KAPITEL 47

Ich schlüpfte rasch in meine Steppjacke und in die Winterstiefel. Wuff hüpfte mir fröhlich um die Beine und verrenkte sich fast den Schwanz vor lauter Wedeln.

„Nein, Wuff. Du musst warten. Ich komm gleich wieder zurück.“

Weil ich immer noch kein eigenes Fahrrad hatte, nahm ich das von Mama. Die Straße war nicht geräumt, und durch den Schnee zu radeln fiel mir schwer, aber immerhin kam ich schneller voran als zu Fuß. Und ich hatte es eilig. Ich hielt die Ungewissheit nicht mehr aus, musste die Wahrheit erfahren. Jetzt. Sofort.

Es war kalt. Mehrere Grad unter null. In der Eile hatte ich meine Mütze vergessen. Die Kälte zwickte mir in die Ohren. Ich hatte das Gefühl, endlos lang unterwegs gewesen zu sein, als ich endlich bei der Werkstatt ankam. Die Jalousien waren heruntergelassen, aber an zwei Fenstern des Büros, das Linus’ Vater mit Kalle teilte, sickerte Licht zwischen den Latten hindurch.

Ich lehnte das Fahrrad an die Wand, ging um die Ecke zum Eingang und klopfte.

Schritte waren zu hören, dann ging die Tür auf.

Kalle Svensson trug einen blauen Arbeitsanzug voller Ölflecken, war aber trotzdem eine stattliche Erscheinung und strahlte Selbstsicherheit aus, wie das Erwachsene eben tun. Er sah mich besorgt an, und das war wahrscheinlich kein Wunder. Ich hatte rot verweinte Augen und war völlig aufgelöst.

„Was ist denn passiert?“, fragte er, nachdem er mich hereingelassen hatte.

„Ich muss … was mit Ihnen … besprechen“, stammelte ich.

Er sah mich durchdringend an.

„Mit mir? Über Mikaelas Mörder?“

„Na ja … äh …“

Er musterte mich, als wollte er meine Gedanken lesen. Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte. Es ging ja um meinen eigenen Vater.

„Weißt du was“, unterbrach er mein Gemurmel. „Jetzt setzen wir uns erst mal hin und trinken Kaffee, dann kannst du erzählen.“

„Ich trinke keinen Kaffee.“

„Und Saft?“

Ich zuckte die Schultern. Eigentlich wollte ich gar nichts außer Antworten auf meine Fragen. Papas Quittung brannte in meiner Tasche.

Er ging in die kleine Kochnische, ließ Wasser laufen und klapperte mit dem Geschirr.

Ich ließ mich in den Besuchersessel vor dem Schreibtisch sinken und sah mich zerstreut um.

In der einen Längswand befand sich eine Tür, die in Kalle Svenssons Werkstatt führte. Die Tür war angelehnt und dahinter war es hell. Ansonsten sah es nicht mehr so aus wie früher, als Mikaela und ich hier gejobbt hatten. Der Raum wirkte irgendwie größer. Dann begriff ich, warum. Die Wand zwischen den beiden Büros fehlte.

Fast als hätte er meine Gedanken gelesen, rief Kalle aus der Kochnische:

„Wir haben die Wand entfernt, weil es uns zu eng wurde. Wir sind sowieso fast nie gleichzeitig hier. Und so ist es viel praktischer. Wir können uns Schreibtisch und Computer teilen.“

Plötzlich entdeckte ich etwas auf dem Schreibtisch. Kalle Svenssons Quittungsblock. Ich streckte die Hand danach aus und blätterte schnell zum Oktober zurück. Da war sie, die Kopie von Papas Quittung. Genauso unleserlich und kurz gefasst wie das Original in meiner Tasche.

Ich blätterte vor und zurück, um die Quittung für die Reparatur von Samuel Westers Auto zu finden, von der Linus gesprochen hatte. Da war keine. Konnte es sein, dass Linus Papas und Samuels Zulassungsnummern verwechselt hatte? Er hatte die Nummern ja nie aufgeschrieben, sondern behauptet, er könne sie sich merken.

