6.

 

Federico Pessagno hielt die Schmerzen nicht mehr aus. Die Narben seines Beinstumpfes schwollen an und die nässende Wunde am Oberschenkel begann, grauenhaft zu jucken. Er kannte das zwar mittlerweile, aber es überforderte seine Selbstbeherrschung, wenn sich unter dem Schorf Millionen Ameisen zu bewegen schienen. Kratzen half nichts. Stattdessen infizierte sich das Bein dort, wo ihm bei dem Unfall der Metallbügel der Vorderradgabel vom Motorrad in den Oberschenkel eingedrungen war. Aus einer anfänglich gut heilenden Wunde war ein fast handgroßes, permanent juckendes, eitriges Wundmal geworden. Das Jucken war längst zu einem größeren Problem geworden als der fehlende Unterschenkel.

Seit sie ihm vor sechs Monaten sein Bein bis oberhalb des Knies amputiert hatten, litt er zudem unter Witterungsumschwüngen. Schon Stunden bevor anderes Wetter aufzog, spürte er die Veränderungen des Luftdrucks in seinem Bein. Manchmal litt er höllische Qualen. Mehr als Schmerzmittel konnte der Arzt nicht verschreiben. Doch die Pillen machten ihn willenlos, betäubten nicht nur die Schmerzen, sondern auch den Verstand. Es war ein Teufelskreis, der sein Leben radikal verändert hatte.

Auch heute hatte er gegen Mitternacht plötzlich im Schlaf gespürt, dass eine Schlechtwetterfront aufzog. Die Schmerzen kamen schneller, als die Tabletten wirkten. Unruhig stampfte er, auf seine Krücke gestützt, durch sein Wohnzimmer bis zum Flur. Er krümmte sich vor Schmerzen, verlor das Gleichgewicht, taumelte, stürzte nahe der Haustür und kam mit seinem Kopf davor zum Liegen. Ein stechender Schmerz schoss durch den Beinstumpf. Völlig benommen sah er dennoch durch den Türschlitz einen Lichtkegel im Treppenhaus. Augenblicklich verdrängte Angst seine Schmerzen. Da war jemand. Einbrecher!

Abermals schielte er durch den Schlitz unter der Tür hindurch. Da war er wieder, ein kleiner Lichtkegel. Federico atmete schneller. Diebe! Schon wieder! Seit 15 Jahren war er hier Hausmeister. Ein dutzend Mal war bereits eingebrochen worden. Das Viertel hatte sich mit dem Zustrom der Emigranten aus Afrika, Südamerika und aus arabischen Ländern zu einem Sammellager krimineller Elemente entwickelt. Die Häuser in Alfama waren alt und baufällig, die Mieten daher niedrig.

Federico überlegte angestrengt. Die Polizei zu rufen, war sinnlos. Polizisten ließen sich immer absichtlich viel Zeit, wenn sie nach Alfama mussten. Sie hassten die Immigranten. Was, wenn dieser Einbrecher in seine Wohnung wollte? So, wie er hier lag, wäre er ein leichtes Opfer. Wahrscheinlich würde er sogar umgebracht werden. Das würde er zu verhindern wissen. Die Mieter im Haus waren ihm gleichgültig. Er mochte sie nicht. Und sie mochten ihn nicht. Die einzig wirklich Nette war die hübsche Äthiopierin oben unter dem Dach. War sie überhaupt da? Bedacht darauf, keine Geräusche zu machen, drehte sich Federico langsam auf den Bauch. Er musste an den Schrank gelangen. Dort lag die Schrotflinte. Er besaß sie noch aus der Zeit, als er Tontaubenschütze gewesen war. Einer der besten an der Algarve. Auch das war vorbei. Mit einem Bein, auf Krücken, ließ sich schlecht schießen. Dennoch konnte man sich selbst mit einem Bein gegen Einbrecher, Räuber und Mörder schützen. Nach wenigen Sekunden hatte er den Einbauschrank erreicht. Mühsam gelang es ihm, die Tür zu öffnen. Der kalte Holzschaft der englischen Bockdoppelflinte beruhigte ihn. Er zog die Waffe hervor und kippte den Lauf nach vorne. In beiden Kammern waren Patronen. Viererschrot. Perfekt! Auf kurze Distanz hob das selbst ein Wildschwein von den Beinen. Lautlos ließ er beide Läufe einschnappen, entsicherte die Flinte und robbte langsam zurück zur Tür. Millimeter um Millimeter drehte er den Haustürschlüssel um. Er hielt den Atem an und lauschte angestrengt. Wusste der Eindringling womöglich von seiner Münzsammlung?

