KAPITEL 15

Es zog mich dorthin. Und nicht nur mich. Auf dem schmalen Schotterweg hatten sich viele Menschen versammelt. Bleich und ernst standen sie in Grüppchen zusammen und fröstelten im Regen. Ich sah viele bekannte Gesichter, Nachbarn, Mitschüler. Einige weinten.

Die Leute unterhielten sich gedämpft, bewegten sich langsam und würdevoll, wie bei einer Beerdigung. Eine gewisse Verlegenheit spielte auch mit und die Befürchtung, sie könnten für sensationslüsterne Aasgeier gehalten werden. Und dabei waren wir ja genau das. Was sonst hatten wir dort verloren? Etwas Nützliches taten wir jedenfalls nicht. Ganz im Gegenteil. Die Polizeifahrzeuge mussten vorankriechen, um niemanden in der Menschenansammlung zu überfahren.

Mikaelas Leiche war im Wald gefunden worden, jetzt war ein großes Waldstück von den Plastikbändern der Polizei abgesperrt. Die Bänder waren blau-weiß, als wäre Mama da gewesen, um sie anzumalen.

Vor der Absperrung brannten schon ein paar Grablichter zwischen schlichten kleinen Blumensträußen und vereinzelten Rosen. Daraus würden bestimmt noch mehr werden.

Journalisten liefen umher und richteten ihre Fragen an jeden, der fotografiert werden oder reden wollte. Die Vorsitzende unseres Ortsvereins stand gerade vor einer Fernsehkamera. Ich hörte sie mit bebender Stimme sagen, niemand hätte es für möglich gehalten, dass so etwas in unserer idyllischen Wohngegend passieren könnte. Ein Fotograf machte außerdem eine Aufnahme, wie sie mit düsterer Miene auf den Wald wies, als wollte sie ihre Äußerung unterstreichen.

Linus und ich hielten uns abseits, um den Fragen zu entgehen. Linus war eine Viertelstunde früher als ich gekommen und erzählte, die meisten seien inzwischen interviewt worden, egal ob freiwillig oder nicht. Aber als man ihn selbst habe befragen wollen, habe er behauptet, nicht hier zu wohnen und nur aus Neugier hergekommen zu sein. Er riet mir, das Gleiche zu sagen. Aber niemand schien an mir interessiert zu sein.

Wir standen schweigend nebeneinander, von aufgewühlten Nachbarn umgeben. Einzelne losgerissene Wörter drangen mir ins Bewusstsein.

„… ganz blutig … der Kopf mit etwas Scharfem … groß und schwer …“

Ich versuchte meine Ohren zu verschließen.

Linus schien genauso traurig zu sein wie ich. Das überraschte mich. Er hatte sie ja kaum gekannt. Oder war er doch insgeheim in Mikaela verliebt gewesen? Genau wie alle anderen Jungs?

„Ich hab mir etwas überlegt“, sagte er nach langem Schweigen.

Ich drehte mich zu ihm um und wartete auf eine Fortsetzung. Er sah nachdenklich zu einem Gebüsch hinter der Absperrung der Polizei hinüber. Wir standen nicht weit von der Stelle entfernt, wo ich seinen Hund gefunden hatte.

„Ich frage mich, wie lange Mikaela schon tot war“, fuhr er leise fort, fast so, als spräche er mit sich selbst.

„Sie ist am selben Abend verschwunden wie Glöckchen“, sagte ich. „Aber das muss nicht heißen, dass sie da auch gestorben ist. Eher nicht, sonst hätte ich sie wahrscheinlich … auch … gefunden …“

Ich erschauerte. Die Vorstellung war zu entsetzlich.

„Ihr Körper kann vergraben oder im See versenkt worden sein“, meinte Linus.

Ich ertrug es nicht, noch länger stehen zu bleiben. Wir gingen langsam in Richtung Schule. Bestimmt würden wir zu spät kommen, doch da wären wir wohl nicht die Einzigen. Dieser Tag würde kein normaler Schultag werden.

Todeswald
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