Während ich blätterte, entdeckte ich noch etwas. Auf die Rückseite der Quittungen hatte Kalle dünne Bleistiftnotizen geschrieben. „Lackierung. Front. Scheinwerfer.“ Und verschiedene Beträge von fünfhundert bis achttausend. Warum? Trickste er irgendwie mit seiner Buchführung?

Ich beeilte mich zu lesen, was auf der Rückseite von Papas Quittung stand.

Scheinwerfer. 1.000.–

Das war alles.

Ich hörte Kalle Svenssons Schritte. Schuldbewusst schob ich den Block weg. Wenn er schummelte und schwarzarbeitete, würde es natürlich schwieriger werden, Antworten auf meine Fragen von ihm zu erhalten.

Kalle Svensson kam herein. Er trug ein Tablett mit einem großen Glas Saft, einem Kaffeebecher, einer Tüte Zimtschnecken und einer Packung Kekse.

Er stellte das Tablett auf die eine leere Ecke des Schreibtisches.

„Leider habe ich bloß Diätsaft, enthält Süßstoff statt Zucker. Ist gut für die Figur, schmeckt aber ein bisschen fad.“

Ich nahm einen Schluck Saft. Er schmeckte tatsächlich irgendwie eklig, aber ich trank trotzdem noch einen Schluck. Ich wollte nicht unhöflich wirken.

„Kann man ihn trinken?“, fragte er besorgt.

„Ist ganz okay“, log ich.

Ich drehte das Glas in der Hand hin und her, als wäre es eine Kostbarkeit aus dem neunzehnten Jahrhundert, und wartete nur darauf, dass Kalle Svensson in eine andere Richtung schaute, um das ekelhafte Gesöff in einen Blumentopf zu kippen. Aber er ließ mich nicht aus den Augen, also trank ich brav noch einen Schluck.

„Bedien dich“, sagte er und schob die Tüte mit den Zimtschnecken zu mir her.

Ich nahm mir eine Schnecke. Mit dem Zimtgeschmack im Mund ließ sich der Saft eher runterwürgen. Ich kaute und trank, um die Tränen zurückzuhalten, die mir wie ein Kloß im Hals steckten.

„Nun, und worüber wolltest du mit mir sprechen?“, fragte er.

Meine Kehle schnürte sich zu.

„Aber Mädchen, was ist denn?“

Ich trank noch einen Schluck und schüttelte stumm den Kopf.

„Wird wohl am besten sein, wenn wir das jetzt klären.“

Er klang so freundlich. Ich konnte nicht widerstehen. Ich fühlte mich erschöpft und verwirrt und wollte nur noch, dass mir irgendjemand die schwere Last von den Schultern nahm.

„Alles ist so schrecklich“, wimmerte ich. „Ich hab echt geglaubt, ich hätte herausgefunden, wer Mikaela umgebracht hat.“

„Wer denn?“

„Jemand von dieser Liga, die auf Stormalm haust. Die fahren wie die Irren in Superluxusschlitten auf unserem Holperweg herum. Ich dachte mir, vielleicht haben die Glöckchen überfahren und Mikaela hat das gesehen und darum ist sie ermordet worden.“

Er runzelte die Stirn.

