen Blick in meine Richtung.
Wir waren so traurig und ernst gewesen, dass alle jetzt eine Zeit lang an etwas anderes denken wollten.
Ebba, Faduma und Nilla standen ein paar Meter von den Jungs entfernt. Keine von ihnen stieß das übliche gekünstelte Lachen oder Gekreische aus.
Hannamaria war noch nicht herausgekommen. Auch im Speisesaal hatte sie sich verspätet. Ich glaube, sie war beim Rektor gewesen und hatte mit ihm gesprochen.
Ich stellte mich so hin, dass ich sehen würde, wenn sie herauskam.
„Jetzt fühle ich mich schon etwas besser“, sagte Jo. „Natürlich bin ich immer noch traurig, aber ich kann auch wieder an was anderes denken.“
„An Pferde?“
„Und was ist daran schlecht?“
„So hab ich’s nicht gemeint. Ich muss nur die ganze Zeit daran denken, wie fies ich zu ihr war.“
„Aber zu mir kannst du fies sein?“
„Tut mir leid!“
„Auch wenn du nett zu ihr gewesen wärst, würde sie jetzt nicht mehr leben“, sagte sie sanfter.
In diesem Moment kam Hannamaria heraus.
„Ich muss bloß …“, sagte ich zu Jo und lief rasch zu Hannamaria hin, bevor sie Ebba und die anderen erreichte.
„Wie geht’s dir?“, fragte ich.
„Ich fass es einfach nicht, dass sie tot ist!“
Ich glaubte, sie würde in Tränen ausbrechen, aber wahrscheinlich hatte sie bereits so viel geweint, dass sie keine Tränen mehr übrig hatte.
„Weißt du, wie sie gestorben ist?“, fragte ich.
„Keine Ahnung. Sie stellen bloß lauter Fragen.“
Mit „sie“ meinte Hannamaria vermutlich die Polizei.
„Haben sie erwähnt, wann sie starb?“
„Nicht genau, aber ihr Körper hatte viele Tage lang im Wald gelegen.“
Sie schluckte. Wir versuchten beide krampfhaft, das Bild von Mikaelas totem Körper aus unserer Vorstellung zu vertreiben.
„Um welche Zeit hat sie Oscars Wohnung verlassen?“, fragte ich dann.
„Das wollte die Polizei auch wissen. Zufällig hab ich in dem Moment tatsächlich auf die Uhr geschaut. Es war acht Minuten vor zehn und ich war mir sicher, dass sie zurückkommen würde, wenn sie merkte, dass sie den Bus verpasst hatte.“
„Meinst du den Bus ins Zentrum?“
„Nein. Es geht schneller, wenn man in die andere Richtung zur Endhaltestelle fährt und dort umsteigt.“
„Gut, aber vielleicht ist sie ja trotzdem ins Zentrum gefahren.“
„Der Bus fährt erst um halb elf.“
„Dann muss sie zu Fuß gegangen sein oder ein Auto angehalten haben?“
„Wahrscheinlich. Oder sie hat jemanden angerufen.“
„Warum ist sie nicht bei Oscar geblieben?“
Sie sah mich nicht an.
„Weiß nicht.“
„Aber du bist geblieben?“
„Na und?“
„Sie und Oscar waren doch zusammen, oder?“
„Wer hat das behauptet? So ein Scheißgeschwätz!“
„Mikaela und ich waren beste Freundinnen. Alles andere ist gelogen!“
Sie fuhr herum und entfernte sich mit schnellen Schritten, ohne sich umzuschauen.
„Was sollte das jetzt wieder?“, fragte Jo, als ich zu ihr zurückkam.
„Das Gerücht stimmt. Es ist tatsächlich ihre Schuld, dass Mikaela an dem Abend von Oscar abgehauen ist.“
„Hat sie das gesagt?“
„Nein.“
„Und woher willst du es dann wissen?“
„Ich kenne mich mit Lügengeschichten aus, und Angriff ist die beste Verteidigung.“
Jetzt wusste ich es. Mikaela war zornentbrannt von Oscar weggegangen. Und Hannamaria hatte ein schlechtes Gewissen.
Was ich mit diesem Wissen anfangen sollte, wusste ich allerdings nicht.