3.
Peter war enttäuscht, wütend und traurig. Was soeben passiert war, hatte ihn aus der Fassung gebracht. Seine Nerven lagen wegen der Geschehnisse der letzten Tage ohnehin blank. Und nun auch noch das! Er entschied sich, bei einer Tasse Kaffee über seine weitere Vorgehensweise nachzudenken.
Nur wenige Touristen schlenderten durch die Gassen des Stadtteils San Polo. Er setzte sich vor eine Eisdiele und bestellte sich einen Cappuccino. Seine Gedanken überschlugen sich. Zwischen ihm und Yvonne war es zu einem Eklat gekommen. Wieder einmal. Seit vier Jahren war er mit ihr zusammen. Kennen gelernt hatte er sie hier in Venedig. Yvonne arbeitete damals als Restauratorin für mittelalterliche Handschriften in der Biblioteca Nazionale Marciana. Zum ersten Mal begegneten sie sich vor der Vitrine, in der das Testament Marco Polos ausgestellt war und weswegen er nach Venedig gereist war. Am Tage seines Museumsbesuchs war Yvonne gerade damit beschäftigt, die handschriftlichen Aufzeichnungen des berühmten Forschungsreisenden aus der Vitrine zu nehmen, um sie zu restaurieren. Aus den wenigen Sätzen, die sie gewechselt hatten, war schnell gegenseitige Begeisterung geworden. Sie kam aus München, er auch; sie liebte alte Bücher und hatte ihre Passion zu ihrem Beruf gemacht, er sammelte alte Bücher; sie war schüchtern, er nicht; er hasste das Alleinsein – und Yvonne gab beim ersten gemeinsamen Mittagessen in einer kleinen Trattoria in der Nähe des Palazzo Tiepolo zu, dass sie einsam sei. Es ging schnell mit ihnen: Sie aßen zusammen, lachten, verloren sich in ihrer Begeisterung für alte Bücher, tranken ein wenig zu viel, vergaßen die Zeit – und verbrachten eine sehr turbulente Nacht miteinander.
Aus dem lodernden Feuer der ersten Tage und Nächte entwickelte sich nach wenigen Monaten eine tiefe Freundschaft, eine, die auch Spielraum für Sex ließ. Vieles verband sie. Einiges jedoch schien dagegen zu sprechen, dass aus ihrer Freundschaft mehr werden würde. Zumindest er war sich dessen ziemlich sicher und sagte ihr das auch deutlich. Bei Yvonne hatte er, trotz ihrer verbalen Bekenntnisse, hin und wieder Zweifel. Er hielt es nicht für ausgeschlossen, dass sie insgeheim hoffte oder sich danach sehnte, dass sich aus der Freundschaft vielleicht doch noch Liebe entwickeln würde. Sie gab das zwar nicht zu, aber wenn es bei ihnen einmal kriselte, dann beruhte das fast immer auf Yvonnes Eifersuchtsszenen.
Eine entscheidende Rolle spielte dabei, seine noch immer währende Liebe zu seiner Frau Nicole zu akzeptieren. Nicole war vor sechs Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Doch in seiner Erinnerung lebte sie unauslöschlich. Genau das war Yvonnes Problem. In ihrem tiefsten Inneren sehnte sich Yvonne nach derselben Liebe, die er für Nicole empfand und aus der er auch nie einen Hehl machte. Aber diese tiefen Gefühle konnte er Yvonne nicht geben. Erinnerungen an Nicole lähmten ihn. Sieben Jahre war er mit ihr verheiratet gewesen, und es war die glücklichste Zeit seines Lebens gewesen. Er hatte sie grenzenlos geliebt. Und er vermisste sie noch immer. Es hatte ihn in eine schwere Depression gestürzt, dass sie bei diesem unverschuldeten Verkehrsunfall auf der Autobahn bei Konstanz ums Leben gekommen worden war. Mit Nicole war nicht nur die größte Liebe seines Lebens, sondern auch das Kind in ihrem Bauch gestorben. Sie war im sechsten Monat schwanger gewesen. Ihr gemeinsamer Traum von Kindern – zerstört durch einen betrunkenen Autofahrer. Er hatte Jahre gebraucht, um den Tod seiner Frau und des ungeborenen Kindes halbwegs zu verkraften. Überlebt hatte er lediglich dank therapeutischer Hilfe. Dennoch war er nur noch ein Schatten seiner selbst gewesen. Er trieb durchs Leben, weil um ihn herum gelebt und gearbeitet wurde. Willenlos, abgestumpft nahm er daran teil, obwohl er nicht wusste, wofür er lebte. Es erschien ihm undenkbar, dass das Vakuum in seiner Seele, in seinem Herzen, das durch den Tod Nicoles entstanden war, jemals wieder aufgefüllt werden könnte.
Bis er an jenem Junitag vor vier Jahren Yvonne getroffen hatte. Anfänglich dachte er, dass seine Begeisterung für sie, der schnelle Pulsschlag beim ersten Blick auf ihren reizvollen Körper, auf ihr langes blondes Haar und ihre glitzernden blauen Augen nur ein Aufbegehren seines Überlebenstriebes war. Dann aber spürte er, wie in ihrer Gegenwart starkes Verlangen und wohlige Gefühle aufwallten und sich wie ein gutartiges Geschwür in ihm ausbreiteten. Yvonne war nicht nur attraktiv. Er schätzte ihren scharfen, analytischen Verstand. Und ihr Lachen, das so viel positive Lebensenergie verströmte und auf ihn so ansteckend wirkte. Sie tat ihm gut, so wie auch sie zugab, dass er ihr Leben bereicherte. Sie passten zusammen, irgendwie. Yvonne war eine gute Freundin. Eine, die auch gerne mit ihm schlief. Sex bedeutete ihr so viel, dass er manchmal glaubte, sie verwechsle körperliches Verlangen mit Liebe. Das vertraute Gefühl, nachdem sie miteinander geschlafen hatten, die anregenden Diskussionen und Gespräche, die vielen spontanen Reisen und übereinstimmenden Interessen schienen für sie ein solides Fundament für ein gemeinsames Leben zu sein.