„Glaubst du das tatsächlich? Hast du schon mit der Polizei darüber gesprochen?“

„Ja … oder nein. Ich hab der Polizei von dieser Garage erzählt, wo gestohlene Autos umlackiert werden, aber bestimmt haben die Diebe es geschafft, die Autos wegzuschaffen, bevor die Polizei kam. Irgendwie haben diese Typen dann erfahren, dass ich das war. Sie haben eine Flasche auf mich geworfen – ja, genau wie auf Ihr Auto. Es war bloß eine gewöhnliche Flasche, aber das war eine Warnung, da bin ich mir sicher.“

„Sich mit solchen Leuten anzulegen, ist gefährlich. Du hast also ein paar von den Autos gesehen, die sie geklaut haben?“

„Ja, einen Supermercedes und einen BMW. Ich hab rausgefunden, wem sie gehören, und die Besitzer angerufen.“

„Okay“, sagte er nachdenklich. „Aber was weißt du denn über den Mörder?“

Ich versuchte Klarheit in meine Gedanken zu bringen. In meinem Kopf drehte sich alles. Ich dachte an Papas Scheinwerfer, den Kalle Svensson repariert hatte, und daran, dass Linus sauer auf mich war, weil ich seinen Vater verdächtigt hatte …

Plötzlich fiel mir etwas ein. Linus’ Vater war der Einzige, der wusste, dass Hedvig Mikaelas Tasche hatte. Diese Liga wusste nichts von irgendeiner Tasche. Mein Vater auch nicht.

„Der Mörder hat Mikaelas Tasche in den See geworfen, weil er nicht wollte, dass seine Fingerabdrücke ihn verraten“, sagte ich.

„Hast du ihn gesehen?“

„Nein, aber das Auto.“

„Was denn für ein Auto?“

„Ein helles Auto, das wie ein Volvo Kombi klang. Hedvig hat es auch gesehen, bevor sie die Tasche aus dem See angelte.“

„Dann ist es ja zu dumm, dass die Tasche jetzt wieder verschwunden ist. Und was hast du sonst noch für Beweise?“

Ich versuchte mich auf meine Gedanken zu konzentrieren, aber er ließ mich nicht in Ruhe nachdenken.

„Denn du hast doch sicher noch welche?“, fragte er.

„Jedenfalls hat die Polizei die Beweise, die sie auf Mikaelas Kleidern gefunden haben. Sie brauchen nur noch einen Verdächtigen, um die Spuren vergleichen zu können. Außerdem glaube ich, dass Hedvig ihn gesehen hat.“

„Was du nicht sagst … Aber du nicht?“

Er beugte sich zu mir vor und dabei stieg mir kurz sein Atem in die Nase. Ich erkannte sofort den scharfen, süßlichen Geruch. In seinem Becher war nicht nur Kaffe. Er hatte auch Schnaps reingekippt!

Ich schüttelte den Kopf. Plötzlich war mir die Situation unangenehm. Am besten, ich machte mich wieder auf den Heimweg.

Unvermittelt stand Kalle auf.

„Ich hol mir bloß noch etwas Kaffee“, sagte er. „Willst du noch Saft?“

„Nein danke.“

Er ging zur Kochnische und verschwand außer Sicht.

Ich nützte die Gelegenheit und kippte den Saft in den einzigen Blumentopf, der auf dem Fensterbrett stand, von einem Kranz aus welken Blättern umgeben.

Als ich mich auf die Haustür zu bewegte, drehte sich mir der Kopf.

Kalle kam mir entgegen.

„Wohin willst du?“

„Äh … aufs Klo.“

Er deutete mit einem Kopfnicken in den schmalen Flur hinaus, wo ich meine Jacke aufgehängt hatte.

Ich taumelte weiter, während mir die Gedanken in wildem Durcheinander durch den Kopf wirbelten. Hatte Linus’ Vater die Polizei verständigt oder nicht? Wenn ich nur erfahren könnte, mit wem er gesprochen hatte, wenn ich nur sicher wüsste, dass die Polizei über die Tasche informiert war. Die Tasche war wichtig, sie konnte die Polizei zu dem Mörder führen.

Ich schloss die Klotür ab und wählte Linus’ Nummer, obwohl ich riskierte, dass er den Hörer sofort wieder auflegte. Aber er meldete sich nicht. Schon wieder musste ich mich mit dem Anrufbeantworter unterhalten.

