19.
Der Absturz in die Welt der Angst war grausam. Das lähmende Gefühl der Hilflosigkeit ließ Peter verzweifeln. Die Welt bestand nur noch aus blutrotem Sand. Das schrille Geräusch des Hubschraubermotors und der im Sandsturm knatternd nach Stabilität suchenden Rotorblätter übertönte die Schreie. Magische Kräfte hoben die Maschine empor, schmetterten sie nieder, warfen sie durch die Luft, wirbelten sie von rechts nach links und wieder zurück in die Tiefe. Der penetrante Geruch von verbranntem Öl heiß gelaufener Turbinen einte sich mit dem Gestank von Angstschweiß.
Peter sah, wie der Priester vor Todesangst vergaß, zu beten. Der junge Soldat mit dem kahl geschorenen Kopf, der sie soeben in den Hubschrauber gezerrt und dabei so stolz gegrinst hatte, hing wie ein nasser Sack in den Sicherheitsgurten, zitterte am ganzen Leib und krallte sich am Sitz fest. Jahzara war aschfahl im Gesicht. Ihre weit aufgerissenen Augen standen hervor. Ein Blutäderchen ihres rechten Auges war unter den extremen Höhen- und Druckverlusten geplatzt.
Der Hubschrauber drehte sich um die eigene Achse. Plötzlich schienen Gog und Magog entschieden zu haben, ihrem Spiel mit dem Tod ein Ende zu bereiten. Sie brüllten ihren Hass über das Land der Leere, fauchten tiefroten Zorn über den Fluchtversuch ihrer Opfer in den Himmel und befahlen dem Meer der Finsternis, die Ungläubigen in die sandige Tiefe zu ziehen. Der Hubschrauber richtete sich aus der Horizontalen langsam nach hinten auf. Der Priester stürzte und prallte gegen den jungen Soldaten. Jahzara hing willenlos in den Gurten.
»Wir stürzen ab!«, schrie Peter. Verzweifelt irrte sein Blick durch das Innere des Hubschraubers. Seine Todesangst wandelte sich zu einem bizarren, ungläubigen Gesichtsausdruck. Wieso grinsten alle so hämisch? Wieso hatten sie alle keine Angst mehr und starrten ihn so mitleidig an, so, als müsse er sich für seine Todesangst entschuldigen? Was machte Jahzara da? Er schrie auf: »Neeeiiin, Jahzara, nein, nicht die Gurte lösen! Bist du denn wahnsinnig? Du stürzt aus dem Hubschrauber! Willst du dorthin, wo deine Ahnin im Sand der Wüste begraben liegt? Jaaazaaahra! Bitte, macht das nicht! Bitte, bitte! Bleib bei mir! Du hast mir doch versprochen, bei der Taufe unseres Kindes dabei zu sein. Nicht doch, du musst dich nicht freiwillig Gog und Magog opfern, um mein Leben zu retten. Sie wollen nicht dich als Opfer, sie wollen uns alle!«
Durch den Nebelschleier aus Sand und Wolken sah Peter zu seinem Entsetzen, wie sich Jahzara aufrichtete und ihre Gurte löste. Leichtfüßig, beinahe schwerelos wie eine Fee schritt sie auf ihn zu. Mein Gott, wieso lacht sie wie ein vom Wahnsinn in die Furchtlosigkeit entführtes kleines Kind? Hast du den Verstand verloren, Jahzara? Nein, tu das bitte nicht…
Ein Schlag gegen seine Wange ließ ihn erstarren. Ungläubig schüttelte er seinen Kopf. Was war das? Wer, verdammt noch mal, packte ihn da so brutal an seinen Schultern und schüttelte ihn wie ein Besessener? Der Priester etwa?
»Aua, das tut weh! Lass mich doch in Ruhe, du verrückter Gottesmann. Kümmere dich lieber um Jahzara! Siehst du nicht, dass sie aus dem Hubschrauber springen will? Schau sie dir an, wie sie engelsgleich lacht. Sie ist wahnsinnig, sie glaubt, sie könne fliegen! Sie will zu Sahel, ihrer Ahnin! Aua, verflixt, jetzt reicht es aber.«
»Peter! Peter, wach auf!«
Jahzaras sanfte Worte hallten wie ein gedämpftes Echo durch sein Unterbewusstsein. Er wunderte sich. Sie stand vor ihm, lächelte und schien noch immer wie ein Engel zu schweben. Wieder fühlte er zwei Hände, die ihn an den Schultern packten und sanft schüttelten.
»Hey, du, wach auf! Es ist vorbei! Peter, haaalllooo!«
Peter misstraute dem schönen Traum. Eben noch war die Illusion von der Rettung nackter Angst vor dem Tod gewichen. Nicht schon wieder! Er verkraftete das nicht mehr. Alles in den letzten Wochen war zu viel gewesen. Er wollte nicht mehr mit tödlichen Wahrheiten konfrontiert werden. Er wollte leben – mit Yvonne! Plötzlich fühlte er, dass alles um ihn herum so sanft und still und grenzenlos friedlich war. Jahzaras Worte wirkten eigenartig fröhlich. Er öffnete seine Augen, schüttelte seinen Kopf, als wollte er Traum von Wirklichkeit trennen. Ein greller Lichtreflex blendete ihn. Er kniff die Augen zu und hielt die Hand schützend vor sein Gesicht. Die Sonne tat seinen Augen weh. Was war geschehen? War er dem Wahnsinn nahe? Durch die weit geöffnete Glastür sah er ein Paradies. Sanfter Wind strich durch die Dattelpalmen und ließ deren Blätter erzittern. Eine kühle Abendbrise verfing sich in den fleischig-roten Blüten von Tulpenbäumen. Von irgendwo her drang das beruhigende Plätschern eines Springbrunnens zu ihm und ließ ihn langsam erahnen, dass dies kein Traum war. Nein, es war kein Traum, denn hinter den Wipfeln der Bäume, die er vom Bett aus sehen konnte, erkannte er die Pyramiden von Gizeh. Prächtig und scheinbar zum Greifen nahe thronten sie über dem Park. Sanftes Licht tauchte ihre Spitzen in Rot. Vögel zwitscherten ihre Begeisterung über den wunderbaren Beginn des Sonnenuntergangs in die Welt hinaus. Der betörende Geruch von Bougainvillea und Jasmin lag in der Luft und einte sich mit dem Duft von Jahzara. Sie roch nach Frangipani und nach den Kräutern äthiopischer Berge.