Federico setzte sich vorsichtig auf und zog mit der linken Hand die Türklinke herunter. Die Flinte hielt er mit der rechten Hand umklammert, der Zeigefinger lag am Abzug. Als der Türspalt groß genug war, schob er den Lauf der Flinte hindurch. Er spähte hinaus. Da schien niemand zu sein. War der Einbrecher schon weg? Er vergrößerte den Türspalt, um das Treppenhaus überblicken zu können. Es war stockfinster. Aber was war das da vorne, in der Ecke auf den Stufen unter dem kleinen Fenster – das Schwarze? Er beugte sich ein wenig weiter nach vorne. Die schwere Flinte deutete in Richtung Treppe. Er spürte, wie sein Arm zitterte. Plötzlich bewegte sich das Schwarze auf der Treppe. Es war ein Schuh. Dann noch einer. Gegen das spärliche Licht des Fensters hob sich eine Gestalt ab. Ein Mann. Ein Hüne! Federico erstarrte. Es war ein Monster von Mensch! So hünenhaft die Gestalt war, so schnell bewegte sich der Mörder plötzlich. Federico ahnte, dass er keine Zeit mehr für einen Warnschuss hatte. Mit dem Rücken an die Wand gelehnt, zog er den Lauf der Flinte ruckartig hoch.

»Halt, Stopp!«

Dann ging der Schuss los. Im Widerschein des Mündungsfeuers sah er den Vollbart des Mannes. Und er sah Augen, wie sie nur Mörder haben. Die schwarze Gestalt wurde an die Wand geschleudert, fiel jedoch nicht zu Boden. Die Wucht des Schusses riss Federico die Flinte aus der Hand. Die Waffe schepperte zu Boden. Jäh stürzte sich der Hüne auf ihn. Dann wankte er auf einmal, stöhnte, taumelte – und fiel rückwärts die Treppe herunter. An den dumpfen Aufschlägen konnte Federico erahnen, wie riesig dieser Mann sein musste. Sehen konnte Federico nichts. Doch er wusste, dass er getroffen hatte. Plötzlich quietschten die Scharniere der Eingangstür. Ein Lichtschein von der Straßenlaterne fiel ins Treppenhaus. Dann war der Hüne weg. Ob er oben bei der Äthiopierin gewesen war? War sie eigentlich wieder da? Egal! Ihn hatte dieses Monster nicht erwischt! Auch Krüppel können mit Schrotflinten umgehen. Dann schrie er um Hilfe.

 

Es war ein nettes Hotel, und von ihrem Zimmer aus hatte man einen herrlichen Blick auf die Altstadt. Aber Peter konnte weder den Ausblick noch das Ambiente genießen. Die Stimmung zwischen ihm und Yvonne war eisig. Längst bereute er seine Entscheidung, sie gebeten zu haben, mit nach Lissabon zu fliegen, um ihm bei seiner Recherche zu helfen. Er hatte keine andere Wahl gehabt, denn sie sprach neben Italienisch auch Spanisch und Portugiesisch. Da er zudem davon ausging, dass einige der Unterlagen in den Bibliotheken gute Lateinkenntnisse erforderten, hatte er sich leichtfertig über seine anfänglichen Bedenken hinweggesetzt. Das war ein Fehler gewesen. Yvonne hatte seine Bitte missverstanden, was sie ihm soeben unmissverständlich mitgeteilt hatte.

Er versuchte, die Stimmung zu retten: »Also gut, Yvi, ich habe weder das Geld noch die Zeit, um länger als vier bis fünf Tage hierzubleiben. Ich bin froh, dass mir mein Chef so kurzfristig Urlaub gegeben hat. Lass uns bitte wie erwachsene Menschen miteinander umgehen. Ich verspreche dir, wenn wir zurück in München sind, werden wir über unsere Freundschaft reden. In aller Offenheit. Ist das okay?«

Yvonne nippte an ihrem Espresso. So früh am Morgen waren sie die einzigen Gäste in der Hotelbar.

»Gut, wenn ich schon so blöde war zu glauben, dass ich nicht nur als Dolmetscherin erwünscht bin, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als mich zu beherrschen. Aber um eines bitte ich dich, rühr mich im Bett nicht an. Du weißt, dass ich dir nicht widerstehen könnte. Das wäre nicht fair von dir. Wir liegen wie Bruder und Schwester nebeneinander, ja? Was also machen wir heute zuerst? Schwesterchen ist bereit. Auf geht’s! Ergründen wir das Geheimnis von ›IDA‹ und ›ELENI‹.«

 

Jahzara traute sich nicht, in die U-Bahn einzusteigen. Sie stand auf dem Bahnsteig. Die Türen des Wagons waren geöffnet. Sie schaffte es jedoch nicht, sich zu bewegen. Sie hatte den Schock über die jüngsten Ereignisse noch nicht verdaut. Was in ihrem Haus mit dem einbeinigen Federico passiert war, hatte sie in eine Welt aus Angst und Schrecken versetzt. Der offiziellen Version über das, was da eine Etage unter ihr geschehen war, schenkte sie keinen Glauben. Den Schuss aus der Schrotflinte hatte sie nur im Unterbewusstsein, im Tiefschlaf wahrgenommen. Doch dieser panische Hilfeschrei des Hausmeisters hatte sie in ihrem Bett erstarren lassen. Der Araber! Der Verfolger! Der Mörder von Charles Bahri! Das waren ihre ersten Gedanken gewesen. Dann waren Schreie von anderen Mietern durch das Haus gehallt. Jemand hatte »Policia! Policia!« geschrien. Tatsächlich war wenig später die Polizei gekommen. Angeblich hatte Federico einen Einbrecher überrascht und auf ihn geschossen. Blutspuren im Treppenhaus und auf der Straße ließen den Schluss zu, dass er getroffen hatte.