Und auch er hatte das am Anfang für möglich gehalten, obwohl er es zunächst gleichsam als Verrat an Nicole empfunden hatte. Er hatte sich ein wenig geschämt, als er mit Yvonne ins Bett ging – die erste erotische Begegnung mit einer Frau seit Jahren – und mit Elan und Gedanken an ein Morgen und Übermorgen an Yvonnes Seite wieder aufgewacht war. Es hatte ihn schockiert und ihn dazu veranlasst, Yvonne unter fadenscheinigen Gründen am Morgen nach der gemeinsamen Nacht schnell zu verlassen. Aber der lautlose Kampf der Gefühle und des Verlangens hatte nur wenige Wochen gewährt. Seit zu langer Zeit war er einsam und verzweifelt gewesen. Er hatte sich nach Nähe, Austausch und Geborgenheit gesehnt. Und Yvonne hatte das gespürt. Sie trat in sein Leben. Unaufhaltsam. Auch wenn seine Gefühle anders waren als jene, die er weiterhin für Nicole hegte, erkannte er doch, dass er ins Leben zurückgekehrt war. Dank Yvonne. Sie gab ihm Lebensmut, Perspektiven – wenn sie nicht gerade eifersüchtig war. So wie heute Morgen.
Nachdem sie am Abend in Venedig gelandet waren und im Hotel eingecheckt hatten, waren sie noch in dem gemütlichen Restaurant á Leon am Canale Tolentini gewesen. Dort hatte er ihr in groben Zügen von Charles und von dem Überfall in Hurghada erzählt. Er war froh gewesen, dass Yvonne Zeit gehabt hatte, mit ihm nach Venedig zu fliegen. Sie kannte die Stadt von diversen Restaurationsaufträgen, beherrschte dank ihrer italienischen Mutter die Sprache fließend und hatte hier gute Kontakte. Außerdem hatte er sich auf den Austausch mit einem Menschen gefreut, dem er trauen konnte, denn die Geschehnisse der letzten Tage hatten ihn sehr aufgewühlt. Der laue Abend und ihre Gespräche hatten ihn entspannt. So lustvoll-zärtlich sie schließlich miteinander geschlafen hatten, so dramatisch hatten sich die Dinge nach dem Frühstück entwickelt.
Der Anlass war nichtig gewesen, Yvonnes Reaktion heftig.
Während er bei der Bootsfahrt durch die Kanäle der Stadt einige Aufnahmen gemacht hatte, war ihm eine ungewöhnlich attraktive junge Frau mit dunkler Hautfarbe aufgefallen. Nur wenige Schritte von ihnen entfernt hatte sie die prachtvollen Paläste entlang des Canal Grande bewundert. Auf seinen Reisen durch Nordostafrika hatte er schon öfter solche Frauen gesehen: grazile Schönheiten mit feinen, nilohamitischen Gesichtzügen, die auf eine sehr eigene Art eine gewisse Unnahbarkeit ausstrahlten. Durch das Objektiv seiner Kamera hindurch hatte er sie sehr genau beobachten können. Im sanften Morgenlicht hatte ihre bräunlich schwarze Haut wie Bronze geschimmert. Die langen Wimpern hatten ihre großen, sehr dunklen Augen betont. Gebannt hatte er ihre sehr markanten, hervorstehenden Wangenknochen und ihr auffallend langes schwarzes Haar mit den raffinierten, heller schimmernden Strähnen, das mit einem Band aus Kaurimuscheln zusammengehalten wurde, betrachtet. Ihr Busen hatte sich unter der luftigen Bluse deutlich gegen das Licht abgezeichnet. Der weite, weich fallende Rock hatte im Gegenlicht schemenhaft erahnen lassen, dass sie einen makellosen Körper hatte. Was für eine Schönheit – eine unaufdringliche, aparte, fast unschuldige Schönheit, die auf harmonische Weise zu ihren ruhigen, geschmeidigen Bewegungen passte.
»Schau mal, die Frau dort drüben«, hatte er Yvonne auf sie aufmerksam gemacht, »hat sie nicht eine faszinierende Ausstrahlung? Sie sieht aus wie eine Prinzessin aus Tausendundeiner Nacht! Ich denke, sie ist aus Somalia, vielleicht auch aus Eritrea.«
Mehr hatte er nicht gesagt. Aber Yvonnes sanftmütige Stimmung war in Bruchteilen von Sekunden in einem unvorstellbar heftigen und bitterbösen Eifersuchtsanfall explodiert. Yvonne mochte keine Frauen, die mehr – oder etwas anderes – ausstrahlten als sie selbst. Er hatte so etwas schon drei Mal erlebt. Und jedes Mal war sie sehr ausfallend geworden.
»Wenn du auf blutjunge, gertenschlanke afrikanische Prinzessinnen mit prallem Hintern stehst, dann lass dich nicht aufhalten, lieber Peter. Ich kenne ja deine Vorliebe für die Verlockungen des dunklen Kontinents!«
Obwohl sie eigentlich zur Kirche Santa Maria Gloriosa dei Frari wollten, um Charles ausfindig zu machen, war sie bei der nächsten Haltestelle wutentbrannt ausgestiegen und blitzschnell in einer Seitengasse bei San Toma verschwunden. Er war unglaublich wütend gewesen über diese Überreaktion. Und es war ihm unendlich peinlich gewesen, dass die Afrikanerin die lautstarken Worte offenbar gehört und scheinbar auch richtig gedeutet hatte, denn sie hatte sich zu ihm umgedreht und ihn angeschaut. Es war ein tiefgründiger, fast arroganter, in gewisser Hinsicht sogar herablassend wirkender Augenaufschlag gewesen. Mehr nicht. Doch da war noch etwas anderes in diesem Blick gelegen, das ihn innerlich hatte erzittern lassen.
