KAPITEL 43

Als ich von der Schule nach Hause ging, war ich tief versunken in Partyträume. So verdrängte ich die Unruhe, die unsere Pläne für den heutigen Abend in mir erzeugten. Es war viel schöner, sich vorzustellen, wie ich mit Linus tanzte, als daran zu denken, dass wir in der Dunkelheit auf einem verlassenen Industriegelände umherschleichen würden.

Ein Stück von unserem Haus entfernt hob ich den Blick von dem rutschigen Schneematsch auf dem Gehweg. Vor unserem Haus stand ein Auto, ein schwarzer Geländewagen, der an den Subaru erinnerte, den Papa damals geliehen hatte.

Zuerst freute ich mich, weil ich dachte, es wäre Papa, der mich überraschen wollte. Doch dann sah ich, dass in dem Auto zwei Personen saßen. Außerdem lief der Motor im Leerlauf. Das sah Papa nicht ähnlich.

Als ich mich dem Auto näherte, klingelte mein Handy.

„Bleib von eurem Haus weg!“, keuchte Linus ins Telefon. „Vor eurer Einfahrt steht ein verdächtiges Auto mit dem Motor im Leerlauf.“

„Ich weiß“, sagte ich. „Ich bin gerade zwanzig Meter davon entfernt.“

„Mensch, hau bloß ab!“

Im selben Augenblick startete das Auto mit quietschenden Reifen und fuhr direkt auf mich zu.

Ich sah mich schnell um. Links von mir befand sich der halbhohe Zaun von Mikaelas Grundstück. Ich machte einen Riesensatz darüber hinweg und landete im nächsten Moment auf dem schneebedeckten Rasen.

Das Auto rauschte vorüber. Als es an mir vorbeifuhr, streckte der Mann auf dem Beifahrersitz einen Arm durchs offene Seitenfenster und schleuderte etwas heraus. Neben mir landete ein Gegenstand, der an eine Flasche erinnerte.

Jetzt ist’s passiert, konnte ich gerade noch denken.

Ich rollte mich rasch von der Flasche weg und presste die Arme um den Kopf, während ich auf die Explosion wartete.

Aber nichts geschah.

Ich schaute hoch. Im selben Augenblick kam Linus aus seinem Haus gerannt. In T-Shirt und schlappenden Clogs stolperte er zu mir her.

„Was ist passiert?“, keuchte er.

Ich krabbelte auf die Beine, behielt dabei aber die grüne Flasche im Schnee misstrauisch im Auge. Vorsichtig bückte ich mich und stieß sie mit meinem einen Stiefel an.

„Was ist das denn?“, fragte Linus. „Ist das so ein … Cocktail?“

Ich überlegte kurz. Es sah fast so aus. Aber in Wirklichkeit war es nur eine leere Weinflasche. Das Etikett klebte noch dran. Gallo von 2004.

„Das ist eine Warnung“, vermutete ich.

„Scheiße! Jetzt … hören wir auf! Die wissen … wo wir wohnen. Verdammt … die wissen das!“

Er klapperte mit den Zähnen, während er vor sich hin fluchte. Er hatte Angst. Und fror. Seine bloßen Arme waren von Gänsehaut überzogen.

„Wir hören auf!“, wiederholte er, machte kehrt und rannte nach Hause.

Ich warf die Flasche in den Abfalleimer. Mir war genauso mulmig zumute wie Linus. Das hier hätte richtig übel ausgehen können. Die Liga, vor der uns alle gewarnt hatten, hatte irgendwie erfahren, wer ich war und wo ich wohnte.

Ich blieb eine Weile stehen und versuchte mich zu beruhigen. Schließlich war nichts passiert. Es war ja nur eine Flasche. Eine ganz gewöhnliche Flasche. Aber gleichzeitig war es auch eine Nachricht.

Sie würden mich in Ruhe lassen, solange ich mich von ihnen fernhielt.

Ich schauderte.

Aber obwohl ich zitterte vor Angst, kam es mir trotzdem ziemlich seltsam vor. Warum erhielt ich die Warnung ausgerechnet heute? Es war doch über zwei Wochen her, seit wir vor ihrer Garage herumspioniert hatten. Und fast genauso lange her, seit ich die Polizei auf Stormalm aufmerksam gemacht hatte.

Das konnte ich mir nicht erklären. Na, egal was dahintersteckte, jedenfalls taten wir gut daran, Stormalm zu meiden.