»Brüderchen, du hast geträumt. Komm, mach die Augen auf, schau dir den Garten Eden an. Es war nur ein Albtraum. Alles ist gut. Wir leben!«
Jahzara saß neben ihm auf dem Bett. Sie sah zauberhaft aus. Das zartgelbe Kleid, das ihr die Frau des italienischen Botschafters in Algier geschenkt hatte, stand ihr hervorragend. Ihr schwarzes Haar mit den hellen Strähnen glänzte. Ihre Augen strahlen Kraft und Ruhe und viele schöne Gefühle für ihn aus. Er spürte Schweiß auf seiner Stirn.
»Uff, das war ein grausamer Traum, Prinzessin! Ich sah dich dem Wahnsinn nahe, bereit, aus dem Hubschrauber zu springen. Grausam war es. Aber jetzt ist alles okay. Lass mich nur einige wenige Minuten zur Besinnung kommen. Ich muss mich erst daran gewöhnen, wo ich bin.«
Jahzara strich ihm sanft die schweißnassen Haare aus der Stirn. »Lass dir Zeit. Wir haben noch eine Stunde, bis wir abgeholt werden. Ich setze mich zwischenzeitlich ein wenig auf den Balkon und genieße diesen Ausblick.«
Die Pyramiden färbten sich in der Dämmerung rötlich ein. Der Tag liebäugelte sanftmütig mit der aufkommenden Nacht. Eine wohlige Ruhe durchströmte sie. Jahzara konnte sich an diesem Anblick der Pyramiden einfach nicht sattsehen. Stundenlang hatte sie letzte Nacht hier gesessen, hatte geschwiegen und glücklich geschluchzt. Das Mena House Oberoi war das schönste Hotel, das sie je in ihrem Leben gesehen hatte. Sie kannte so etwas nur aus Kinofilmen: Brokat, Damast, Marmor, Edelhölzer und eine wundersam verspielte arabische Architektur einten sich hier zu einem unfassbaren Luxus. Jahzara lehnte sich entspannt zurück, legte ihre Füße auf die Balkonbrüstung und atmete tief durch. Wie wunderbar doch das Leben sein konnte! Vor drei Tagen waren sie noch dem Tod so nahe gewesen. Der Sandsturm hatte den Hubschrauber beinahe zum Absturz gebracht. Der Pilot gab später zu, dass es Allahs Wunsch gewesen sein musste, dass die Maschine sich nach den aberwitzigen Turbulenzen und dem Trudeln noch einmal gefangen hatte. Wenige Stunden später waren sie in Algier gelandet, wo der italienische Botschafter sie zusammen mit seiner reizenden Gattin abgeholt und in ihrem Gästehaus untergebracht hatte. Erst dort hatten sie erfahren, dass sie ihre wundersame Rettung ausschließlich Pater Benedikt zu verdanken hatten. Er war es gewesen, den sie in der kleinen Karawane am Horizont hatten vorbeiziehen sehen. Der Pater hatte die SOS-Signale von Peter richtig gedeutet. Doch die Tuareg, mit denen er auf dem Weg zu einer alten Siedlung gewesen war, wo er gehofft hatte, die Reste einer alten christlichen Kirche zu finden, hatten ihm gesagt, dass es wegen des Treibsandes keine Möglichkeit gebe, ins Land der Leere zu gelangen, um sie zu retten. Pater Benedikt hatte daraufhin über sein Handy Mitbrüder seines Ordens in Rom angerufen, die wiederum die italienische Botschaft in Algier informiert hatten. Dort hatte man schnell reagiert und die algerische Armee alarmiert. Sie hatten ihr Leben Pater Benedikt zu verdanken. Dem Pater, von dem sie einst dachten, dass auch er zu den Menschen gehöre, die ihr Leben bedrohten. Aber Pater Benedikt war ein friedfertiger Mann. Ihm und dem Hubschrauberpiloten hatten sie ihr Leben zu verdanken. Nur, weil der Pilot sehr dicht über die Dünen geflogen war, hatten die Rotoren des Hubschraubers den Sand über ihrem Geländewagen aufgewirbelt, damit ihr Grab aus Sand frei gelegt und es Peter ermöglicht, die Dachluke zu öffnen. Ein Wunder hatte sie vor dem Ersticken gerettet.
Von Algier aus hatte sie dann ein kleines Flugzeug der ägyptischen Regierung nach Kairo geflogen, wo man ihre Zeugenaussage benötigte. Pater Benedikt war mit ihnen geflogen. Er wollte zurück nach Jerusalem zu seinem Orden. Und so waren sie, kaum dem Tode entkommen, hier in diesem paradiesisch anmutenden Hotel einquartiert worden.
Jahzara spürte, wie sie beim Anblick der zunehmend im Dunkel der Nacht eintauchenden Pyramiden und in den Erinnerungen der letzten drei Tage vor Glückseligkeit weinte. Der Kontrast zwischen Todesangst und diesem Garten Eden war zu groß. Nur langsam fielen Angst und Entsetzen von ihr ab. In einer Stunde würden sie nach Kairo fahren. Die ägyptischen Behörden hatten angedeutet, dass sie für den Abend noch eine Überraschung planten. Sie schaute in Peters Zimmer. Die kleine Schatulle mit den Intarsien stand auf einer Anrichte. Sie hatten die Kiste am Flughafen von Algier erworben. Ihr Herz schlug schneller. Wären sie nicht mit einer Regierungsmaschine der Ägypter nach Kairo geflogen, hätten sie diese Schatulle wohl kaum durch den Zoll bekommen. Nun stand sie dort, unscheinbar, wie ein billiges Souvenir. Aber die Schatulle barg ein Vermögen – die Edelsteine, die Peter bei der Karawane gefunden hatte.