Entschlossen trank Peter seinen Cappuccino aus, verbannte Yvonne und die geheimnisvolle Schöne aus seinen Gedanken und beschloss, sich darauf zu konzentrieren, was ihn eigentlich nach Venedig geführt hatte – die Notiz von Charles.
Der von Charles erwähnte Heilige von Montpellier, dessen war er sich sicher gewesen, konnte nur der heilige Rochus, San Rocco sein, der Ende des 13. Jahrhunderts dem Reichtum seiner edlen Familie in Frankreich abgeschworen und sich in ganz Europa um die Pflege Pestkranker gekümmert hatte. Auch in Venedig, wo er nach einer schweren Pestilenz zum Mitschutzheiligen der Stadt ernannt und in der Kirche Santa Maria Gloriosa dei Frari, vor deren Portal Peter nun stand, begraben worden war. An diesem Ort spielte ein Blinder oft auf seiner Gitarre, das wusste er, und dass Charles diesen Blinden meinte, lag nahe. Ja, dieser Gitarrist war fraglos »jener, der hört, was andere sehen«. Charles hatte ihm öfter erzählt, wie er früher in dieser Kirche zur Messe gegangen war und sich anschließend mit einem Freund aus der Erzbruderschaft Scuola Grande di San Rocco heimlich getroffen hatte, um über Dinge zu sprechen, die so geheimnisvoll waren, dass Charles sich immer bekreuzigte, und »Gott möge mir meine sündigen, von Zweifeln erfüllten Gedanken verzeihen« murmelte, wenn er dieses Thema erwähnte. Worum es dabei ging, hatte Charles nie auch nur mit einem Wort angedeutet. Allmählich begann Peter jedoch zu ahnen, dass es direkte Zusammenhänge zwischen den Geschehnissen der letzten Tage und diesen geheimnisvollen Äußerungen von damals gab.
Der Blinde saß auf den Stufen vor dem Kirchenportal. Seine Gitarre stand neben dem Notenhalter. Es war ein futuristisch anmutendes Instrument. An Stelle des hölzernen Klangkörpers waren die Saiten über einen schlichten, dreieckigen Aluminiumrahmen mit einem Verstärker im Zentrum gespannt. Zwei Lautsprecherboxen befanden sich auf den Treppenstufen. Der Blinde selbst war nicht minder auffällig. Seidig-blondes Haar wallte dem ungewöhnlich gut aussehenden, etwa 30-jährigen Mann bis auf die Schulter. Auf seinem markanten Gesicht lag ein gewinnendes Lächeln. Auf den Stufen der Kirche und auf der Mauer der gegenüberliegenden Scuola Grande di San Rocco saßen auffällig viele junge Frauen und warteten darauf, dass der schöne Gitarrist zu spielen begann. Aber er tat es nicht. Als spüre er die bedrohliche Nähe eines Menschen, richtete der Musiker plötzlich seine eigentümlich leblos wirkenden Augen in Richtung der Backsteinkirche von Santa Maria Gloriosa dei Frari. Doch der Mann, den er intuitiv in seiner Nähe wähnte, stand bereits hinter ihm. Der auffallend braun gebrannte, etwa Vierzigjährige trug Jeans, ein blaues Hemd und eine Sonnenbrille.
Er sprach leise, mit einem fremdländischen Akzent: »Buon giorno.«
Der Blinde wirbelte herum. Seine Augen versuchten zu fixieren, was er zwar nicht sah, aber unangenehm nahe spürte. Sein Lächeln wirkte gequält.
»Wer ist da?«, fragte er mit zittriger Stimme. Seine Mundwinkel zuckten nervös.
Peter konnte sich nicht erklären, warum der Mann zitterte. Noch nie hatte er Angst in den Augen eines Blinden gesehen. Es berührte ihn unangenehm, wie der Gitarrist seine Pupillen auf ihn richtete, doch durch ihn hindurch zu starren schien.
»Tut mir leid, dass ich Sie so erschreckt habe, Carlo«, sagte er in der vagen Hoffnung, der Blinde würde ihn an seiner Stimme wiedererkennen, könne sich an die wenigen Worte erinnern, die er vor zwei Jahren mit ihm gewechselt hatte. Damals war er mit Charles hier gewesen, hatte fasziniert dem klassischen Gitarrenspiel gelauscht und sich bei dem Gedanken ertappt, nur ein Blinder könne so herzergreifend feinfühlig spielen. Seither hatte er die melancholischen Gitarrenklänge dieses Mannes stets mit dem einzigartig romantischen Ambiente des Campo San Rocco im Stadtteil San Polo assoziiert, der für ihn einer der schönsten Winkel Venedigs war. Überthront und umringt von dem von Säulen getragenen weißen Portal der Scuola Grande di San Rocco, der gegenüberliegenden Kirche und der beinahe störend schlichten gotischen Franziskanerkirche, schlug auf diesem Platz noch immer das Herz jenes Venedigs, das er wohl nie kennen gelernt hätte, wenn er Yvonne nicht getroffen hätte.
Plötzlich klang die Stimme des Blinden sehr selbstbewusst: »Buon giorno! Kann ich Ihnen helfen? Möchten Sie vielleicht eine meiner CDs kaufen?«
Peter hatte das Gefühl, als habe der Blinde ihn erwartet. »Ein Freund von mir hat mir mitteilen lassen, dass Sie ein Libretto für eine Oper von Jakob Meyer für mich haben.«
Da der Blinde mit einem Mal ungewöhnlich ernst wirkte, glaubte Peter, dass er in seinem näheren Umfeld nach Geräuschen lauschte, die ihm die Anwesenheit anderer Menschen signalisieren würden.