Als ich in die Küche kam, saß Mama mit einer aufgeschlagenen Zeitung am Tisch und schenkte sich gerade einen Becher Kaffee ein. Auf dem Tisch lag ein angebissenes Schinkenbrot, das Wuff wieder mal zu hypnotisieren versuchte.

„In der Zeitung steht wieder etwas über sie“, sagte Mama.

Sie brauchte nicht zu erklären, wen sie meinte.

„Hat die Polizei den Mörder gefunden?“

„Nein. Sie bitten um Hinweise. Mikaela hatte offenbar irgendeine Tasche dabei, nach der suchen sie jetzt.“

Ich zuckte zusammen.

Die rote Reisetasche.

Aber Linus’ Vater hatte der Polizei doch bereits mitgeteilt, dass die Tasche hinter Hedvigs Haus stand! Dann war das trotz allem nicht Mikaelas Tasche gewesen. Oder hatte die Polizei sie gar nicht abgeholt?

Als ich erst einmal angefangen hatte, daran herumzudenken, spürte ich, dass ich wenigstens überprüfen musste, ob die Tasche noch da stand. Außerdem hatte ich ja immer noch Hedvigs Fahrrad.

Ich rief Linus an und versuchte ihn dazu zu bewegen, mich zu Hedvig zu begleiten, aber er weigerte sich glatt.

„Du spinnst ja total!“, sagte er nur. „Wir haben eine Warnung bekommen. Nächstes Mal werfen sie eine brennende Flasche direkt auf dich drauf!“

„Aber wir wollen doch bloß zu Hedvig.“

„Ich komme trotzdem nicht mit.“

„Okay, dann lass es eben bleiben! Nur noch eins, hat dein Vater wegen dieser roten Tasche, die hinter Hedvigs Haus stand, die Polizei angerufen?“

„Er hat es behauptet. Warum?“

„In der Zeitung stand, dass die Polizei immer noch nach Mikaelas Tasche sucht.“

„Dann war es wohl nicht die richtige.“

Mir war nicht unbedingt leicht ums Herz, als ich das Fahrrad auf Hedvigs Haus zuschob, während die Dämmerung hereinbrach. In meinem Bauch kribbelte es heftig und ich musste mich sehr zusammennehmen, um nicht kehrtzumachen. Aber gleichzeitig wollte ich unbedingt feststellen, ob die Tasche noch da war.

Mein Plan war, hinters Haus zu schleichen und das Fahrrad dort hinzustellen, wo ich es geholt hatte. Dabei würde ich auch sehen, ob die Tasche da stand oder nicht. Und falls sie verschwunden wäre, ja, dann würde ich anklopfen und Hedvig fragen, was das für eine Tasche gewesen sei und ob sie mit der Polizei gesprochen hätte.

Das heißt, wenn ich genügend Mut aufbrachte.

Im Obergeschoss war Licht, aber nirgends rührte sich etwas. Ich wartete eine Zeit lang, schob das Fahrrad dann aber hinters Haus.

Unter einer Decke aus Schnee lag alles Gerümpel noch unverändert da. Ich stöberte kurz darin herum, fand die Tasche aber nicht.

Hatte die Polizei sie trotz allem doch mitgenommen? Vielleicht hatten sie dann festgestellt, dass es die falsche Tasche war, und baten deshalb um Hinweise auf die richtige?

Ich lehnte das Fahrrad an die Wand, als ein Gedanke in meinem Kopf auftauchte. Womöglich hatte Linus’ Vater die Tasche abgeholt, ohne die Polizei zu verständigen! Ich schüttelte den Gedanken genauso schnell wieder von mir ab, wie er aufgetaucht war. Warum hätte er das tun sollen?

Ich stand vor der Tür und versuchte all meinen Mut zusammenzunehmen, um bei Hedvig anzuklopfen, als sie mir zuvorkam.

„Diebin!“, schrie sie schrill. „Du hast mein Fahrrad gestohlen!“

„Im Gegenteil“, log ich, obwohl mir die Knie weich wurden. „Ich bin gekommen, um es Ihnen zu bringen. Ich … ich hab es im Wald gefunden.“

Sie machte ein paar Schritte auf mich zu. Ihre Strickjacke war an den Ellbogen geflickt und ihr langer Rock fegte den Schnee unter ihr weg, als sie sich bewegte. Ihr grau meliertes Haar war zu einem losen Knoten hochgesteckt, aber sie wirkte jünger, als ich gedacht hatte. Bisher hatte ich sie nur von Weitem gesehen. Vermutlich war sie nur etwas über fünfzig. Sie musterte mich misstrauisch.