Ihre zeugenschaftliche Vernehmung dauerte nicht lange. Die zwei Beamten in Zivil waren außerordentlich nett, gaben sich allerdings sehr zugeknüpft. Das Einzige, was sie ihnen erzählten, war, dass im Rahmen der ägyptischen Aktionen zwei Männer bei Fluchtversuchen ums Leben gekommen seien. Bei beiden, so hieß es lapidar, habe es sich um führende Köpfe einer international agierenden Bande von Kunsträubern gehandelt, denen zudem nachgesagt wurde, dass sie einer extremistischen Moslembruderschaft angehörten.
Nach knapp einer Stunde war die Vernehmung beendet. Die Beamten verabschiedeten sich höflich und begleiteten sie zu einer wartenden Limousine mit Chauffeur. Wenig später hielt der Wagen an einer Bootsanlegestelle am Nilufer im Vorort Zamalek, nahe dem Marriott-Hotel. Der blaue Dampfer Nile Maxim mit seinen romantischen Lichterketten hob sich gegen die Skyline der Hotels und Hochhäuser am gegenüberliegenden Ufer ab.
Peter schaute Jahzara verwundert an. Der Chauffeur murmelte in schlechtem Englisch: »Sagen Sie an Bord nur Ihren Namen. Man wird Sie zu Ihrem Tisch führen.«
Der reservierte Tisch stand unmittelbar am Bug des luxuriösen Schiffes und war mit Silberbesteck und prachtvollen Gläsern gedeckt. Kerzen in Windlichtern verliehen dem Ganzen eine anheimelnde Atmosphäre. Der Nil reflektierte den von Dunst und Staub erfüllten Sternenhimmel über Kairo. Weiß livrierte Kellner eilten herbei, rückten Jahzaras Stuhl zurecht und stellten unaufgefordert einen silbernen Champagnerkühler auf den Tisch.
Jahzara war sprachlos. Ihr Blick huschte umher. Aber sie entdeckte niemanden, den sie kannte oder der sie zu erwarten schien. »Hast du eine Ahnung, was hier abläuft«, flüsterte sie.
Peter grinste. »Wer weiß? Gedeckt ist für sieben Personen. Mal schauen, wer noch kommt. Ich vermute, dass die Ägypter mit dem Tod dieser beiden Sufis irgendein größeres Problem vom Hals haben. Die Moslembruderschaften sind in Ägypten eine permanente Bedrohung für die Regierung. Die sind uns dankbar, dass wir ihnen geholfen haben, diese Leute zur Strecke zu bringen.«
»Aber deswegen müssen sie uns ja nicht hier auf dieses Luxusboot setzen. Ich meine, es ist wunderschön und irrsinnig romantisch. Schade, dass Yvonne nicht hier ist. Es wäre ein wunderbarer Ort, um sie kennen zu lernen. Wann werdet ihr euch sehen?«
»Als ich sie von Algier aus anrief, war sie bei ihren Eltern, am Tegernsee, wo sie sich ein wenig erholt. Auch für sie war das alles zu viel. Wenn wir übermorgen zurückfliegen, holt sie mich – uns – vom Flughafen ab.«
Jahzara schaute sich neugierig um. »Möchte nicht wissen, was so ein Nobeldinner auf diesem Boot kostet. Erst holen sie uns wie Staatsgäste in einem Privatjet aus Algier ab und quartieren uns in diesem Traumhotel ein – und nun auch noch das hier. Wie auch immer: Wir trinken jetzt Champagner und sprechen mal einen Abend lang nicht mehr über die zurückliegenden Wochen. Ich verdränge einfach, wo wir vor wenigen Tagen noch waren, sonst fange ich gleich wieder an zu heulen.«
Peter schaute Jahzara bewundernd an. Sie trug ein magentafarbenes, schulterfreies Kleid und sah umwerfend schön aus. Das Boot legte mit einem sanften Ruck ab. Ein Kellner kam zu ihrem Tisch, öffnete die Flasche Champagner, schenkte ein und parlierte in exzellentem Englisch: »Herzlich willkommen an Bord der Nile Maxim, Madame. Genießen Sie Ihren Aufenthalt bei uns. Das Dinner servieren wir in wenigen Minuten. Darf ich Sie auf unser exklusives Unterhaltungsprogramm unter Deck aufmerksam machen? Wie immer treten bei uns die besten arabischen Sänger und Sängerinnen auf. Highlight des Abends werden sicherlich die Tannoura sein.«
Jahzara lächelte dankend. Bevor sie den Kellner fragen konnte, wo die anderen Gäste seien, war der Mann bereits verschwunden.
»Nun gut, dann trinken wir den Champagner eben allein. Wird Zeit, dass wir feiern und uns ein wenig betrinken. Nüchtern kann ich das alles nicht mehr verdauen. Vor wenigen Tagen noch dem Tode nahe und jetzt auf einem Luxusschiff auf dem Nil – mit einer Flasche Champagner. Auf dein Wohl, Brüderchen! Das Leben hat uns zurück. Das Leben ist – «
Jahzara stockte, ihre Augen bekamen einen eigentümlichen Ausdruck. Dann lächelte sie, schlug die Augen nieder und presste sich verschämt ihre Serviette vor das Gesicht. Peter drehte sich um. Sein Herz überschlug sich. Aus dem Dunkel der Nacht kamen fünf Menschen auf sie zu. Einen der Männer kannte er nicht. Pater Benedikt hingegen sah in seinem schwarzen Priestergewand wie ein Gentleman aus. Er lächelte. Commissario Toscanelli neben ihm war in einen hellen Anzug gekleidet. Sein flachsfarbenes Haar wehte in der Abendbrise, und er schien bester Laune zu sein. Hinter ihm ging sein Assistent Pietro. Stolz schaute Toscanelli die Frau neben sich an. Sie trug ein schwarzes, knöchellanges Seidenkleid, das ihr schulterlanges blondes Haar gegen die Lichter des nächtlichen Kairo wunderbar zur Geltung brachte. Sie sah traumhaft aus.