Die Polizei neigte zu der These, dass es sich um einen Dieb gehandelt hatte. Jahzara jedoch glaubte kein Wort davon, denn da gab es etwas, was die Polizisten im Treppenhaus gefunden hatten: eine Drahtschlinge mit zwei hölzernen Griffen. Der Eindringling hatte sie im Treppenhaus verloren. Sie hatte gehört, wie einer der Polizisten zu seinem Kollegen gemeint hatte, wie ungewöhnlich es sei, dass ein Einbrecher eine Scarpia dabeihabe, eine jener Drahtschlingen, mit denen professionelle Killer ihre Opfer erdrosseln. So wie bei den Mafiosi in Italien. Das hatte Jahzara in Panik versetzt, zumal der einbeinige Hausmeister den Polizisten auch noch gesagt hatte, dass er das Gesicht des Hünen gesehen habe. Und dass er deshalb glaube, der Hüne sei ein Araber gewesen. Seitdem fühlte sich Jahzara wie gelähmt vor Angst. Sie traute sich nicht, den Polizisten mitzuteilen, was sie vermutete. Dieser Mann hatte sie vielleicht töten wollen.

Das erschütterte sie. Erst dieser Araber in Venedig. Und nun ein weiterer hier, in dem Haus, in dem sie wohnte. Beide lebten noch. Was wollten diese Männer von ihr? Hatten sie etwas mit Charles zu tun? Seit Venedig wusste sie allerdings, wo sie wahrscheinlich Antworten finden würde: in Santa Maria de Belém. Dort hinzukommen, stellte sie jedoch vor große Probleme. Es war eine Art Klaustrophobie, die sie daran hinderte, die U-Bahn zu betreten. Panikattacken schüttelten sie. Eine Stunde brauchte Jahzara schließlich mit dem Fahrrad, das sie sich von einer Freundin geliehen hatte. Am Rio Tejo entlang, unterhalb des Bairro Alto, war sie Richtung Belém gestrampelt. Erschöpft von der langen Fahrt, stand sie schließlich vor dem Eingang des Museu de Marinha, am Ende des Westflügels des Mosteiro dos Jerónimos. Das prachtvolle Kloster, das Manuel I. Anfang des 16. Jahrhunderts hatte bauen lassen, um den in Spanien angesiedelten Hieronymus-Orden nach Portugal zu holen, entfaltete im sanften Morgenlicht seine wahre Pracht. Das rote Dach schimmerte unnatürlich intensiv. Der Sakralbau aus hellem Kalkstein, der auf wundersame Weise Stilelemente aus der Renaissance mit gotischen und orientalischen Einflüssen eint, war einer ihrer Lieblingsplätze in Lissabon. Oft hatte sie schon in dem orientalisch anmutenden Kreuzgang vor dem Springbrunnen gesessen und die einzigartige Atmosphäre dieses kolossalen und doch so verspielt wirkenden Bauwerks auf sich wirken lassen. Im Marinemuseum war sie allerdings noch nie gewesen. Der Museumsdirektor aus Venedig hatte ihr jedoch dringend geraten, es zu besuchen.

Die prächtige Eingangshalle mit dem fantastischen Kreuzgewölbe und den farbenprächtigen Bleiglasfenstern wurde geprägt von einer überdimensionalen, aus weißem Marmor modellierten Statue. Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Da war er! Der Mann, der ganz offensichtlich in diesem Puzzle von Charles eine so große Rolle spielte: Infante Dom Henrique! Heinrich der Seefahrer, sie ahnte es, war der Schlüssel zum Verständnis all jener Dinge, die in den Büchern und Dokumenten geschrieben standen. Das alte portugiesische Buch las sich zwar eher wie ein Roman, aber was, wenn der Museumsdirektor aus Venedig die Wahrheit gesagt hatte? Dann würde sie hier in der Biblioteca Central da Marinha Dokumente finden, die all das bestätigen. Dann wäre die Sensation perfekt.

Die riesige Weltkarte an der Stirnwand der Eingangshalle beeindruckte sie enorm. Neben den wichtigsten Seerouten portugiesischer Seefahrer war auch die Grenzlinie westlich der Kapverdischen Inseln eingezeichnet, die nach der Einigung zwischen der portugiesischen und der spanischen Krone im Vertrag von Tordesilhas die Welt in zwei zur Eroberung freigegebene Gebiete unterteilt hatte: jene westlich der von Nord nach Süd verlaufenden Linie für die Spanier, die im Süden und Osten für Portugal. Damit hatte sich Portugal Afrika einverleibt. Der Papst hatte diese Aufteilung der Welt abgesegnet.