Der Gitarrist räusperte sich. »Sie kennen diese Oper?«
»Nein, leider noch nicht«, antwortete Peter. »Um ehrlich zu sein, ich habe noch nie von einem Komponisten mit diesem Namen gehört. Aber mein Freund kennt meine musikalischen Vorlieben. Er will mir damit sicherlich eine große Freude bereiten.«
»Wissen Sie, um welche Oper es sich handelt?« Der Gitarrist lächelte bei dieser Frage.
Abermals fühlte Peter sich verunsichert, als der Blinde ihm direkt in die Augen zu schauen schien.
»Den Namen Jakob Meyer kennen wirklich nur wenige Menschen. Da ich versucht habe, Musik zu studieren, das aber aufgeben musste, weil alle Dozenten dieser Welt glauben, man müsse Musik in Form von Noten auf Blättern lesen können, habe ich von Jakob Meyer schon gehört, bevor unser gemeinsamer Freund mich auf ihn ansprach. Dieser Komponist hieß in Wirklichkeit Jakob Meyer Beer – ein deutscher Doppelname. Sein Vater war ein jüdischer Bankier in Berlin und seine Mutter eine gebürtige Meyer. Weil viele Leute diesen Namen Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris und auch während seiner Studien bei Salieri in Wien und in Italien nicht aussprechen konnten, hat er daraus Giacomo Meyerbeer gemacht, was sich doch wirklich toll anhört, oder?« Ohne auf eine Antwort zu warten, sprach der Blinde weiter. »Seine Oper Il crociato in Egitto ist nicht gerade sehr bekannt. Haben Sie schon davon gehört?«
Peter horchte auf. Er sprach leidlich Italienisch und wusste daher, dass »Egitto« nichts anderes als Ägypten hieß. Und »crociato« bedeutete Kreuzfahrer. Oder Kreuzritter? Ein Kreuzfahrer oder ein Kreuzritter in Ägypten! Das musste ein versteckter Hinweis von Charles sein. Ging es hier um Jerusalem oder um Ägypten?
Aufgeregt antwortete er: »Nein, von der Oper habe ich noch nie gehört, vom Meyerbeer auch nicht viel. Um was geht es in der Oper?«
Der Blinde lächelte geradezu triumphierend. »Nein, nein, das ist nicht die Oper, um die es geht. War nur ein Scherz. Ich versuche, mit meinem Wissen zu kokettieren! Ich bitte um Nachsicht. Außerdem plaudere ich gerne. Wer den ganzen Tag über Gitarre spielt, erstickt an seinen eigenen Gedanken. Unser gemeinsamer Freund Charles, so glaube ich zu wissen, versteht sich zwar ein wenig als Kreuzritter der Gerechtigkeit. Das Libretto, um das es geht, ist aber ein anderes. Ich kenne nur den französischen Titel, L’Africaine. Es geht wohl um einen portugiesischen Seefahrer und dessen Liebe zu einer dunkelhäutigen Schönheit, die in Wirklichkeit eine Prinzessin ist. Das Ganze endet sehr grausam: Alle portugiesischen Seefahrer werden umgebracht. Aber das wird Ihnen unser Freund sicherlich alles selbst erzählen können. Er bat mich, Ihnen das Libretto zu dieser Oper zu geben und Ihnen zu sagen, wo sie ihn erreichen können. Ist schon ein sehr eigenwilliger alter Mann geworden, unser Freund! Nie weiß man, was ihn so umtreibt. Gestern kam eine Frau zu mir, der ich auch etwas von Charles geben sollte. Ich glaube, es war ein altes Buch. Sie war Ausländerin. Ihr Englisch klang sehr seltsam. Doch sie roch unglaublich aufregend, so ganz anders als europäische Frauen! Na ja, er war schon immer ein eher weltlicher, den irdischen Dingen zugewandter Mann gewesen, unser lieber Charles. Sie finden ihn übrigens im Kloster San Francesco del Deserto. Es ist eine etwas längere Fahrt hinaus in die Lagune von Venedig.«
Yvonne lag im Hotelzimmer auf dem Bett und weinte bitterlich. Sie schaute nicht auf, als er das Zimmer betrat.
Peter hatte sich fest vorgenommen, ihr die Überreaktion nicht zu verzeihen, spielte sogar mit dem Gedanken, sich von ihr zu trennen. Er versuchte, selbstbewusst und unnachgiebig zu wirken. Aber ihr Schluchzen war so ehrlich und so herzergreifend, dass sie ihm leidtat. Wieder einmal wurde ihm bewusst, wie viel sie für ihn empfand. Wortlos schloss er die Hotelzimmertür hinter sich.
Yvonne flüsterte ihm entgegen: »Es tut mir leid, Peter. Bitte glaub mir. Ich bin eine blöde Kuh. Ich habe mir geschworen, dass mir das nicht mehr passiert. Doch diese Frau hatte wirklich einen so perfekten Körper, dass ich bei deinen Worten ausgerastet bin. Außerdem war sie tatsächlich so schön wie ein Prinzessin.«
»Vergiss es, Yvi. Vergiss es! Wir haben das Thema ja schon öfter gehabt. Streichen wir das Ganze, okay?«
Versöhnlich gestimmt ging er zum Bett, beugte sich über sie, gab ihr einen eher brüderlichen Kuss auf die Stirn und tupfte ihr mit dem Zipfel des Kopfkissens die Tränen ab. »Komm, lass uns was trinken gehen. Es gibt viel Spannendes zu berichten.«
Wenige Minuten später saßen sie vor dem Café an dem kleinen Kanal. Peter starrte gebannt auf einen Stapel vergilbter Notenblätter, die er von dem Blinden erhalten hatte. In dem Libretto lag ein Blatt Papier mit der krakeligen Handschrift von Charles: »Lieber Peter, nichts ist so, wie es sich darstellt. Der Narr von Komponist hat geglaubt, was schon die Päpste, was Kolumbus und auch Vasco da Gama als Held dieser Oper glaubten. Du, mein Freund, weißt, dass es ein Irrglaube ist, einer, der sie alle in die Fremde, ins Reich der Illusionen und Fantasien geführt hat. Du, verehrter Geograf, weißt, wo die weltlichen Wahrheiten liegen. Und ich weiß, dass die göttliche Wahrheit selbst beim Stellvertreter Gottes auf Erden nicht immer gut aufgehoben war und ist. Nun denn, ich denke, die Zeit ist gekommen, Lügen zu entlarven. Machst du mit?«
Peter glaubte zu ahnen, worum es bei all den kryptischen Formulierungen seines Freundes ging.