»Y…vonne«, stotterte Peter. Er fühlte sich wie paralysiert, wusste nicht, ob er aufspringen oder seine grenzenlose Freude in die ägyptische Nacht hinausschreien sollte. Sprachlos, benommen vor unbändiger Glückseligkeit, stand er langsam auf und starrte sie an. Yvonne hatte Tränen in den Augen. Peter konnte seine Gefühle nicht mehr kontrollieren. Er eilte mit wenigen Schritten auf sie zu, schlang seine Arme um sie und verbarg sein Gesicht schluchzend in ihrem Haar. Dann blickte er ihr tief in die Augen und küsste sie innig. Er nahm kaum wahr, dass Jahzara ergriffen schniefte. Erst nach Minuten gelang es ihm, einige wenige Worte hervorpressen: »Die Wüste habe ich überlebt. Und jetzt kriege ich hier auf dem Nil einen Herzinfarkt. Wer, zum Teufel, hat sich das einfallen lassen?«
»Scusi, Signore Föllmer. Das war meine Idee!« Commissario Franco Toscanelli grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Ich war noch nie in Ägypten. Und da dachte ich, das sei eine gute Gelegenheit, auf Staatskosten mal hierherzukommen. Wir müssen solch wichtigen Zeugen wie Sie, Signora Yvonne und Signora Jahzara ja behüten! Zeugenschutzprogramm nennt man das. Und weil ich das wohl kaum allein tun kann, habe ich den Herrn neben mir zur Verstärkung mitgebracht. Darf ich vorstellen? Hauptkommissar Gert Fröbig vom deutschen Bundeskriminalamt. Er hat sich diese Dienstreise redlich verdient. Er hat nämlich Ihre Freundin befreit.«
Peter rang nach Luft. Yvonne in seinen Armen halten zu können, machte ihn unendlich glücklich. Es fiel ihm schwer, Contenance zu bewahren. Yvonne bibberte vor innerer Erregung und presste ihren Kopf fest an seine Schulter. Wie gerne hätte er in diesem Augenblick die Augen geschlossen und sie einfach nur in seinen Armen gewiegt. Aber er wusste, dass er etwas sagen musste: »Meine Herren, wie dankbar ich Ihnen allen für diese großartige Überraschung bin, muss ich wohl nicht sagen. Die richtigen Worte dafür fehlen mir sowieso. Aber ich darf Sie um Verständnis bitten, dass ich zunächst mal für einige Minuten mit diesen beiden einzigartigen Frauen allein sein möchte. Die beiden kennen sich nämlich nur vom Sehen. Es ist erst einige Wochen her, dass sie sich auf einem Boot in Venedig und wenig später in einem Museum in Lissabon gesehen haben. Seither ist viel geschehen. Mehr, als Sie erahnen können! Und deswegen bitte ich darum, dass Sie uns ein bisschen Zeit gönnen. Danach, würde ich vorschlagen, feiern wir!«
Pater Benedikt strahlte übers ganze Gesicht. Er war sichtlich ergriffen.
Commissario Toscanelli grinste spitzbübisch. »Selbstredend! Mein deutscher Kollege und ich sind ohnehin aus dienstlichen Gründen an Bord. Wir müssen erst mal schauen, ob sich keine Terroristen aufs Schiff geschmuggelt haben. Kommen Sie, Kollege Fröbig, merzen wir das Böse aus! Ich habe unten in der Bar gesehen, dass sich dort so unrühmliche Gesellen wie Mister Johnny Walker und dieser amerikanische Lump namens Jack Daniels in den Regalen versteckt haben. Nieder mit dem Bösen! Außerdem soll sich hier heute Abend ein tanzender Derwisch aufhalten. Vernichten wir dieses Übel. Die Sufis haben wir geschafft. Aber der Kampf gegen zwanzigjährigen Dimple oder diesen uralten Chianti ist eine echte Herausforderung, der wir uns nun stellen, während sich diese beiden so unglaublich hübschen Damen einander vorstellen. Unser ägyptischer Kollege ist schon unter Deck und observiert unsere Feinde. Als Moslem darf er ja nicht allzu nahe an dieses gefährliche Pack in den Flaschen ran! Also müssen wir beamtete Kreuzritter an vorderster Front stehen. Und Sie, Pater Benedikt, folgen uns unauffällig. Mit Gottes Hilfe ringen wir diese Beizebuben allemal nieder. Der Herr stehe uns bei! Heftige Scharmützel stehen uns bevor. Doch es ist eine kaum zu schlagende christlich-moslemische Allianz, die da dem Hochprozentigen zu Leibe rücken wird.«
Peter hätte sich am liebsten vor Lachen gebogen. Toscanelli war ein wirklich kauziger Kriminalbeamter. Aber so schnell, wie die beiden Polizisten, gefolgt von Pater Benedikt in seinem wehenden Priestergewand und Pietro, verschwanden, so nervös wurde er nun. Er sah eine heikle Situation auf sich zukommen. Yvonne hatte sich zwischenzeitlich aus seinen Armen gelöst und war hinter ihn getreten. Er wandte sich um. Was er sah, konnte er nicht glauben. Beide Frauen standen, ihre Arme gegenseitig um ihre Schultern geschlungen, in herzergreifender Eintracht nebeneinander und lächelten sich an. Es sah aus, als würden sie sich schon seit ewigen Zeiten kennen.
Peter suchte nach Worten.
Jahzara grinste.