Jahzara atmete tief durch. Diese Karte war ein Synonym für die grenzenlose Arroganz und Beweis für das repressive, imperialistische Gedankengut abendländischer Mächte. Wie einen Kuchen hatten sie die Erde und die Völker der Welt unter sich aufgeteilt. Legitimiert von der katholischen Kirche als »Missionierung heidnischer Völker«, hatten erst Spanien und Portugal, später dann auch andere europäische Staaten die Meere durchkreuzt, um dem Rest der Welt mit Feuer und Schwert ihre Vorstellung von christlicher Nächstenliebe zu lehren. Aber in Äthiopien – ihrer Heimat –, so stand es in diesem alten Buch, hatten die Portugiesen offensichtlich auch noch nach etwas anderem gesucht. Es hatte mit Eleni zu tun gehabt. Jeder in Äthiopien kannte Eleni. Was aber wollten die Portugiesen damals von ihr?

Jahzara stand nur einen Meter von der riesigen Wandkarte entfernt. Ihre Augen fixierten die Regionen am Horn von Afrika. Da war es! Dort, wo sich das Gebiet des heutigen Äthiopien erstreckte, stand unter einem Kreuz »Terras do Preste João« geschrieben. Der Anblick dieses Namens überwältigte sie. Die Portugiesen hatten es gewusst oder wenigstens vermutet, dass das Christenreich des legendären Priesterkönig Johannes im heutigen Äthiopien liegen könnte. Und sie hatten offensichtlich konkrete Vorstellungen darüber gehabt, wie man dort hingelangte. Alle Land- sowie Seewege von Europa nach Ägypten und in das Reich von Aksum waren damals von muslimischen Heerscharen versperrt gewesen. In dem Buch von Charles stand geschrieben, dass die Portugiesen nur eine Chance sahen, diesen sagenumwobenen Preste João zu erreichen: von der afrikanischen Westküste aus über die großen Flüsse Afrikas ostwärts. Dabei stützten sie sich auf uralte arabische und ägyptische Landkarten, die eine direkte Verbindung aller großen afrikanischen Flüsse untereinander und zu den großen innerafrikanischen Seen aufzeigten. Wenn diese so genannte Niger-Nil-These zutraf, dann musste es möglich sein, über die großen westafrikanischen Flüsse Senegal, Gambia, Niger oder über den Zaire ostwärts quer durch Afrika zum Nil und von dort weiter ins Reich des Preste João nach Nordostafrika zu gelangen. Per Schiff! So zumindest stand es in dem Buch.

Jahzara erschauerte, denn dann war die weltbekannte These, dass die Portugiesen den Seeweg nach Indien gesucht hatten, nichts anderes als ein Täuschungsmanöver gewesen. Der anonyme Autor behauptet sogar, dass der portugiesische König seine Geheimpolizisten und die im Ausland residierenden Diplomaten angewiesen hatte, gezielt Desinformationen von einer angeblichen Suche nach dem Seeweg nach Indien zu verbreiten. Es war ein perfekt eingefädeltes Komplott. Man wollte lediglich sicherstellen, dass weder die Spanier noch andere europäische Staaten – und schon gar nicht die Araber – Wind davon bekamen, was Portugal in Wirklichkeit plante: eine heilige Allianz mit dem Christenreich des Preste João! Kein Wunder, dass es allen Teilnehmern dieser Expeditionen bei Androhung der Todesstrafe verboten gewesen war, über diese Reise und ihr wirkliches Ziel zu sprechen.

Plötzlich wurde sich Jahzara der Brisanz dieser Thesen bewusst. Was in diesem Buch geschrieben stand und was sich auf dieser Karte hier zu bestätigen schien, war ein Politthriller. Portugal hatte den Rest der Welt gezielt an der Nase herumgeführt. Geradezu zynisch mutete es Jahzara an, dass die katholische Kirche zu dieser Zeit offiziell noch immer die Lehre verkündete, dass die Welt eine Scheibe sei, und die heilige Inquisition alle jene in Kerker verbannte oder gar auf dem Scheiterhaufen verbrannte, die das Gegenteil behaupteten, während sich an Bord der portugiesischen Karavellen auch Repräsentanten Roms befanden. Darunter Francisco Álvares, ein Franziskaner, der persönliche Berater und Kaplan des portugiesischen Königs. Was immer die kühnen Seefahrer draußen in der neuen Welt taten, der Papst war darüber bestens informiert.

Jahzara war schockiert, und wie hatte der Verfasser des Buches geschrieben? »Der Heilige Vater in Rom wollte unbedingt wissen, wer dieser Priesterkönig war, der diesen arroganten Brief an den Kaiser von Byzanz geschrieben hatte. Der Papst musste wissen, ob tatsächlich ein solch mächtiges und unvorstellbar reiches Christenreich in Afrika existierte. Denn so wie Rom seit jeher danach strebte, sich die Ostkirchen einzuverleiben, so war es die Intention des Papstes bei dieser Expedition, sich den Priesterkönig Johannes entweder untenan zu machen – oder den Abtrünnigen als Häretiker, als Ketzer, in die Bedeutungslosigkeit zu verbannen.«

Jahzara fühlte sich angewidert. Sie selbst war eine gläubige äthiopische Christin. Hatte die Kurie in Rom Millionen Christen des Abendlandes belogen und in die Irre geführt, weil sie fürchtete, dass der Alleinvertretungsanspruch des Papstes durch den Priesterkönig Johannes, durch andere Christengemeinden ins Wanken geriete? Unvorstellbar! Was aber hatte diese Karawane damals wohin und zu wem in Sicherheit bringen sollen? Und was hatten die Araber damit zu tun, die plötzlich ihr Leben auf den Kopf stellten?