Yvonne schaute ihn erwartungsvoll an. »Erzähl schon! Du bist ja ganz aus dem Häuschen. Was ist das? Sieht aus wie Notenblätter!«
»Es sind Notenblätter, Yvi, Noten samt Libretto. Und zwar von einer Oper mit dem Titel L’Africaine. Es geht um die Suche der Portugiesen nach einem Seeweg nach Indien und um eine Liebesgeschichte zwischen Vasco Da Gama und einer indischen Prinzessin.«
Yvonne griff nach den Notenblättern, als ihr die Karte, die obenauf lag, in die Hände fiel. Mit dem fachkundigen Blick einer Buchrestauratorin studierte sie diese.
»Das ergibt keinen Sinn, was ich da sehe«, murmelte sie. »Mit den geografischen Begriffen kann ich absolut nichts anfangen. Scheint mir eine ziemlich wirre Kombination von Latein, Portugiesisch und sabäischen Schriftzeichen zu sein –«
Peter unterbrach sie. »Sabäisch? Woher, zum Teufel, weißt du, wie sabäische Schriftzeichen aussehen?«
»Ganz einfach, mein lieber Afrikadurchquerer! Ich musste mal ein Buch restaurieren, in dem es um hebräische Schriftzeichen ging. Hebräisch hat sich aus Aramäisch entwickelt wie auch Sabäisch. Sabäisch wurde im südlichen Arabien verwendet. Es ist ein sehr kompliziertes Konsonantenalphabet, dessen Grundelemente du noch heute im Arabischen und vereinzelt auch in Indien findest. Und in Äthiopien, glaube ich, auch.«
Peter riss die Augen auf. »Sag das noch mal!«
»Was?«
»In Indien – und in Äthiopien?«
Yvonne schaute ihren Freund verwundert an. »Mit Verlaub, aber du schaust gerade ziemlich bescheuert drein! So einen Blick habe ich ja noch nie bei dir gesehen! Was hast du denn auf einmal?«
Er grinste. »Ich hab’s! Ich habe des Rätsels Lösung! Äthiopien und Indien! Das hat er gemeint. Mein Gott, bin ich blöd! Dass ich das erst jetzt erkenne.«
Hektisch nahm er Yvonne die Karte aus der Hand, drehte sie seitenverkehrt und betrachtete das Ganze von der Rückseite gegen den Himmel.
»Wahn… sinn…«, stotterte er und schluckte mehrmals. »Ich raste aus, meine Liebe! Das ist es. Ich Idiot!«
»Soll ich dir da etwa beipflichten«, lächelte Yvonne und freute sich über die vor Begeisterung sprühenden Augen ihres Freundes. »Komm, erzähl! Was, glaubst du, entdeckt zu haben?«
»Ganz einfach, Yvi, im Laufe der Jahrhunderte hat sich die Kartografie mehrfach gewandelt. Nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Konzeption. Eine ganze Zeit lang wurden die Karten nach Osten ausgerichtet, wurden Jerusalem und Konstantinopel quasi ins Zentrum des abendländischen Weltbildes gerückt. Das resultierte maßgeblich aus den geografischen Angaben in der Bibel, die das irdische Paradies im Osten der Welt, also östlich vom Heiligen Land, gelegen sahen. Es gab auch eine Zeit, in der Karten nach Norden oder nach Süden ausgerichtet wurden. Dann stand die Welt, so gesehen, plötzlich auf dem Kopf. Das hat bei Entdeckern und Seefahrern immer wieder für Irritationen und Missverständnissen gesorgt. Wobei sich das schnell erklären lässt: Wenn du dich in Europa, also nördlich des Äquators aufhältst, dann reisen die Seefahrer auf der südlichen Halbkugel logischerweise – von hier aus betrachtet – nach rechts, also nach Westen, um nach Südamerika zu kommen. Umgekehrt reisen wir aus dem Betrachtungswinkel der Menschen südlich des Äquators nach links, um nach Südamerika zu kommen. Wenn also damals jemand etwas aufzeichnete und nicht deutlich machte, wo sein Standpunkt war, ergab das ein großes Durcheinander. Der eine schipperte ostwärts, der andere westwärts. Hört sich ziemlich banal an für uns, da wir ein so perfekt vermessenes Weltbild haben. Aber vor 500 Jahren war das noch anders. Wenn du dir unter diesen Aspekten jetzt mal diese Skizze genau anschaust, sie auf den Kopf stellst und dann auch noch von hinten betrachtest, findest du plötzlich Elemente, die ganz deutlich zeigen, um welche Kontinente es sich tatsächlich handelt: Afrika und Indien. Und ich glaube, hier löst sich das Rätsel um diese kryptischen Zeilen von Charles.«
Gespannt hatte Yvonne den Worten ihres Freundes gelauscht. Forschend blickte sie ihn an. »Du hast doch diesen Blinden vor der Kirche San Rocco getroffen, oder?«