Yvonne kicherte und feixte: »Ich denke, wir brauchen dich nicht! Geh ruhig runter zu den anderen und macht die Bar unsicher. Was es zwischen Jahzara und mir zu sagen gibt, werden wir allein besprechen. Es wird nicht viel sein. Über eins sind wir uns aber schon im Vorfeld klar, Peter, du bist an allem schuld! Jawohl, du! Jahzara hat damals nichts getan auf dem Vaporetto. Und ich auch nicht. Aber du gieriger Wüstennomade hast sie mit deinen Augen ausgezogen und begehrt. Mein Urteil und mein Strafmaß stehen schon fest. Werfe dich demütig auf die Planken hier vor uns und flehe unter ägyptischem Sternenhimmel um Gnade, ja! Von mir wirst du nämlich lebenslänglich bekommen. Für immer und ewig wirst du mich begehren, lieben und kuscheln müssen! Unser Kind auch! Bis dass der Tod uns scheidet, heißt das wohl.« Yvonne konnte sich vor lauter Grinsen kaum mehr halten. Sie zwinkerte Jahzara zu: »Ist das okay?«
Jahzara versuchte, eine böse Miene zu machen. Sie rollte mit ihren Augen: »Nein! Das ist zu milde für einen Lustmolch und Herzensbrecher. Zwei Kinder müssen es werden! Nein, besser noch drei! Mit drei Kindern und einer Frau hat er so viel zu tun, dass er auf keine dummen Gedanken mehr kommen wird. Genau so muss es sein! Erst wenn aus Babys erwachsene Söhne und Töchter geworden sind, darfst du wieder in die Wüste fahren. Und zwar gemeinsam mit den Kindern. So, wie es dein Vater damals mit dir gemacht hat.«
Jahzaras letzte Worte gingen in einem schallenden Gelächter unter.
Yvonne konnte sich vor Lachen kaum mehr auf den Beinen halten.
Jahzara weinte vor Begeisterung. Beide umarmten sich.
Mit dem Fahrtwind des Schiffes hörte Peter, wie Jahzara Yvonne ins Ohr flüsterte: »Jetzt hast du ihn wieder zurück. Du hattest ihn nie verloren. Zwischen uns war nichts, Yvonne. Nichts, was dir Sorgen bereiten müsste. Du hast ihn, er hat dich – und ich habe fortan einen tollen Bruder und eine ganz liebe Freundin.«
Yvonne schaute ihr tief in die Augen. »Er hat mir am Telefon von Algier aus so unglaublich viel Nettes und Beeindruckendes von dir erzählt, dass ich wusste, dass wir beide Freundinnen werden. Alles, was er mir erzählt hat, glaube ich ihm, denn eins war er immer: ehrlich! So unglaublich ehrlich, dass ich oft Probleme hatte, damit umzugehen. So viel Ehrlichkeit ist selten. In Zukunft weiß ich das zu schätzen.«
Die vier Männer kamen nach einer halben Stunde von der Bar im Unterdeck zurück und nahmen am Tisch Platz. Sie wirkten sehr ausgelassen. Pater Benedikt, der nach eigenem Bekunden »zwei Beelzebuben in rötlicher Verkleidung, versteckt in einer staubigen Flasche, vermutlich aus dem Raum Bordeaux«, vernichtet hatte, lachte so schallend und herzlich, dass selbst die Kellner über den ungemein fröhlichen Priester lächelten.
Das Boot schipperte langsam an der nächtlichen Skyline von Kairo vorbei den Nil aufwärts. Es war ein angenehm warmer Abend. Am Tisch herrschte ausgelassene Stimmung. Jahzara saß neben Yvonne und schien im Gespräch mit ihr völlig der Welt entrückt zu sein. Peter beobachtete beide aus dem Augenwinkel heraus. Er war unendlich glücklich.
Pater Benedikt war es, der schließlich sehr direkt fragte: »Was ist denn jetzt eigentlich, Ihrer Meinung nach, mit diesem Priesterkönig Johannes, von dem Sie mir in Algier erzählt haben? Ich habe schon so viel über ihn gehört und gelesen. Hat es ihn gegeben – in Äthiopien?«
Jahzara räusperte sich und antwortete in einem sehr nüchternen Ton: »Diese mystische Figur basierte wahrscheinlich maßgeblich auf der damaligen kollektiven Sehnsucht der Christenheit auf einen Erretterkönig. Im Idealfall einer, der weltliche und geistliche Macht in sich vereinte. Ich persönlich glaube, dass der berühmte Brief des Priesterkönigs Johannes schlichtweg eine Fälschung ist, die in Rom ersonnen wurde. Sieht ganz so aus, als sei es eine der größten Intrigen und Desinformationskampagnen der römisch-katholischen Kirche im Mittelalter gewesen. Als dann die Johannes-Akten mit ins Spiel kamen, man also plötzlich glaubte, der Apostel Johannes sei aus dem Grab in Ephesus auferstanden, ging der Mythos wie ein Lauffeuer um die Welt. Die Unsterblichkeit des Priesterkönigs war logisch erklärt! Der Mythos wurde dann über die äthiopischen Herrscher personifiziert. Damit avancierte der Priesterkönig Johannes im Bewusstsein des Abendlandes zu einem realen Machtfaktor. Die Einzigen, die davon nichts wussten, waren die Äthiopier selbst. Nur der Papst hatte mit dieser Entwicklung seine Probleme, denn die Christenkönige von Aksum und Lalibela waren unbeugsamer, als es der römisch-katholischen Kirche lieb war. Deswegen versuchte Rom auch, uns dem Untergang zu weihen.«
Pater Benedikt legte seine Stirn in Falten. Er fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Rolle. »Dieses Kapitel der römisch-katholischen Kirche, verehrte Jahzara, beschämt mich. In den Jahren meiner Forschungen habe ich leider noch mehr Beweise dafür gefunden, dass die Heiligen Väter in Rom christliche Nächstenliebe in der damaligen Zeit höchst zynisch und von Machtansprüchen besessen interpretierten. Deswegen kann ich Ihnen auch versichern, dass ich Sie in all Ihren Bestrebungen, diesen Skandal an die Öffentlichkeit zu bringen, unterstützen werde. Mit allen Konsequenzen! Charles Bahri wurde aus seinem Orden ausgeschlossen, weil er den Mund aufgemacht hatte. Wenn es denn Gottes Wille ist, so wird mir das auch widerfahren.«
Am Tisch herrschte betroffenes Schweigen. Niemand hatte damit gerechnet, dass Pater Benedikt sich so eindeutig hinter Jahzara stellen würde. Der Pater fühlte sich aber offensichtlich sehr erleichtert. Er griff nach einem Glas Wein und atmete tief durch.