Fassungslos angesichts der sich aufdrängenden Verdachtsmomente, wandte sie sich von der Karte ab. Ihr Blick wanderte nach links, wo Modelle der portugiesischen Karavellen ausgestellt waren, mit denen die Seefahrer die Meere durchkreuzt hatten.

Plötzlich stockte ihr der Atem. Nein, das konnte nicht sein! Unmöglich! Der Mann da vorne, zwischen den Vitrinen! Sie erkannte ihn, obwohl nur sein Kopf zu sehen war.

Im selben Augenblick drehte sich der Mann um und entdeckte auch sie. Ihre Blicke trafen sich. Sie sah in seinen Augen, dass er sie sofort wiedererkannt hatte. Grenzenloses Erstaunen spiegelte sich in ihren Augen wider. Auf einmal trat eine blonde Frau hinter einer Vitrine hervor. Sie starrte Jahzara an. In ihrem Blick lagen Ohnmacht, Verwunderung und grenzenlose Traurigkeit.

Yvonne wandte sich um und schaute zu Peter. In seinen Augen sah sie, was sie seit Venedig geahnt hatte. Wortlos, mit gesenktem Blick wandte sie sich ab und ging schnellen Schrittes durch den Saal zum Ausgang. Sie spürte, wie die Blicke der afrikanischen Schönheit ihr folgten.

 

Wenig später saß Yvonne auf der Aussichtsplattform des nahegelegenen Entdeckungsdenkmals und schaute wehmütig auf den Tejo hinab. An dem zum 500. Todestag von Heinrich dem Seefahrer erbauten Padrão dos Descobrimentos herrschte Hochbetrieb. Touristen strömten durch die Unterführung zwischen dem Kloster und dem Fluss und bestaunten die 16 in Stein gemeißelten bedeutendsten Entdecker Portugals, angeführt von Heinrich dem Seefahrer. Von hier aus waren die Karavellen vor 600 Jahren aufgebrochen und hatten die Welt erkundet. Und hier endete nun für sie abrupt, was mit Peter vor vier Jahren angefangen hatte. Sie war traurig und weinte, weil sie ahnte, dass sie ihn verlieren würde. Er war ein beeindruckender Mann, aber er wurde von Wissbegierde und einem unbändigen Freiheitsdrang getrieben. Unbekanntes, Neues zog ihn wie ein Magnet an. Regelmaß, Routine, bourgeoises Mittelmaß, wie er es stets nannte, waren hingegen für ihn ein Horror. In seinem Schlafzimmer hing ein Zitat aus Hermann Hesses Gedicht Stufen:

 

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

An keinem wie an einer Heimat hängen,

Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,

Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.

 

Kaum sind wir heimisch einem Lehenskreise

Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,

Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,

Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

 

Genauso dachte und fühlte Peter. Sie liebte ihn. Doch sie hatte schon früh geahnt, dass sie einen Mann liebte, der nie in einer von beruflichen und familiären Zwängen geprägten Welt wie der ihren leben wollte und konnte. Nicht, dass er sich gegen Beziehungen wehrte. Er sehnte sich nach Gleichklang, Austausch, Nähe und Vertrautheit. Aber er hasste, wie er ihr es mal vor geraumer Zeit gesagt hatte, »goldene Käfige, die von anderen modelliert wurden und in denen ich nach den Regeln anderer leben und lieben muss. Deine Liebe, Yvonne«, das hatte er gesagt, »ist konditioniert. Du gibst sie nur dem, der seine Liebe deinen Vorstellungen anpasst, sie dem Diktat deiner Lebensrahmenbedingungen unterwirft.«

Yvonne schluchzte. Peter war, was seine Gefühle anging, stets ehrlich zu ihr gewesen. Was heute geschehen war, hatte sich schon lange abgezeichnet. Er verließ eigentlich nicht sie, sondern das Leben, in das sie ihn hatte hineinzwingen wollen. Yvonne kramte ihr Handy aus der Handtasche. Zittrig wählte sie seine Nummer.

 

Ergriffen von der Flut seiner Gedanken und Empfindungen, stand Peter, umgeben von Gemälden und Exponaten, inmitten des riesigen Saals und starrte die Frau mit dem ebenmäßigen Antlitz an. Er fühlte sich wie in einem Traum. Eben noch hatte Yvonne neben ihm gestanden. In Gedanken war er bei Heinrich dem Seefahrer und bei dem Geheimnis gewesen, auf dessen Spuren er sich befand. Und plötzlich sah er die Frau vor sich, die er in Venedig durch das Objektiv seiner Kamera bewundert hatte.

Plötzlich klingelte sein Handy. Hastig zog er es aus seiner Jackentasche. Er konnte hören, dass Yvonne versuchte, ihr Schluchzen zu unterdrücken. Es machte ihn traurig und es tat ihm grenzenlos leid, dass sie irgendwo da draußen saß, wahrscheinlich völlig aufgelöst, enttäuscht, hoffnungslos und allein. Ihre Stimme schien aus einer anderen Welt zu ihm vorzudringen.