»Ja, richtig. Er spielt dort schon seit Jahren Gitarre. Charles hat ihn mir mal vorgestellt. Warum fragst du?«
»Weil ich diese Kirche sehr gut kenne. Genauer gesagt, ich kenne das Gebäude gegenüber sehr gut, die Scuola Grande di San Rocco. Darin befindet sich für mich eines der schönsten Kunstwerke Europas. Wenn du da reingehst, stockt dir der Atem! Musst mal hoch in den Versammlungsraum in der ersten Etage gehen. Derart perfekte und makellose Proportionen habe ich noch nirgendwo auf der Welt gesehen. Jacopo Robusti, bekannt als Tintoretto, der dieser Erzbruderschaft angehörte, hat achtzehn Jahre lang die Wände und Decken mit Gemälden geschmückt. Eins wunderbarer als das andere – «
Peter unterbrach sie ungeduldig. »Was willst du mir eigentlich über diese Scuola sagen?«
Yvonne lächelte selbstbewusst. Sie mochte das Gefühl, Dinge zu wissen, von denen Peter keine Ahnung hatte. »Diese Schulen sind untrennbar verbunden mit dem Aufstieg Venedigs zu einem der mächtigsten Stadtstaaten des Mittelalters. Diese Laienbruderschaften, von denen es in dieser Stadt damals ungefähr vierhundert gab, befanden sich immer unter dem Patronat eines Heiligen. In diesem Falle des heiligen Rochus aus dem französischen Montpellier. Ziel der Erzbruderschaften war es, die Interessen einzelner Gewerbe oder Künste optimal zu vertreten. Die von San Rocco gehörte zu den sechs größten, ein absoluter Machtfaktor in Venedig. Wer zu dieser Bruderschaft gehörte, drehte mit an den Rädern der Weltgeschichte, mein Lieber!«
Fasziniert lauschte Peter den Ausführungen seiner Freundin und blickte sie gebannt an. Wie sie ihm so gegenüber im Halbschatten vor dem Hintergrund des kleinen Kanals saß, mit ihren langen, blonden Haaren, dem kleinen Grübchen auf der rechten Wange und hoch konzentriert dozierend, spürte er eine tiefe Zuneigung und grenzenlosen Respekt für sie.
»Du bist eine grandiose Frau«, murmelte er. »Aber sag mir doch bitte, warum du mir das alles erzählst. Was hat das mit diesen Skizzen und dem Libretto zu tun?«
Yvonne spürte, wie plötzlich wieder jenes Gefühl in ihr aufwallte, von dem sie schon lange wusste, dass es Liebe war. Traurigkeit krampfte ihren Magen zusammen. Peter mochte sie, das war gerade deutlich zu erkennen. Er begehrte sie körperlich, schätzte ihre Belesenheit, hatte sie als Freundin sehr gern. Doch er liebte sie nicht. Oder es gelang ihm perfekt, seine wahren Gefühle zu kaschieren. Schämte er sich, sie zu lieben, weil er glaubte, damit seine tiefe Liebe für seine verstorbene Frau zu verraten?
Ihre Stimme flatterte. »Also du hast mir doch diese Notiz deines Freundes gegeben, den du in Ägypten von der Putzfrau erhalten hast. Da stand unter anderem drauf: ›Das Gute wandelt sich zum Bösen, aus Osten wird Westen und aus oben wird unten – und der maurische Bruder hat es schon damals gewusst.‹ So in etwa hat er es doch geschrieben, oder?«
»Richtig, so in etwa.«
»Und du hast gesagt, dass mit dem maurischen Bruder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der weltberühmte Kartograf Fra Mauro gemeint war, oder?«
»Ja, genau, damit war Fra Mauro gemeint. Er hat im Jahre 1459 eine für die damalige Zeit geradezu revolutionäre Weltkarte geschaffen. Wie du ja weißt, hängt sie in der Biblioteca Nazionale Marciana. Dieser Mönch hat so ziemlich alles, was damals an Wissen überhaupt von der Welt verfügbar war, zusammengetragen. Antike und auch arabische Quellen hat er berücksichtigt. Er war genial, dieser Fra Mauro!«
»Und woher kam dieser Mönch?«, fragte Yvonne schnippisch.
Peter grinste. Er schaute sie liebevoll an. »Du bist genial! Einfach umwerfend! Ja, du hast Recht: Fra Mauro schuf diese Karte im Kloster San Michele, draußen in der Lagune von Venedig bei Murano, wo er übrigens auch begraben ist. Diese wunderschöne Friedhofsinsel ist nicht weit von dem Kloster entfernt, wo sich Charles jetzt wohl aufhält. Wahnsinn! Ich denke, wir sollten schnellstmöglich zusehen, dass wir zu diesem Kloster kommen. Langsam glaube ich nämlich nicht mehr, dass es eine solche wundersame Aneinanderreihung von Zufällen gibt.«
»Was meinst du damit?«, fragte Yvonne stirnrunzelnd. Der nachdenkliche Ton ihres Freundes war ihr nicht entgangen.