»Verraten Sie mir doch bitte noch eins, Jahzara. Warum, glauben Sie, ist die Karawane durch Feuer vernichtet worden, wie Sie ja vermuten? Setzte ein gedungener Verräter die Karawane in Brand, auf dass sie nie die afrikanische Westküste und damit auch nicht Europa erreicht? Geschah das im Auftrage Roms? Oder hat göttliche Macht das Feuer entfacht? Haben Sie dort im Sand etwas gefunden, was diese Fragen beantworten könnte?«
Jahzara merkte auf. Sie wusste genau, was der Pater damit meinte. Er sprach von der Bundeslade, wollte dieses Wort scheinbar nicht in den Mund nehmen. Sie schaute Peter fragend an. Was sollte sie antworten?
Doch Peter kam ihr zuvor und ergriff das Wort: »Nein, Pater! Wir haben keine Hinweise auf, wie Sie es nennen, göttliche Macht, gefunden! Das Einzige, was wir in einer hölzernen Kiste fanden, waren Kleidungsstücke, eine Hand voll nicht wirklich wertvoller Schmucksteine und eine Halskette der Prinzessin Sahel. Mehr nicht.«
Jahzara schielte zu Peter. Er zwinkerte ihr mit einem Auge zu. Sie verstand und sprach direkt den Commissario an: »Womit wir bei einem sehr heiklen Thema sind, Commissario. Sie als Italiener werden sicherlich nachvollziehen können, dass diese persönlichen Gegenstände der Prinzessin Sahel für mich und mein Volk von unschätzbarer Bedeutung sind. Es sind Reliquien! Und ich möchte sie meinem Volk zurückgeben, sie dorthin bringen, wo sie hingehören: nach Äthiopien.«
Der Commissario nickte wissend. »Ich verstehe, was Sie sagen wollen. Wie kann ich Ihnen dabei helfen, Jahzara?«
»Wir haben diese wenigen Utensilien und die Steine in einem Kästchen im Flugzeug der ägyptischen Regierung mit hierhergebracht. Glücklicherweise am Zoll vorbei. Aber wir wissen nicht, was geschieht, wenn wir damit ausreisen wollen. Ägypten ist im Umgang mit solchen Dingen sehr penibel. Ich würde in Tränen ausbrechen, wenn diese Reliquien, die meinem Volk gehören, hier in Kairo konfisziert werden würden. Dürfte ich Sie bitten…?«
Commissario Toscanelli überlegte nicht sehr lange. Mit einem Blick zu seinem deutschen Kollegen, der ihm wohlwollend zunickte, sagte er: »Geben Sie mir die Schachtel morgen, Jahzara. Ich werde die Reliquien für Sie aus dem Land bringen. Ich genieße diplomatischen Schutz. Niemand wird mich kontrollieren. Sie haben uns bei der Klärung von Verbrechen geholfen und haben den Deutschen wie auch den Ägyptern im Kampf gegen Terrorismus und Kriminalität so unglaublich wertvolle Dienste geleistet, dass es mir eine Ehre sein wird, Ihnen diese kleine Gefälligkeit zu erweisen. Bei all dem unglaublichen Mist, den Rom vor vielen Jahrhunderten mit den Christen in Ihrer Heimat verzapft hat, wird Rom, mit mir als Repräsentanten, Ihnen diesen Gefallen erweisen. Sehen Sie es als Wiedergutmachung. Wenn der Papst schon nichts tut, muss ja irgendjemand damit anfangen.«
Jahzara stand auf, ging um den Tisch herum und blieb vor Franco Toscanelli stehen. »Danke, Commissario! Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Sind Sie schon mal im Namen eines Volkes geküsst worden?« Jahzara beugte sich nach vorne.
Der Commissario errötete vor Stolz und Freude, hielt ihr dann aber bereitwillig seine Wangen entgegen und stotterte: »Hatten Sie nicht gesagt, dass Ihr Namen übersetzt ›Prinzessin‹ bedeutet? Ach, wunderbar! Ich… ich bin noch nie von einer afrikanischen Prinzessin geküsst worden.«
Pietro schaute seinen Chef verdutzt an und räusperte sich leise: »Commissario, das Geschenk.«
Commissario Toscanelli blickte auf, schien für Momente nicht zu wissen, um was es ging, und kramte dann aus seiner Jackentasche etwas hervor. »Das hier, verehrte Jahzara, soll ich Ihnen von der Ehefrau des italienischen Botschafters in Algier übergeben. Sie fand sie beide so hinreißend und war von ihrer Geschichte so gerührt, dass sie mich bat, Ihnen diese kleine Aufmerksamkeit zu übergeben. Es ist ein sehr altes silbernes Kreuz. Nehmen Sie es, Jahzara, als Dank einer römisch-katholischen Christin. Und als Erinnerung.«
Er überreichte ihr das Schmuckstück. Jahzara war sprachlos. Es war ein wunderschönes, sehr fein gearbeitetes, handgroßes Kreuz aus Altsilber. Sofort erkannte sie, dass es ein so genanntes Havaria-Kreuz war, das durch ein Kreuz in einem Quadrat zu erkennen war. Die vier Ecken des Kreuzes bezogen sich dabei auf die vier Enden der Erde, wie sie in der Offenbarung beschrieben worden war. Behutsam strich sie über das Schmuckkreuz.
»Danke! Vielen Dank! Es ist unglaublich schön. Ich werde der Gattin des Botschafters diese sehr herzliche Geste nie vergessen.«
Das Schiff hatte inzwischen den Punkt außerhalb Kairos erreicht, wo es wenden musste. Die Stimmung am Tisch war sehr melancholisch. Die Nacht legte sich über die Stadt. Unter Deck erklangen fremdartige Töne. Trommeln dröhnten. Grelle Kehllaute trällerten. Die schrillen Töne einer Flöte ließen erahnen, dass die Tannoura ihre Vorstellung begannen.