„Woher hast du gewusst, dass es mir gehört?“

„Weil Sie es von meiner Mutter bekommen haben. Meins sieht genauso aus.“

Sie brachte etwas zustande, das an ein Lächeln erinnerte.

„Deine Mutter ist lieb. Und wo ist die Tasche?“

„Meinen Sie die rote Reisetasche?“

Mir fiel ein, dass es keinen erklärbaren Grund für mich gab, etwas über die Tasche zu wissen. Aber Hedvig schien sich nicht darüber zu wundern, dass ich davon wusste.

Sie nickte stumm.

„Hat die Polizei nicht mit Ihnen gesprochen?“

„Nein.“

„War das Ihre Tasche?“

Sie grunzte kurz.

„Der wollte sie ja nicht haben“, murmelte sie.

„Wer?“

„Der in dem Auto. Er hat sie in den See geworfen.“

Plötzlich kam mir der Abend in den Sinn, als Wuff ausgerissen war.

„Haben Sie die rote Reisetasche im See gefunden?“

Das war es also, was der waghalsige Fahrer ins Wasser geworfen hatte! Dann musste es Hedvigs bleiches Gesicht gewesen sein, das ich im Wald hatte aufleuchten sehen.

Aber handelte es sich wirklich um Mikaelas Tasche?

„Was war denn darin?“

„Bettwäsche.“

Oh Gott!

„Was noch?“

„Bücher.“

„Und wo ist die Tasche jetzt?“

„Verschwunden.“

Eine Unterhaltung mit Hedvig lief so zäh wie eine Schnecke in Leim, ich zitterte inzwischen vor Ungeduld. Bettwäsche! Bücher! Ich kam der Wahrheit immer näher. Es musste Mikaelas Tasche sein, die Hedvig gefunden hatte!

„Haben Sie das Auto gesehen?“

„Ja.“

„Was war das für eine Marke? Volvo?“

Ich hatte selbst geglaubt, einen hellen Kombi zu sehen, der wie ein Volvo geklungen hatte.

Hedvig antwortete nicht.

„Toyota? Audi? Saab?“

Sie zuckte die Schultern. Wahrscheinlich kannte sie sich mit Automarken nicht aus.

„War es ein normaler Personenwagen oder ein Kombi?“

„Nicht normal.“

„Also ein Kombi. Und was für eine Farbe?“

„Hell.“

„Haben Sie … den Fahrer gesehen?“

„Ich koch mir jetzt einen Kaffee.“

Plötzlich drehte sie sich um und ging.

Ich starrte ihren Rücken an, als sie hinter der Hausecke verschwand. Sie war viel näher an dem Auto gewesen als ich. Hatte sie den Fahrer gesehen oder nicht? Wenn ja, dann hatte sie vielleicht Mikaelas Mörder gesehen! Wer sonst würde versuchen, Mikaelas Tasche mit der Bettwäsche und den Büchern loszuwerden? Bettwäsche, die sie für die Übernachtung bei Hannamaria mitgebracht hatte.

Der Puls dröhnte mir in den Ohren, während mein Gehirn auf Hochtouren lief.

Ich müsste die Polizei anrufen. Hedvig schwebte vielleicht in Lebensgefahr!

Andererseits konnte ich mir kaum vorstellen, dass irgendjemand außer der Polizei die Tasche geholt hatte. Und in dem Fall hatten sie bestimmt auch mit Hedvig darüber gesprochen, selbst wenn sie es leugnete.

Wer sonst könnte die Tasche geholt haben?

Ich ging langsam nach Hause und zerbrach mir über Hedvigs Äußerungen den Kopf. Bestimmt hatte ich mich geirrt, als ich annahm, die gestohlenen Luxusautos hätten etwas mit Mikaelas Tod zu tun. Ein Autodieb, der Mikaela umgebracht hatte, würde es kaum riskieren, in einem gestohlenen Auto an den Tatort zurückzukommen.

Das heißt, wenn er nicht in einem anderen Auto gekommen war. Vielleicht sogar in seinem eigenen?

Ein Mann in einem hellen Kombi. In einem Volvo?

Der Mörder?

Todeswald
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