»Peter, was immer soeben geschehen ist, es war nur eine Frage der Zeit. Ich weiß nicht, ob es Bestimmung oder eine in Erfüllung gegangene Hoffnung, ein sehr starker Wunsch von dir war, dass diese Frau hier im Museum auftauchte. Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was zwischen dir und ihr war, ist, sein wird. Es ist besser, wenn wir uns für eine Zeit lang nicht sehen. Ich muss nachdenken. Was ich dir aber noch sagen wollte, ich habe gefunden, was wir in diesem Museum gesucht haben! Dreh dich mal um.«

Peter spürte, wie ihn die Situation überforderte. Yvonne klang sehr melancholisch. Reue und Trauer übermannten ihn. Nun, da sie weg war, da sich abzeichnete, dass er sie vielleicht nie wiedersehen würde, hatte er grenzenlose Angst, sie zu verlieren. Gestritten hatten sie sich hin und wieder mal. Aber noch nie hatte im Raum gestanden, dass sie sich trennen könnten. Was sollte er tun? Er hörte Yvonne schluchzen. Verflucht noch mal: Sie liebte ihn so sehr, dass sie selbst in diesem Moment noch an den Grund ihrer Reise nach Lissabon dachte. Wie soll ein Mensch mit solchen Situationen umgehen? Sollte er Yvonne suchen, sie in den Arm nehmen?

Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete er, wie die geheimnisvolle Schöne sich umdrehte. Sein Herz pochte. Sie geht! Panisch überlegte er, wie er sie aufhalten könne.

Aus dem Handy klang Yvonnes Stimme in sein Bewusstsein.

»Peter? Peter, hörst du mich?«

Er stotterte. »Ja, Yvi, ja…«

»Peter, hinter dir an der Wand hängt ein großes Gemälde. Es zeigt drei Männer. Der Mann in der Mitte trägt ein braunes Gewand. Siehst du es?«

Peter wandte sich zu dem Gemälde um. Drei Männer waren darauf abgebildet. Der rechte trug ein blaues, bis zum Boden reichendes Gewand und hielt ein Schiffsmodell aus Holz in der Hand. Der Mann links im Hintergrund umklammerte einen Sextanten. Dann fiel sein Blick auf den Mann im Zentrum des Bildes. Er erkannte ihn sofort an seinem Schnauzbart. Es war Heinrich der Seefahrer. In seinem Schoß hielt er eine Landkarte. Selbst von Weitem konnte er erkennen, dass es eine Karte der westafrikanischen Küste war.

»Siehst du das Bild, Peter?«

Yvonnes Stimme riss ihn zurück in die traurige Gegenwart.

»Ja, ich sehe es. Es ist Infante Dom Henrique.«

»Ja, es ist Heinrich der Seefahrer. Aber darum geht es nicht, Peter. Du hast doch nach einer Erklärung für die drei Buchstaben ›IDA‹ auf der Landkarte gesucht, richtig? Jene drei Buchstaben, die auf der Karte vermerkt waren, dort, wo die Karawane in der Wüste verschwunden ist. Geh näher an das Bild ran, Peter. Ganz nahe!«

Peter folgte Yvonnes Anweisungen. Was wollte er ihr nicht alles sagen, fand aber keine passenden Worte. Macht- und hilflos hatte er das Gefühl, auf einer Wolke dahinzutreiben. Er fixierte jeden Zentimeter des Bildes. Wo war das Geheimnis verborgen? Fraglos zeigte die Karte die Region, von der aus die Portugiesen auf dem Senegalstrom und später dann auf dem Gambia flussaufwärts Richtung Osten ins Innere Afrikas vorgedrungen waren – auf der Suche nach dem Weg zum Priesterkönig Johannes. Dann blieb sein Blick auf dem Treppchen haften, auf das Heinrich der Seefahrer leger seinen linken Fuß gestellt hatte. In sehr zartem, kaum sichtbarem Braun standen drei Buchstaben auf der Front des Treppchens: IDA. Unglaublich! Sein Blick huschte zu der Legende neben dem Gemälde: Infante Dom Henrique – in jenen Zeiten auch Infame Dom Anrrique genannt. Die Seefahrer befestigten an ihren weißen Segeln mit den roten Kreuzen des Christusordens, dessen Gouverneur der Königssohn war, kleine Wimpel mit den drei Buchstaben IDA, was »Aufbruch« bedeutete, aber auch das Kürzel für Infante Dom Anrrique war.