„Ich bin in Kalle Svenssons Büro. Sei nicht … sauer… Ruf mich an. Wir müssen … die Sache mit Mikaelas Tasche überprüfen … wichtig …“

Das Sprechen fiel mir schwer, ich nuschelte und stolperte über die einzelnen Wörter.

Was war denn nur los mit mir?

Als ich aus dem Klo kam, spürte ich, dass der Boden unter meinen Füßen schwankte.

„Fehlt dir was?“

Kalle Svenssons Stimme klang beunruhigt.

„Ich …“

„Setz dich! Ich fahr dich nach Hause. Muss nur kurz abräumen.“

Aber Sie haben doch Alkohol getrunken, dachte ich. Ich war jedoch zu schwach, um protestieren zu können.

Ich ließ mich schwer auf den Stuhl fallen. Meine Gedanken liefen träge wie Sirup in immer denselben Bahnen. Linus’ Vater hatte behauptet, er würde die Polizei über die Tasche informieren …

Plötzlich schlitterten meine Gedanken auf eine neue Bahn hinüber und stolperten über etwas, das Kalle Svensson vorhin gesagt hatte.

„Dann ist es ja zu dumm, dass die Tasche jetzt wieder verschwunden ist.“

Woher wusste er, dass Mikaelas Tasche nicht mehr da war? Ich hatte nur erwähnt, dass Hedvig die Tasche aus dem See geangelt hatte.

Hatte Kalle Svensson das Gespräch von Linus’ Vater mit der Polizei belauscht und die Tasche von Hedvig geholt? Aber warum?

Hatte er etwas mit der Liga zu tun? Erpressten die ihn etwa? Hatte er ihnen geholfen, Beweise beiseitezuschaffen?

Wie war das mit der Flasche, die als Warnung auf mich geworfen worden war? Das war passiert, nachdem Linus und ich beschlossen hatten, uns diese mysteriöse Garage noch einmal genauer anzuschauen. Bei der Gelegenheit war Linus hier im Büro gewesen. Wir hatten über unsere Theorien gechattet und am Handy offen über unsere Pläne geredet. Und ich hatte jemanden im Hintergrund gehört. Damals hatte ich angenommen, es sei Linus’ Vater gewesen. Aber vielleicht war es Kalle gewesen! Kalle Svensson, der uns heimlich belauscht hatte, um dann der Liga zu verraten, was wir vorhatten!

Plötzlich stieg eisige Angst in mir hoch. Am besten, ich verdrückte mich so schnell wie möglich.

Kalle Svensson stand in der Kochnische und wusch gerade das Geschirr ab, dabei hatte er mir den Rücken zugewandt. Das war meine Chance.

Ich stand auf und torkelte auf die Haustür zu, riss meine Jacke an mich und drückte den Türgriff nach unten. Abgeschlossen. Und kein Schlüssel im Schloss!

Die Tür zur Werkstatt stand einen Spalt weit offen. Ich taumelte hinüber und blieb dann in der Türöffnung stehen. Meine Beine fühlten sich an wie Gelee. Ich starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Werkstatt.

Dort standen zwei Autos. Das eine war ein funkelnagelneuer BMW, dem gestohlenen Luxusvehikel von Roy Gräs täuschend ähnlich!

Nur die Farbe stimmte nicht.

Das andere war ein silbergrauer Volvo V70. Kalle Svenssons Auto, das war mir sofort klar. Die Seitentür hinter dem Fahrersitz war braunschwarz gefleckt und anstelle von Glas bedeckte eine Pappscheibe die hintere Fensteröffnung.

Ein Volvo. Ein heller Volvo, von einem Molotowcocktail beschädigt!

Plötzlich stand Kalle Svensson hinter mir. Ich wandte mich halb zu ihm um, musste mich aber schnell wieder zurückdrehen, weil alles schwankte. Aber ich hatte noch kurz seinen Gesichtsausdruck gesehen – traurig und gleichzeitig resigniert.

„Jetzt weißt du also, dass ich es war“, sagte er leise.

Todeswald
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