»Die haben mir jetzt gerade noch gefehlt«, spöttelte Peter. »Von Derwischen, auch wenn sie nur für Touristen tanzen, habe ich für den Rest meines Lebens die Nase voll.«
Commissario Toscanelli schien darüber nicht lachen zu können. Er sah plötzlich sehr blass aus. »Tut mir leid, tut mir wirklich leid! Aber ich glaube, ich vertrage diesen leichten Wellengang nicht. Verdammt auch! Ich lasse mich in die Wüste versetzen. Mir ist auf einmal so schlecht.« Mühselig stand er auf und wankte in eine dunkle Ecke am Bug.
Hauptkommissar Gert Fröbig schaute dem Commissario hinterher. Dessen wankender Gang blieb bei dem Deutschen nicht ohne Wirkung. Der BKA-Mann verzog sein Gesicht. »Scheibenkleister! Auch das noch! Ich dachte, wenigstens mir bleibt das erspart. War wohl nichts. Zwei kotzende Kommissare in Venedig – und jetzt das gleiche Spiel auf dem Nil.« Schnellen Schrittes eilte er seinem italienischen Kollegen hinterher.
Die Dunkelheit verschluckte die beiden Kriminalbeamten. Selbst bei dem Lärm, den die tanzenden Derwische unter Deck machten, war kaum zu überhören, dass es ihnen nicht gut ging.
Peter biss die Zähne zusammen. Seine Augen funkelten vor Spott. »Wenn das mal kein krönender Abschluss einer romantischen Dinnernacht auf dem Fluss aller Flüsse ist. Zwei Terrorexperten hängen synchron über der Reling! Schade um die exzellenten Shrimps und den fantastischen Lammrücken. Aber was soll’s? Dann haben wir den Champagner eben für uns allein. Pater Benedikt, kommen Sie, lassen Sie uns auf die Zivilcourage von Charles Bahri anstoßen!«
Er nahm die Flasche und schenkte erst Jahzara, danach dem Pater, dann Pietro und schließlich sich selbst nach. Ganz kurz beugte sich Peter zu Yvonne hinüber. Sie schwieg, lachte ihn aber glücklich an. Er legte seine Hand auf ihren Bauch.
»Wie fühlt sich das da drinnen an? Weißt du schon, was es ist? Ein Junge? Oder ein Mädchen?«
Jahzara schaute zu ihnen herüber. Sie räusperte sich und grinste: »Könntet ihr vielleicht noch ein wenig warten, bevor ihr rumschmust? Ist ja nicht zu glauben. Zeigen Sie Contenance, Brüderchen! Sonst werde ich nämlich neidisch. Da der nette Commissario und sein ebenso netter deutscher Kollege über der Reling hängen und außer dem ehrwürdigen Pater Benedikt und Pietro sonst niemand zum Knuddeln hier ist, bitte ich doch höflichst um Zurückhaltung, ihr beiden Süßen!«
Jahzara erhob das Glas und betrachtete Peter und Yvonne durch den bernsteinfarbenen Champagner hindurch. Plötzlich erstarrte sie, rückte ihren Stuhl nach hinten und ging zur Reling.
»Was ist? Warum hat es dir die Sprache verschlagen?«
Peter verstand nicht, warum Jahzara plötzlich so angespannt aussah. Er stand ebenfalls auf und ging zu ihr. Yvonne folgte ihm und legte ihren Arm um Jahzaras Schulter. Sie sah, dass Jahzara das silberne Kreuz mit beiden Händen umklammert an die Brust gepresst hielt.
»Seht mal dort drüben – da links, am Ufer. Das Haus von Charles Bahri.«
Peter schaute hinüber zu dem Lichtermeer. Er musste schlucken. Einen Augenblick lang schämte er sich, vor lauter Euphorie nicht daran gedacht zu haben. Dort drüben, nicht weit vom Ufer des Nils entfernt am Talaat-Harb-Platz, lag die alte Kolonialvilla mit der großen Fensterscheibe, umringt von Geschäftshäusern mit grellen Neonlichtern. Peter bekam Gänsehaut. Hier in der Sharia-Qasr-el-Nil-Straße hatte im Buchladen L’Orientaliste vor einigen Jahren alles angefangen. Für ihn – und für Jahzara. Für Charles hatte die Suche nach der Wahrheit tödlich geendet. Für Jahzara und für ihn um Haaresbreite auch. Ebenso für Yvonne. Sie alle waren in einen mörderischen Strudel von Gewalt geraten. Nun saßen sie drei auf einem Luxusdampfer, tranken Champagner und waren kurz davor gewesen, den Abend in grenzenloser Glückseligkeit zu verbringen. War das pietätlos? Würde es Charles gefallen, dass sie hier so rührselig glücklich zusammensaßen? Charles hatte Jahzara und ihn zusammengebracht. Es hatte das sehr raffiniert eingefädelt. Letztendlich hatte Charles erreicht, was er beabsichtigte: Sie hatten die Karawane gefunden. Bald würde Jahzara ihr Wissen an die Öffentlichkeit bringen. Charles wäre sicherlich unheimlich stolz auf sie drei. Schade, dass der kauzige Alte das nicht hatte erleben können!
Peter drehte sich zu Jahzara und Yvonne um. Beide waren sehr traurig.
Mit zittriger Hand hob Jahzara ihr Glas und hielt es in Richtung des Nilufers, hin zu dem Haus, an dem einst L’Orientaliste geschrieben stand. »Wir denken an dich, Abba – alter, weiser Mann! Wir werden immer an dich denken. Die Wahrheit war dir dein Leben wert. Du hast einen hohen Preis für deinen unantastbaren Glauben an Gerechtigkeit bezahlt. Ich verspreche dir in allen Ehren und aus der Verpflichtung heraus, die ich meinen Ahnen und christlichen Mitbrüdern und Schwestern gegenüber habe, dass die Welt erfahren wird, was damals in Rom, in Äthiopien und im Land der Leere geschehen ist. Auf dein Wohl, Charles Bahri! Solche Männer wie dich gab und gibt es zu wenige auf der Welt.«
Jahzara zupfte die weiße Leinenserviette vom Tisch und schniefte.