Peter zitterte vor Aufregung. IDA – Heinrich der Seefahrer! Vor ihm an der Wand hing der Beweis dafür, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen Heinrich dem Seefahrer und der geheimnisvollen Karte gab. Blieb noch die Frage, wieso das Kürzel IDA ausgerechnet dort auf der Karte stand, wo die Karawane wahrscheinlich verschollen war. Und wer oder was war ELENI? Ein Gedankenblitz durchzuckte ihn. Vielleicht war diese Karawane in Äthiopien aufgebrochen, um sich an der afrikanischen Westküste mit portugiesischen Seefahrern zu treffen. Wenn ja, dann stellte sich die Frage, was diese Karawane mit sich geführt hatte: Gold, Edelsteine, wertvolle Geschenke für den portugiesischen König? Womöglich war das die legendäre Karawane gewesen, von der alle Wüstenvölker Nordafrikas auch heute noch sprachen. Aber warum sollten die Äthiopier solche Schätze quer durch die Sahara transportiert haben, um sie dann den Portugiesen zu übergeben? Wie auch immer, denn die Karawane war nie angekommen, war in den Sanddünen der Sahara, im Land der Leere, im Meer der Finsternis verschollen.

Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Seine Gefühle überschlugen sich: Yvonne – IDA – die Afrikanerin – ELENI!

Völlig verwirrt drehte er sich um. Die schöne Afrikanerin ging zu einer anderen Vitrine. Dann schaute sie ihn abermals an. Ein scheues Locken, eine Herausforderung lag in ihrem Blick. Sie erinnerte ihn an eine Thomsongazelle: schlank, elegant, voller Anmut, in vollendeter Ästhetik proportioniert, voller Kraft und doch sanftmütig. Ihr Busen hob sich unter der Bluse deutlich ab. Die Konturen ihres Gesichtes, ihres Halses und ihres Dekolletees wirkten verführerisch sanft. Sie war beunruhigend makellos! Wie in Trance schritt er auf sie zu. Er sah wenig Überraschung und viel Freude in ihren Augen.

»Sehen wir uns heute Abend?« Er hatte es auf Englisch gesagt, ohne darüber nachzudenken, wieso.

Ihre Antwort kam schnell: »Ja, natürlich! Um acht, bei Luanda Gouveia.«

 

Am Ringfinger der linken Hand trug Lucinda zwei Ringe: einen protzigen aus Rotgold, mit aufgesetzten falschen Perlen. Der andere war noch größer und im billigen Kaugummiautomaten-Jugendstil gehalten. Beide ramschigen Schmuckstücke passten perfekt zu den monströsen Ohrringen, die ihr, halb verborgen unter ihrem rötlichen Haar, von den Ohren bis auf die Schultern hingen. Alles an Lucinda war rund, voluminös und ständig in Bewegung. Sie war kaum mehr als ein Meter 65, wog aber gut und gerne 90 Kilo. Eher mehr. So genau konnte Peter das nicht einschätzen. Die Fado-Sängerin hüllte sich in extrem weite Kleider. So füllig wie sie war, so wundersam leichtfüßig schwebte sie in den wallenden Röcken durch das Restaurant. Ihr gigantischer Busen wogte dabei unter einem kitschig bunten Seidenschal. Wenn sich Lucinda an einem hohen C versuchte, was ihr nicht sonderlich gut gelang, bebte ihr Körper wie der eines Elefanten, der seine Lebensfreude in die Welt trompetet. Lebensfreude schien sie mehr zu haben, als ihre wehmütigen Lieder es erahnen ließen. Weder ihre melancholischen Augen, akzentuiert durch fast schwarzen Lidschatten, noch ihre blau-lila geschminkten Lippen, denen der schwarze Konturenstift etwas von einem Vampir angedeihen ließ, konnten darüber hinwegtäuschen, dass diese Frau vor Lebenskraft strotzte. Inbrünstig und mit lachenden Augen intonierte sie, was sie von Leid und Liebe wusste.

Lucinda Gouveia zu finden, war nicht sonderlich schwer gewesen. Jedermann in Lissabon schien sie zu kennen. Dass sie heute Abend bei Maria da Fonte im einstigen Judenviertel singen würde, hatte Peter vom Rezeptionisten seines Hotels erfahren. Bei ihm hatte er für Yvonne ein zusätzliches Zimmer gebucht, damit sie nicht in die peinliche Situation käme, neben ihm liegen zu müssen. Dann hatte er Yvi angerufen. Es war ein kurzes, trauriges Telefongespräch gewesen. Wann sie sich wiedersehen würden, hatte keiner von ihnen angesprochen. Das Telefonat endete mit lieben Floskeln, die kaum mehr als Ausdruck ihrer Sprach- und Hilflosigkeit waren.

Das winzige Restaurant Maria da Fonte lag in der Largo do Chafariz de Dentro, im Stadtteil Alfama. Mehr als 20 Gäste passten nicht in die zwei Kämmerlein hinein. Stühle und Tische waren spartanisch. Kunterbunter Ramsch hing an den Wänden, lag auf Tischen und Büfetts. Aber es war unglaublich gemütlich, und es roch nach scharfer Fischsuppe, Weiß- und Portwein. Der Hausherr des winzigen Etablissements, ein kleinwüchsiger Sechzigjähriger mit schneeweißen Haaren, roter Krawatte, schwarzem Pullunder und glänzenden Augen, hatte ihn wie ein Freund begrüßt. Sein Handschlag war kräftig und sein Lächeln ehrlich gewesen. Er schien gespürt zu haben, dass Peter zu der Afrikanerin an dem kleinen Tisch in der Nische rechts hinter der Theke wollte. Jahzara hatte schon auf ihn gewartet. Sie hatte ihr Haar im Nacken zu einem Knoten geschlungen, was ihre hohe Stirn noch mehr betonte. Ihre Stimme klang sanft, als sie geflüstert hatte: »I’m Jahzara, nice to meet you.« Es hatte Peter irritiert, wie perfekt ein Name zu einem Menschen passen konnte. Jahzara! Der Name vereinte all das in sich, was er an Afrika liebte.