Peter schwieg einen Moment. Dann resümierte er: »Der Besitz von Landkarten war damals ein Privileg der Mächtigen. Nur Monarchen, die Kirche und der Adel wussten, wo die wirtschaftlichen wie auch religiösen Zentren der Welt lagen. Auf Karten verbargen sich Staatsgeheimnisse. Europa, wie wir es heute nennen, war jedoch ab dem achten Jahrhundert im Süden und Südosten von islamischen Heeren umzingelt. Was außerhalb des Abendlandes geschah, entzog sich dem Wissen der Europäer. Damals wurde sogar von einer ägyptischen Finsternis gesprochen, weil plötzlich niemand mehr wusste, was im Schatten der Pyramiden und im Fernen Osten geschah. Nordafrika und der Nahe Osten waren fest in arabischer Hand. Das hat den Handel der europäischen Handelshäuser fast zum Erliegen gebracht. Seefahrernationen wie Spanien, Portugal, die Niederlande – besonders aber die italienischen Hafenstädte Genua und Venedig – litten extrem darunter. Stoffe, Gewürze, Zedernholz, Edelsteine und der so heiß begehrte Weihrauch kamen aus dem Orient, und plötzlich saßen dort in all den Häfen die Araber! Der so genannte Levantehandel kam fast zum Erliegen. Natürlich haben sich diese Staaten überlegt, wie sie den Zwischenhandel mit den Arabern umgehen können. Dafür war geografisches Wissen nötig. Man brauchte Karten: Land- wie auch Seekarten. Unter diesen Gesichtspunkten ist es allerdings enorm aussagekräftig, dass die weltberühmte Karte von Fra Mauro letztendlich eine Auftragsarbeit war.«
Yvonne schaute ihren Freund fasziniert an. Sie bewunderte seine Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge so prägnant zusammenzufassen. »Jetzt sag schon, wer ihm diesen Auftrag erteilt hat! Ein Doge aus Venedig?«
»Nein, meine Liebe, kein Doge. Es war der portugiesische König, Alfons V.! Damals trachteten die Portugiesen ebenso wie die Spanier nach der Kontrolle des Seewelthandels. Eine solche unter handels- wie auch militärstrategischen Aspekten unglaublich bedeutsame Karte, wie sie Fra Mauro anfertigte, weckte die Begehrlichkeiten vieler Staaten. Damals ging es darum, den großen Handelskuchen Welt aufzuteilen!«
»Das hört sich ja fast wie ein Politthriller an, was du da erzählst. Fehlen nur noch Intrigen, Wirtschaftsspionage, Agenten, Mord und Totschlag«, warf Yvonne ein und fuhr fort: »Zur Erzbruderschaft Scuola Grande di San Rocco gehörten damals die mächtigsten Männer Venedigs! Bestimmt wussten die Mitglieder genau, woran Fra Mauro arbeitete. Und – «
Peter signalisierte ihr durch eine dezente Handbewegung, dass er etwas sagen wollte. »Direkt gegenüber dem Sitz der Erzbruderschaft liegt die Kirche Santa Maria Gloriosa dei Frari.«
Yvonne blickte ihn fragend an: »Ja, und?«
»Ganz einfach, es ist eine Franziskanerkirche! Charles war früher Franziskanermönch. Und das Kloster, in dem Charles früher lebte und wo er sich gerade versteckt hält, ist ein Franziskanerkloster. Yvonne, hier geht es um die Franziskaner! Die Dimension dessen, was ich dir jetzt erzähle, wird allerdings erst dann klar, wenn du weißt, dass damals jede Expedition, also auch die Erkundungsfahrten der portugiesischen Seefahrer, in Begleitung eines Kirchenrepräsentanten stattfanden. Der Papst schickte Aufpasser mit. Nichts geschah ohne Wissen Roms, da es bei diesen Expeditionen angeblich auch um die Missionierung der Heiden ging. Und einer der ersten portugiesischen Entdeckungsreisenden, die damals zum heutigen Äthiopien vordrangen, war Francisco Álvares. Und der war auch Franziskaner! Das ist kein Zufall. Hier geht es eindeutig um die Franziskaner. Außerdem hat Charles in seinem Brief noch etwas sehr Seltsames geschrieben. Warte mal…« Peter kramte den Zettel seines Freundes hervor. Hektisch überflog er die handschriftlichen Notizen. »Hier, das ist die Stelle: ›… und der maurische Bruder hat es schon damals gewusst! Auch die Geschichte mit Johannes wusste er‹.« Er atmete nun auffällig schnell. »In dieser nach außen hin sehr schlichten gotischen Frari-Kirche, liebe Yvi, liegt nicht nur Tizian begraben. Da steht auch eine weltberühmte Skulptur von Donatello. Die Skulptur von Johannes! Ich fasse das alles nicht. Mein armer kleiner Kopf! Fra Mauro, der damals schon alles wusste… und nun auch noch Johannes, den Charles ebenfalls in seinem Brief erwähnt. Und soll ich dir noch was sagen? Auf dieser Karte von Fra Mauro gibt es am Rand unzählige handschriftliche Kommentare. Bei einem dieser Kommentare geht es, na, was glaubst du wohl?«
Yvonne grinste. »Lass mich raten! Um einen Johannes?«
»Genau! Um einen mystischen Johannes. Der Franziskaner Francisco Álvares schrieb nach seiner Rückkehr aus Äthiopien damals ein Buch Verdadeira Informação das Terras do Preste João das Índias – wobei ›João‹ nichts anderes als ›Johannes‹ heißt! Und ›Índias‹ entspricht ›Indien‹. Auf dem Umschlag des Buches war sogar ein schwarzhäutiger Regent auf seinem Thron abgebildet. Auf der genuesischen Weltkarte von 1457 ist ein mystifizierter Johann sogar gleich zwei Mal abgebildet. Auf einer späteren Ortellius-Karte auch. Und dort sitzt er ebenfalls in einem prächtigen Ornat auf einem Thron. Ich werde verrückt! Ich weiß nämlich, worum es bei diesem ganzen Versteckspiel geht: um den legendären, unvorstellbar reichen und mächtigen christlichen Priesterkönig Johannes! Charles muss etwas über ihn und über sein sagenumwobenes christliches Reich erfahren haben.«
Vor lauter Aufregung verschluckte sich Peter und musste etwas trinken.