Yvonne legte ihren Kopf tröstend auf Jahzaras Schulter.
Peter räusperte sich ergriffen. Er hob sein Glas in Richtung der Sharia Qasr el-Nil und murmelte: »Wenn es ein Junge wird, Charles, werden wir ihm deinen Namen geben. Wird es ein Mädchen, so soll sie Sahel heißen. Cheers! Für dich werden die guten Zeiten leider nicht mehr kommen, Charles Bahri. Sie waren schon da. Schade, einen Mann wie dich hätten wir gerne als Freund gehabt – und als Taufpaten.«
Peter wollte soeben einen Schluck Champagner trinken, als sein Blick auf das Kreuz in der Hand von Jahzara fiel. Sie hielt es fest an ihre Lippen gepresst. Im spärlichen Abendlicht sah er auf der Rückseite des silbernen Kreuzes etwas, das ihn stutzig machte. Da schienen einige Zeichen oder Zahlen eingraviert zu sein. Er tat einen Schritt auf Jahzara zu. »Kann… kann ich das Kreuz mal eben sehen?«
Jahzara reichte es ihm.
Peter hielt das Schmuckstück so ins Licht, dass er mit zusammengekniffenen Augen die Details auf der Rückseite erkennen konnte. Er erstarrte. Er kannte diese Zeichen und Zahlen! Und ob er sie kannte! Er selbst hatte sie vor einigen Wochen in genau dieser Reihenfolge ausgearbeitet und eingetippt. Es waren die Koordinaten des GPS-Geräts! Unfassbar! Auf diesem Kreuz standen die Längen- und Breitenkoordinaten des Ortes im Land der Leere eingraviert, wo ihr Wagen unter dem Wüstensand lag. Und der Schatz, die Karawane!
Jahzara starrte ihn fragend an. »Was steht da auf dem Kreuz? Eine Widmung?«
Peter schaute sie an, legte zitternd seinen Arm um Yvonne. »Ich fasse es nicht! Das hier sind die Koordinaten, die uns zur Karawane zurückführen könnten, wenn wir es denn jemals wieder wollten. Aber ich will da nie wieder hin! Deswegen habe ich doch mein GPS-Gerät aus dem Hubschrauber geworfen, damit wir nie in Versuchung kommen werden, noch einmal an diesen Ort des Grauens zurückzukehren. Ich Dummkopf! Der Hubschrauberpilot hatte diese Koordinaten doch auch. Der hat uns gesucht. Und natürlich hat seine Bordelektronik genau verzeichnet, wo er uns fand. Er weiß es. Er weiß nur nicht, welch unvorstellbaren Schätze dort im Sand verschüttet liegen. Er hat uns diese Koordinaten wohl zukommen lassen als nett gemeinte Erinnerung an einen Ort, an dem wir beinahe lebendigen Leibes begraben worden wären! Der Pilot hat es der Botschafterin gesagt und die hat es in das Kreuz eingravieren lassen. Wahnsinn! Was machen wir nun?«
Jahzara hatte die ganze Zeit auf den Nil gestarrt. Ihr Blick glitt über den Fluss hin zu Charles ehemaligem Buchladen. »Im Land der Leere liegen nicht nur die Prinzessin Sahel und ein unvorstellbarer Schatz. Dort liegt eine auch unrühmliche Wahrheit im Sand verborgen. Und ein großes Mysterium! Alles, was dort bei der verschollenen Karawane vom Meer der Finsternis zugedeckt wurde, hat schon vielen Menschen Unglück gebracht! Gog und Magog und auch der Gott der Christen und Juden und Moslems – sie alle ringen um dieses Geheimnis, behüten es und beanspruchen es für sich. Die Mächte des Bösen und die des Guten wollen nicht, dass einige dieser Wahrheiten gefunden werden. Was einst gedacht war als Erlösung des äthiopischen Volkes, hat all jenen, die danach gierten, den Tod gebracht. Nur uns nicht!«
Jahzara hatte wie in Trance gesprochen.
Yvonne zitterte am ganzen Leib.
»Peter, gibst du mir das Kreuz, bitte?« Jahzara nahm das Schmuckstück entgegen, stierte auf die Gravuren, stammelte eigene wenige Worte in Amharisch und warf das Kreuz mit einer kurzen Handbewegung in die dunklen Fluten des Nils. Sie blickte dem Kreuz nicht einmal hinterher. Mit aufblitzenden, trotzigen Augen wandte sie sich zu Peter und Yvonne.
»Die Stimmen meiner Ahnen sagen mir, dass wir dort im Land der Leere belassen sollten, was der Allmächtige in Seiner Wut auf die Gier der Menschen vor Jahrhunderten im Sand der Sahara begraben hat. Wir haben eine Wahrheit gefunden, die nur schmerzt und die eigentlich heute niemand wissen will. Womöglich würde diese Wahrheit nur noch mehr Zwietracht unter den Religionen dieser Erde bewirken. Vielleicht liegt dort etwas verschüttet, eines der großen Mysterien der Christenheit, was in den Vatikan nach Rom transportiert, vor den heranrückenden islamischen Horden in Sicherheit gebracht werden sollte. Vielleicht gelangte es sogar nach Rom. Wissen wir, ob diese Karawane nicht absichtlich ins Verderben geführt wurde, um missliebige Zeugen zu beseitigen? Wissen wir, ob nicht ruchlose Verräter und gedungene Mörder Feuer gelegt haben, um alle Spuren zu beseitigen? Nein, wir wissen es nicht und wir werden es auch nie in Erfahrung bringen. Und das ist gut so! Wir drei Auserwählte haben durch diese verschollene Karawane aber etwas gefunden, was mit Diamanten und Rubinen nicht auf gewogen werden kann: Wir haben uns gefunden! Lasst die verschollene Karawane ruhen. Glaubt mir, Gog und Magog werden sich fortan sanftmütig zeigen und dorthin zurückkehren, woher sie gekommen sind – ins Meer der Finsternis im Land der Leere.«