Seit einer halben Stunde saßen sie nun schon zusammen, und es kam ihm so vor, als kenne er diese Frau aus einem früheren Leben. War sie die personifizierte Erfüllung eines Traumes? Nur wenige Sätze hatten sie benötigt, bis jegliche Verkrampftheit und Unsicherheit gewichen waren. Sie plauderten, lachten, scherzten und hatten völlig vergessen, darüber zu sprechen, welcher Vorsehung es zu verdanken war, dass sie sich zwei Mal getroffen hatten. Peter spürte, dass Jahzara tausend Fragen stellen wollte, aber Lucinda Gouveia verhinderte es.

Die dralle Fado-Sängerin schien zu ahnen, dass ihre wehmütigen, von Schmerz, Schicksal, Sehnsüchten und wahrer, großer Liebe erzählenden Lieder bei ihren letzten beiden Gästen wohlwollende Zuhörer fanden. Sie stand in der Nähe ihres Tisches, hauchte oder schmetterte die für den Fado so charakteristischen vielen Tonhöhen und Molltöne in die Welt hinaus. Die beiden Gitarristen waren müde, schienen jedoch ebenfalls zu der Erkenntnis gekommen zu sein, ein verliebtes Paar vor sich zu haben. Der Wirt schenkte Wein nach, ohne zu fragen. Und Lucinda Gouveia sang einfach weiter.

»Diese Fado-Lieder tragen viel Wehmut in sich. Man weiß nicht, ob man traurig oder fröhlich sein soll«, unterbrach Peter eine längere Zeit des Schweigens.

Jahzara schaute ihn nicht an, während sie sprach: »Ich liebe den Fado. Er drückt den Schmerz aus, der viele Portugiesen miteinander verbindet. Es ist eine Musik für sozial Schwache gewesen, für Menschen, die aus Armut und Elend nur mittels Musik und der Sehnsucht nach Liebe entfliehen konnten. In Äthiopien haben wir auch solche Lieder.«

Peter hörte den Schwermut in ihren Worten.

Jahzara schien mit der Musik zu entrücken. Ihre Augen schimmerten verträumt.

»Als die Königin des Fados, Amália Rodrigues, vor einigen Jahren starb, rief der damalige portugiesische Premierminister eine dreitägige Staatstrauer aus und der laufende Wahlkampf wurde unterbrochen. Sie war eine Göttin! Man hat sie im Lissaboner Pantheon in der Kirche Santa Engracia bestattet. Ich kann von meiner Wohnung aus auf das Pantheon schauen. Man sagt, dass man sie bei geschlossenen Augen nächtens noch immer singen hört! Das ist es, was ich an den Portugiesen schätze: Sie lieben Wunder, die Wehmut, den Pathos und die Liebe. Ich mag solche Menschen.«

Peter musste schlucken. Lucindas Gesang, die Gitarren, die romantische Atmosphäre im Restaurant und Jahzaras Gegenwart versetzten ihn in eine wohlige Stimmung, die er schon lange nicht mehr empfunden hatte. Alles um ihn herum kam ihm wie in einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht vor.

Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen. Ein Zeitungsbote betrat das Restaurant. Es war bereits zwei Uhr morgens. Der Padrone kaufte dem Händler zwei Exemplare der Nachtausgabe ab und legte sie achtlos auf den Nebentisch.

Jahzara wurde leichenblass. Panik überlagerte in Bruchteilen von Sekunden die Verträumtheit, die noch vor wenigen Augenblicken in ihren Augen geschimmert hatte. Ungläubig schüttelte sie den Kopf und starrte dabei auf die Zeitungen.

Peter hatte keine Ahnung, was mit ihr los war. Dann sah er die Angst in ihrem Blick. Die Fado-Sängerin hörte abrupt auf zu singen, stierte erst zu Jahzara und dann auf die Zeitung. Jahzara richtete sich langsam auf, ging wie paralysiert zum Nebentisch und griff nach der Zeitung.

Peter konnte sehen, dass auf der Titelseite ein Toter abgebildet war. Er sah grausig aus, hatte ein Loch in der Stirn. Er war offensichtlich Araber. Jahzara schwankte und musste sich hinsetzen. Sie atmete schnell. Der Padrone griff nach der Zeitung und überflog die Titelseite.

»Verrückt«, murmelte er und schaute Peter und Jahzara an. »da hat sich doch glatt der Dieb, der letzte Nacht hier ganz in der Nähe einbrechen wollte und dem der Hausmeister mit der Schrotflinte eins verpasst hatte, selbst eine Kugel in den Kopf gejagt! Unglaublich! Selbstmord! Diese Araber sind schon sehr komische Typen. Ich werde nie verstehen, wie die denken und was sie wirklich wollen.«