Yvonne schaute ihn fragend an. »Und was hat es mit diesem Priesterkönig auf sich?«
»Er ist eine mystische Figur, die über Jahrhunderte hinweg europäische Herrscher und vor allem die Kirchenfürsten, ganz besonders aber die Päpste beschäftigte. Es hieß damals, dass dieser Priesterkönig über ein unvorstellbar großes Christenreich in einem fernen Land herrsche, unglaublich reich sei und ein Heer mit zwei Millionen Soldaten befehlige. Wobei man keine Ahnung hatte, wo dieses Christenreich liegen sollte. Dennoch geisterte vom zwölften Jahrhundert an dieser Johannes durch die Köpfe der Mächtigen Europas. Man hat ihn sogar gesucht. In ihm sah man einen strategischen Partner im Kampf gegen die Moslems, die Jerusalem und das Heilige Land besetzt hielten und scheinbar militärisch von den abendländischen Heeren nicht zu schlagen waren. Man träumte von einer heiligen Allianz der Christenreiche gegen den Islam. Diese Sache hatte damals für das Abendland weltpolitische, geostrategische Dimensionen. Du hast doch die Reiseaufzeichnungen von Marco Polo restauriert, richtig?«
Yvonne blickte Peter nun sehr sanft in die Augen. Einen Moment lang erinnerte sie sich an ihr erstes Zusammentreffen in dieser Stadt. Ihr Herz begann, wild zu pochen.
»Was, bitte, hat der denn jetzt mit dieser ganzen Sache zu tun«, versuchte sie abzulenken. »Ich blicke bald gar nicht mehr durch.«
Peter bemerkte zwar ihre flatterige Stimme, war aber gedanklich zu sehr mit der Legende um Johannes beschäftigt.
»Einer der Aufträge von Marco Polo war, dieses Christenreich zu suchen, den Kontakt mit diesem Priesterkönig herzustellen. Es gab Gerüchte, dass er irgendwo in dem riesigen Mongolenreich herrschte. Yvi, dieser mystische Priesterkönig Johannes war eine der größten Geheimnisse des Mittelalters! Die Welt gierte nach seinem legendären Reichtum.«
»Aber Marco Polo hat ihn nie gefunden, oder?«, fragte Yvonne. Ihr Herz hatte sich etwas beruhigt.
»Nein, aber noch etwas spielt eine Rolle. Nämlich Indien beziehungsweise Äthiopien. Vereinfacht ausgedrückt war es nämlich so, dass es in dem damaligen Weltbild gleich drei Indien gab. Unter anderem ein diesseitiges und ein jenseitiges. Bis ins späte Mittelalter hielt sich die These, dass die Kontinente im Süden durch Landmassen verbunden seien. Also dachte man, dass Afrika nicht vom Meer umspült, sondern im Süden mit dem indischen Kontinent verbunden sei. Fakt jedenfalls ist, dass es sich bei einem der drei Indien gar nicht um Indien, sondern um das heutige Äthiopien handelte. Damals wurde es mal Abyssinien, mal Axum oder auch Aksum genannt. Was Marco Polo in Asien suchte, nämlich ein riesiges, mächtiges Christenreich, lag in Wirklichkeit am Horn von Afrika, im heutigen Äthiopien.
Das ist für viele Wissenschaftler ein unantastbarer Fakt.« Nachdenklich sah Peter seine Freundin an. Nach einer kurzen Pause fuhr er schließlich fort.
»Ich glaube, genau um ihn, um den Priesterkönig Johannes, geht es. Diese Karte von Charles zeigt nicht Indien, also den uns bekannten Subkontinent Indien. Hier handelt es sich um Afrika. Nordostafrika – um Äthiopien! Dort hatte sich schon in den ersten Jahrhunderten nach Christus tatsächlich eine große frühchristliche Gemeinde entwickelt. Was immer Charles mir sagen will, es hat etwas mit diesem Priesterkönig, mit diesem Mythos um Johannes zu tun. Und dann auch noch dieser mysteriöse Brief. Wenn du den liest, denkst du zunächst, da habe jemand vor ewigen Zeiten in einem Anfall von Wahnvorstellungen aberwitzige Dinge geschrieben: über Fabelwesen, Gold, Edelsteine und so weiter. Quasi das Paradies auf Erden. Charles hat mir das zugefaxt. Aber mir schwant, dass dieser Brief vielleicht gar kein Fantasieprodukt ist, Yvi. Vielleicht ist er sogar von – « Peter schwieg abrupt. Seine Augen glänzten.
»Warte, ich lese dir das mal vor.«
Er griff nach seinem Rucksack. Für Sekunden glitt sein Blick auf die andere Seite des kleinen Kanals. Nichts an dem Mann, den er dort sah, war besonders auffällig. Aber intuitiv spürte er, dass mit diesem Mann etwas nicht stimmte. Doch bevor er sich Gedanken machen konnte, was ihm an diesem jungen Mann mit der Sonnenbrille so auffällig erschien, ging alles sehr schnell. Stühle stürzten um; die Besucher an den Nachbartischen schrien auf; Geschirr zerbarst auf dem Boden. Ein Tisch fiel um. Der Mann auf der anderen Kanalseite, kaum mehr als acht Meter entfernt, machte eine extrem schnelle Bewegung. Seine rechte Hand griff unter sein Jackett. Plötzlich hielt er eine Waffe in seiner Hand. Barsche Männerstimmen hallten an den Fassaden der engen Gasse wider. Ein hünenhafter Mann mit kantigem Kinn hetzte heran. Peter sah ihn nur aus dem Augenwinkel. Ein zweiter Mann stürzte sich mit einem gewaltigen Satz auf Yvonne. Peter sah den Hünen, sah dessen stieren Blick und die Waffe in der Hand des Mannes und wollte gerade aufschreien, als der Hüne mit der vollen Wucht seines massigen Körpers auf ihn sprang und ihn samt Tisch zu Boden riss. Dabei prallte Peter mit seinem Kopf gegen das Geländer. Er hörte gerade noch, wie eine männliche Stimme auf Italienisch rief: »Wir haben ihn – lebend.«